Die Nächte schlief Alpina inzwischen hervorragend und sie spürte auch, dass der Aufenthalt bei Osrun nicht nur ihre Kräfte regenerierte sondern auch Ordnung in ihr Gefühlschaos brachte. Erwartungsvoll, was an diesem Tag passieren würde, stand sie erfrischt und erholt auf.
Osrun betrachtete sie mit einem Schmunzeln, als sie in der Kupferpfanne den Frühstücksbrei kochte.
"Sei doch so lieb und geh mit dieser Kanne Wasser aus dem Teich schöpfen", forderte die Alte sie auf.
Alpina tat wie geheißen und trat vor die Tür. Wie schon die Tage zuvor, stand in der Früh noch der Nebel über den Wiesen und Berghängen. Alpina ging zum Wasser und schöpfte mit der Kanne das eiskalte Wasser. Sie blieb noch einen Augenblick nachdenklich stehen und blickte auf den Teich hinaus. Plötzlich sah sie, dass sich in den Rohrkolben am Ufer etwas verfangen hatte. Beim genaueren Hinsehen konnte sie erkennen, dass es eine Holzspindel war. Genau wie die, die sie zwei Tage zuvor der weißen Frau im Teich gegeben hatte. Alpina beugte sich ins Schilf und nahm die Spindel an sich. Sie ging zu Osrun zurück.
"Sieh mal Osrun, was ich am Ufer gefunden habe", sagte sie, als sie die Hütte berat.
Die alte Frau lächelte und nickte. "Dann solltest du heute noch einmal mit mir spinnen, Alpina."
Ein wenig zweifelnd sah Alpina Osrun an. Sie konnte sich noch zu gut an ihr Versagen vom letzten Mal erinnern. Große Lust auf einen neuerlichen Fehlversuch hatte sie nicht. Doch wie sie schon geahnt hatte, gehörte das Spinnen wohl zu ihrer heutigen Aufgabe, denn kaum hatten sie den Tisch abgeräumt, holte Osrun den Korb mit der Wolle. Sie nahm ihre Spindel zur Hand und ließ sie tanzen. Alpina sah beeindruckt zu in welcher Sicherheit und Geschwindigkeit die alte Frau die Spindel drehte. Alpina gab sich einen Ruck. Sie nahm die Wolle, begann sie mit den Fingern zum Faden zu drillen und auf der Spindel einen Anfang festzulegen. Dann drehte sie die Spindel wie sie es von ihrer Großmutter gelernt hatte.
Und siehe da! Diesmal klappte es! Schon nach kurzer Zeit konnte sie auf einen halbwegs gleichmäßigen Faden hinunterblicken, der sich langsam aber sicher um die Holzspindel legte.
"Sieh, Osrun! Ich kann es!" Frohlockte Alpina.
Die alte Frau nickte zufrieden. "So ist es. Und erkläre mir, warum du es kannst..."
Alpina dachte nach. "Weil ich den Faden nicht abgerissen habe?"
Osrun nickte wieder und Alpina wurde nachdenklich.
"Osrun, was hat es zu bedeuten, dass ich die Spindel gefunden habe und dass ich nun den Faden so leicht spinnen kann. Das hat doch eine Bedeutung, oder?"
Die alte Frau lächelte sanft. "Du kennst die Antwort längst. Horche in dich hinein."
Seufzend drehte Alpina die Spindel. Windung um Windung fand der Faden Halt auf dem Holz. Es war schon ein beachtlich langer Faden. Der Mond war bereits wieder voll gewesen und nahm nun sogar schon wieder ab. Mehr als ein Mond war seit ihrer verhängnisvollen Nacht mit Corvinus vergangen. Sie hatte die Zeichen ignoriert. Nicht sehen wollen. Konnte es wirklich sein, dass sie schon wieder schwanger war? Nach wieder nur einer Liebesnacht? Dieses Mal plagte sie keine Übelkeit. Aber wer wenn nicht sie als Hebamme wusste schließlich, dass jede Schwangerschaft anders war. Keine war gleich. Das Spannen in der Brust war erträglich. Es mochte auf normale Zyklusschwankungen zurückzuführen sein. Alpina versuchte erneut die Signale anders zu deuten, doch je schneller und sicherer sie die Spindel drehte, desto klarer wurde ihr, dass es nichts mehr zu verdrängen gab. Sie musste sich dieser neuen Aufgabe stellen.
Mit einem tiefen Durchatmen wandte sie sich an Osrun.
"Musste es sein, dass ich ein Kind aus gerade dieser Nacht bekomme? Es ist das Kind eines Mannes, der mich nicht liebt. Eigentlich trage ich das Kind einer Toten aus. Mit ihr wollte er dieses Kind zeugen, nicht mit mir. Es ist eine schwere Aufgabe, die die Schicksalsgöttinnen mir aufbürden."
Osrun nickte. "Aber du hast deine Lektionen gelernt. Du wirst dieses Kind beschützen. Komme was wolle, nicht wahr?"
Alpina sah die alte Frau lange an. Ja, nie wieder würde sie versuchen aus eigenem Antrieb den Lebensfaden zu durchtrennen. Doch machte es die Aufgabe nicht leichter.
"Kann ich bei dir bleiben?", fragte sie.
Osrun schüttelte den Kopf. "Nein, das geht nicht. Du bist ja nicht die einzige, die ihre Lektion lernen muss. Auch er muss seine Lektion lernen."
Alpina wurde schwer ums Herz. Sie hatte so gehofft, in der Ruhe und Abgeschiedenheit dieses Kind austragen zu können, anstatt es durch das freie Germanien bis nach Mogontiacum tragen zu müssen. Und was dort auf sie zu kam, war ungleich schwerer. Sie würde Corvinus irgendwann und irgendwie beibringen müssen, dass die Nacht an die er sich wohl nur teilweise erinnerte, nicht folgenlos geblieben war. Würde er wieder wütend auf sie werden? Übelkeit stieg in Alpina auf. Sie wusste nicht, ob sie dieser Aufgabe gewachsen war.
Die Spindel geriet ins Trudeln. Alpina erschrak. Sie konzentrierte sich wieder auf die gleichmäßige Bewegung des Spinnens. Nun fing sich die Spindel, der Faden kletterte wieder am Holz hinauf.
"Wann muss ich gehen?", fragte sie.
"Morgen, Alpina."
"Morgen schon?" Wieder begann die Spindel zu trudeln. Die Vorstellung, Osrun und diesen Hort der Ruhe schon so bald wieder verlassen zu müssen, tat weh.
"Es gibt noch andere verzweifelte junge Frauen wie dich und auch ältere, denen ich mit meinem Rat und die Götter mit ihrer Weisheit beistehen müssen. Du hast alles bekommen, was du brauchst, um eine starke Frau und eine gute Mutter zu werden. Gib mir deine Spindel, ich werde den Faden für dich weiterspinnen. Es ist nicht gut, wenn man selbst das Ende kennt. Besser du überläßt es mir."
Mit diesen Worten, legte Osrun ihre Spindel beseite und ließ sich von Alpina ihre Spindel in die knochingen Finger legen.