Eine Gasse im sechsten Bezirk

  • Mit schweren Schritten trat Antias aus dem Schankraum von Rufo’s Elysium und zog sich erst einmal stöhnend Ziviltunika und Cingulum zurecht. Es war spät geworden. Längst rumpelten die Fuhrwerke durch die Gassen und auf den Wehrgängen der Castra war sicher schon die dritte Nachtwache in Stellung gegangen. Stunde um Stunde hatte er mit diesem schlüpfrigen Veturier verhandelt, ihm amphorenweise Wein spendiert, sich von dessen absurden Preisvorstellungen nicht beirren lassen, nur um am Ende doch das Gefühl zu haben, hoffnungslos über den Tisch gezogen worden zu sein. Woher sollte Antias auch wissen, welche Miete für ein Zimmer in Nähe der Castra als angebracht galt? Derlei Gedanken hatte er sich bislang nie zu machen brauchen, er wohnte genau genommen auch nicht mietfrei, aber in jedem Fall unschlagbar günstig, zumal für urbane Verhältnisse. Auf fünfunddreissig Sesterzen hatten sie sich schließlich geeinigt, zu zahlen jeweils an den Kalenden. Also machbar, wenn auch gerade so. Das Zimmer lag zwei Gassen weiter im Obergeschoss eines dreistöckigen Hauses in der Vorstadt. Riesig war es nicht gerade, dafür sauber und ebensogut zu lüften wie zu beheizen. Er selbst hätte sich auch mit einem zugigen Verschlag zufrieden gegeben, aber das schmucke kleine Zimmer war nicht für ihn gedacht, sondern für Apolonia, und dafür waren fünfunddreissig Sesterzen nun wirklich nicht zu viel. Er würde sich künftig ohne große Geheimnistuerei mit ihr treffen und sogar die Nacht mit ihr verbringen können und sie würde einen Platz ganz allein für sich haben, den sie aufsuchen konnte, wann immer und solange ihr danach war, abseits von Trastevere und Subura, jenseits ihrer üblichen Kundenfanggründe. Antias war zwar erschöpft aber glücklich. Allmählich begann sich so etwas wie Struktur in seinem Leben zwischen Pflicht und Leidenschaft abzuzeichnen.


    Hinter ihm knarrte die Wirtshaustür. Drei sichtlich zugeschüttete Cives purzelten in die Nacht heraus. Den Göttern sei Dank war dieser Veturius nicht dabei, von dem hatte Antias für heute die Nase gestrichen voll. Der sollte die erste Miete ruhig in Rufo’s widerliche Tresterbrühe investieren, wenn ihm danach gelüstete. Es war ja sein Schädel, der am nächsten Morgen platzen würde. Antias für sein Teil war mit anderthalb Amphoren intus schon mehr als bedient. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie den Abschluss auch bei einem Becher Quellwasser in Apolonias zukünftigem Zimmer tätigen können, aber nein, Cives Veturius Asina hatte ja auf Rufo’s Kaschemme bestanden. Eigentlich hätte der erneute Besuch beim lispelnden Glatzkopf ein Gefühl der Nostalgie in Antias heraufbeschwören müssen, immerhin war viel passiert, seit er hier als nasser Tiro einige denkwürdige Stunden verbracht hatte. Damals war ihm die Zeit der Grundausbildung endlos erschienen, daran, jemals Optio zu werden hatte er im Traum nicht gedacht und Apolonia war noch eine unbekannte ferne Sehnsucht gewesen. Trotzdem hatte der Abend rein gar nichts nostalgisches in ihm ausgelöst, höchstens Verwunderung über das Tempo der dahin strömenden Zeit. Nichts blieb wie es war. Rufo war dünn und schwächlich geworden, Saserna hatte sich längst schon davongemacht, die verdreckten Tische waren nicht mehr von lärmenden Soldaten sondern verstohlen murmelndem Pack bevölkert, das jeden neuen Gast musterte wie ein Frosch die Fliege. Nostalgie? Nein, dieser Ort hatte auch das letzte bisschen Reiz verloren.


    Ohne sich noch einmal umzudrehen ging Antias langsam die dunkle Gasse hinauf. Nur noch eben um ein paar Ecken zum angemieteten Zimmer, um sich zu vergewissern, dass der schmierige Veturius ihm auch das richtige Schließwerkzeug ausgehändigt hatte, und dann heim die Castra. Vor allen anderen aufzustehen war ihm mittlerweile zur Gewohnheit geworden, da wollte er am nächsten Morgen keine Ausnahme machen. Ein Rudel abgemagerter Köter kreuzt knurrend seinen Weg, zwei Fullonicagehilfen karrten die stinkende Ausbeute unzähliger entleerter Blasen vorbei, ansonsten war Antias allein mit sich und seinen Gedanken. Seine Caligae schrappten dumpf und gleichmäßig über den gestampften Boden, nur untermalt vom Klappern der Plättchen an den Pteruges. Nachdem er um die letzte Ecke gebogen war, musste er nach ein paar Schritten feststellen, dass die nachtschwarze Gasse von einem mit allerlei schwerem Gerümpel beladenen quer gestellten Karren blockiert war. Fluchend machte er kehrt. Bis zum Haus des Veturiers waren es höchstens drei Perticae. Nun musste er entweder einen entnervenden Umweg machen oder sich durch die Hinterhöfe schlagen. Nach kurzem Nachsinnen entschloss er sich für die Hinterhöfe.

  • Dass die Abkürzung durch die Hinterhöfe gar keine Abkürzung war, ging Antias spätestens auf, als er nach umständlicher Kletterei über Holzeimer, zusammengelegte Trockengestelle und ähnlichen Krempel von einem heimtückisch lauernden Trog in’s Straucheln gebracht in brusthohes Rutengeflecht stolperte und mitsamt ächzendem Zaunstück im Dreck eines Hühnergatters landete. Aus einem niederen Verschlag stob aufgebrachtes Federvieh. In gackernden Wolken aschgrauen Gefieders versuchte Antias aufzustehen, verfing sich aber mit dem Mantel im Zaungeflecht. Irgendwo nicht allzu weit entfernt schlug ein Hofhund an, was ein halbes Dutzend weiterer Köter in der näheren Umgebung dazu animierte, ebenfalls in wütendes Gebell auszubrechen. Unter wüstem Gefluche trat Antias genervt nach den umherflatternden Hühnern und schaffte es schließlich, den Mantel aus dem Rutengewirr zu fummeln. So hatte er sich den kurzen Abstecher zur neu angemieteten Räumlichkeit nicht vorgestellt. Hinter verschlossenen Fensterläden wurden erzürnte Stimmen laut. Von der Gasse her hallte das Trappeln ungenagelter Schuhsohlen. Das panische Geflügel, nun befreit von jeglicher Barriere, nutzte die unerwartete Freiheit, indem es sich rasch nach allen Richtungen verflüchtigte, allein der wackere Gockel hielt die Stellung, attackierte den nächtlichen Eindringling mannhaft mit Krallen, Schnabel und Gefauche. Antias versuchte, das aggressive Mistvieh zu verscheuchen, holte sich dabei aber nur blutige Hände. Als er die Bestie nach wildem Herumfuchteln endlich zu fassen bekam, drehte er ihr kurzerhand den Hals um, warf den zuckenden Kadaver in Richtung des tobenden Hofhundes und machte sich eiligst auf den Rückweg.


    Sehr weit kam er nicht. Aus verschiedenen Gründen. Erstens war der Mond inzwischen hinter hoch ziehenden Frühlingswolken verschwunden, was die ohnedies schon stockfinstere Nacht im Hinterhof noch undurchdringlicher und seinen Weg über die zuvor schon mühsam genug überwundenen Gerätschaften noch mühsamer machte, zweitens flatterte ständig flüchtendes Legevieh zwischen seinen Beinen herum, was bei seinem Hindernislauf auch nicht gerade hilfreich war, und drittens schließlich kamen ihm durch den schmalen Torbogen, der zurück auf die Gasse führte, drei mit Knüppeln und einer Lucerna bewehrte Gestalten entgegen, die nicht den Eindruck erweckten, als suchten sie nur anregende Gesellschaft. Antias blieb stehen, spuckte mürrisch aus, und machte sich gefasst, auf was auch immer. Im gleichen Moment als einer der grimmigen Burschen den ersten Schritt auf ihn zu machte, knarrte im Hinterhof eine Tür, gefolgt von aufgeregtem Geschrei. „Habt ihr ihn erwischt? Trucide! Macht ihn fertig! Der vergreift sich nicht nochmal an meinen Hühnern!“

  • Hühner? Darum ging es hier? Antias versuchte, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Wenn es tatsächlich nur um die Hühner ging, da würde man sich schon einigen können. Dumm nur, dass ihm der Kerl mit dem Knüppel immer näher kam und er sich zu allem Übel in diesem Hinterhof nicht auskannte. Wenn er das mit den Hühnern regeln wollte, dann besser schnell. „Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen.“ schlug er dem offensichtlich Streit suchenden Burschen in möglichst ruhigem Tonfall vor. Der blieb tatsächlich kurz vor Antias stehen, machte jedoch nicht den Eindruck, die Situation noch einmal in Ruhe überdenken zu wollen. Im Gegenteil. Anstatt den Knüppel vernünftigerweise sinken zu lassen, hob er ihn weit über den Kopf und rammt die Beine gespreizt in den lehmigen Boden. Ein typischer Zivilistenfehler.


    „Du hast da vorhin mit einem recht prallen Geldbeutel rumgewedelt ..“ kam es weindunstgeschwängert aus dem dunklen Gesicht. „.. den hätt ich gern.“ Antias nickte seufzend vor sich hin. Aha. Das waren also die drei Suffköpfe, die nach ihm das Elysium verlassen hatten. Dass der Inhalt seines Geldbeutels lediglich aus Sesterzen bestanden- und darüber hinaus als erste Mietzahlung an den Veturius bereits den Besitzer gewechselt hatte, war den neugierigen Augen der müffelnden Straßenräuber offenbar entgangen. Aber was hatte das alles mit den Hühnern zu tun? Die nötige Zeit, eingehend über diese Frage nachzudenken, blieb Antias allerdings nicht, denn während er mit der linken Faust auf den Kehlkopf des Knüppelschwingers drosch und ihm dann die rechte auf die Leber hämmerte, hörte er auch schon den fluchenden Vierten im Bunde hinter sich heran stampfen. „Recht so! Gebt’s ihm!“ hallte es heiser durch die Dunkelheit. Antias fühlte sich nicht angesprochen, trat stattdessen kommentarlos den zusammengekrümmten Angreifer vollends zu Boden und hob schnell dessen Knüppel auf. Irgend etwas lief hier ziemlich schräg.


    Die Lucerna senkte sich zu Boden, und wie erwartet stürmten nun die beiden Spießgesellen des gefällten Stänkerers auf Antias zu. Der hob den erbeuteten Holzstock stoßbereit auf Brusthöhe, machte einen beherzten Sprung zur Seite und trat auf ein kreischendes Huhn. Derart aus dem Gleichgewicht gebracht blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Fall zu vermeiden, indem er die Deckung aufgab und sich mit dem Stecken am Boden aufstütze, eine Aktion, die sofort mit einem äußerst schmerzhaften Hieb auf seine linkes Schulterblatt vergolten wurde. Antias sackte auf die Knie, schaffte es aber dennoch, den zweiten Hieb mit seinem Knüppel abzufangen. Beim nächsten Hieb gelang ihm das nicht mehr ganz so gut. Zwar verpuffte ein Teil der Schlagwirkung am quer gehaltenen Stock, dafür knallte ihm aber der eigene Prügel an den Schädel.


    Benommen ließ er den Knüppel los, warf sich nach vorn, bekam eine behaarte Wade zu fassen und biss zu. Ein erneuter Schlag erwischte ihn diesmal ungebremst am Rücken. Der heiße Schmerz ließ ihn die Kiefer noch fester zusammenpressen, was zur Folge hatte, dass sich seine Beute mit einem gellenden Schrei losriss und einen zähen Fetzen blutigen Fleisches zwischen Antias’ Zähnen zurückließ. Spuckend und hustend krabbelte Antias unter unpräzisen Schlägen und Tritten aus dem flackernden Schein der am Boden liegenden Lucerna hinaus ins Dunkel zurück und tastete nach dem fallengelassenen Knüppel. Verfolgt wurde er seltsamerweise nicht, fündig aber auch nicht. Mehr als dankbar über die unerwartete Atempause stemmte er sich auf die Knie, versuchte, die Situation zu erfassen und stellte zu seiner Verwirrung fest, dass sie der lamentierende vierte Mann nicht auf ihn, sondern auf einen der anderen Gestalten stürzte, und das machte er gar nicht so ungeschickt, auch wenn sein Gebrüll ihm etwas die Luft zu nehmen schien. „Was macht ihr Ratten hier? Runter von meinem Grund! Wo sind meine Söhne! Galeo! Manius!“


    Allmählich wurde die Lage kompliziert. Antias schwirrte der Schädel. Schulter und Rücken brannten wie Feuer. Das Blut des abgebissenen Wadenstückes verklebte ihm die Zunge und verursachte einen nur schwer zu beherrschenden Brechreiz. Aber es half alles nichts, er musste wieder auf die Beine kommen. Schließlich hatte er nicht vor, sich ein paar Hühnern oder eines leeren Geldbeutels wegen sämtliche Knochen brechen zu lassen.

  • Nach bevor es Antias gelungen war, die Lage richtig einzuschätzen, änderte sie sich erneut. Der anfangs so energisch vorgehende Geflügelzüchter geriet unter die Knüppel und taumelte stöhnend zum eingerissenen Hühnergatter zurück, wo er schließlich zu Boden ging. Im gleichen Moment stürmten zwei weitere Gestalten, eine davon mit eher zwergischen Ausmaßen, durch den Torbogen in den dunklen Hinterhof. Antias riss sich die Paenula herunter und sprang auf. Von der Hand des größeren Neuankömmlings hatte für einen kurzen Moment eine lange Klinge aufgeblitzt. Dieses flüchtigen Funkeln war mehr als ausreichend, um Antias’ Lebensgeister wieder wach zu rütteln. Mit dem Auftauchen einer Waffe war aus der chaotischen Rauferei endgültig eine ernste Angelegenheit geworden. Entgegen seines ursprünglichen Vorhabens, den neuen Mitstreiter von seinen Peinigern zu befreien warf er sich auf die bewaffnete Gestalt und rammte ihr das Knie in die Seite. Die Klinge fiel leise klirrend zu Boden und erwies sich im fahlen Schein der Lucerna als veralteter aber sichtlich gepflegter Gladius. Na wunderbar. Die Mistbande schien ja bestens ausgerüstet, und er selbst war so blauäugig, nicht einmal den Pugio mitzunehmen. Das würde ihm mit Sicherheit nicht noch einmal passieren. Allmählich ernsthaft sauer stieß er den entwaffneten Angreifer zur Hauswand, packte ihn am Genick und schlug seinen Kopf zweimal kräftig gegen die Mauer.


    Ohne abzuwarten bis das keuchende Bündel zusammen gesackt war, wandte er sich wieder um, bückte sich nach dem Gladius, fand ihn aber nicht mehr. Stattdessen robbte ein fast schon beängstigend röchelndes Etwas durch den Lichtkegel der Lucerna auf die beiden prügelnden Straßenräuber zu, unter deren harten Schlägen Antias’ unverhoffter Verbündeter mittlerweile gänzlich verstummt war. Mist! Das Arschloch mit dem eingeschlagenen Kehlkopf! Den hatte Antias eigentlich schon abgeschrieben. Fluchend packte er den erstaunlich zähen Hund am Bein, zog ihn ein Stück zu sich, wurde dann aber von hinten angesprungen, was ihn im ersten Schrecken dazu veranlasste, das Bein wieder loszulassen. Angesichts des geringen Körpergewichtes war Antias schnell klar, dass es der Zwerg war, der ihm da im wahrsten Sinne des Wortes im Nacken saß. Eher lästig als wirkungsvoll hatte der Gnom die Arme um Antias’ Hals geschlungen und versuchte ihm ohne großen Erfolg die Luft abzudrücken. Antias ließ ihn für’s erste machen und wankte dem hechelnden Kriecher hinterher. Der jedoch hatte sich inzwischen mit letzter Kraft zu seinen Kumpanen gerettet, die ihre Aufmerksamkeit augenblicklich von ihrem reglosen Opfer ab- und Antias zuwandten. Einer von den beiden humpelte auffällig, wie Antias befriedigt feststelle, der Kerl schien ein Problem mit der rechten Wade zu haben.


    Tief geduckt warf er sich auf die rechte Flanke des Hinkebeins. Sofort fuhr ein zischender Knüppelhieb auf ihn nieder, der ihm höchstwahrscheinlich die Haut vom Rücken gerissen hätte, wäre er nicht vom zappelnden Körper des ihn verzweifelt würgenden Zwerges abgefedert worden. Der Würgegriff löste sich. Der Gnom fiel von ihm ab wie ein angesengter Blutegel. Der zweite Hieb blieb im Ansatz stecken, denn während die humpelnde Ratte noch ausholte, krachte ihm Antias schon mit dem Schädel voran in die Rippen. Ein Knüppel landete polternd am Boden. Ein Knochen knackte trocken. Ein gepresster Lungenflügel entließ einen pfeifenden Luftschwall in die Nacht. Antias hörte es kaum. Die Geräusche um ihn her vermischten sich zusehends mit dem brausenden Blut in seinen Ohren und verschwanden schließlich darin. Dafür schien sein Blick auf einmal von allen Schleiern befreit. So scharf umrissen als ginge ein inneres Leuchten von ihm aus sah er das Gesicht des Gestürzten sich verformen, während er darauf eindrosch.


    Verwundert blickte er sich um. Da lag der Knüppel, bleich schimmernd, deutlich zu sehen. Drei Schritte weiter hielt ein sich blutüberströmt am Boden krümmender Mann das Bein eines anderen Mannes fest, der mit einem Knüppel auf Antias losgehen wollte. Direkt daneben lag der erstarrte Körper eines weiteren Mannes, dessen Faust sich um die Handhabe eines Gladius verkrampft hatte. Etwas links davon kroch ein kleiner Körper zwischen aufflatternden Hühnern durch den lehmigen Dreck. Drüben an der Hauswand hockte der sechste Unbekannte, die Schultern eingesunken, den Rücken gebeugt an die Mauer gelehnt. Inmitten all dessen warf die friedlich blackende Flamme einer Lucerna einen kleinen warmen Lichtkreis auf Gras und Lehm. Antias blickte nach oben. Da stand der Mond nun völlig unverhangen über der Dachkante und tauchte den Hinterhof in blausilbernes Zwielicht. Dann sah er nach unten und bemerkte erstaunt, dass er das verquollene Gesicht noch immer schlug, obwohl ihn der Mann, dem es gehörte, längst nicht mehr interessierte. Sein Interesse wandte sich voll und ganz dem einzigen noch aufrecht stehenden Besucher des Hinterhofes zu. Fast widerwillig ließ seine blutverschmierte Faust von dem Bewusstlosen ab, öffnete sich und griff nach dem Knüppel. Antias erhob sich langsam, näherte sich mit flach gesetzten Schritten dem Kerl mit dem anderen Knüppel, nur um zu seiner maßlosen Enttäuschung sehen zu müssen, wie das feige Stück Dreck sich mit einem letzten Schlag aus dem Griff des Verwundeten befreite, dann den Knüppel fortwarf und wie von Larvae gehetzt zum Torbogen rannte.


    Antias wollte ihm nach, ihn totprügeln, ihm das Rückgrat zertrümmern und dann alles sofort vergessen, was hier eben passiert war, allein eine raue brüchige Stimme, die sich schwach vom Rauschen des Blutes abhob, hielt ihn davon ab. „.. Manius .. Galeo .. wo seid ihr ..“ Erschrocken ließ Antias den Knüppel fallen. „Was?“ fragte er dümmlich. „.. Manius .. bist du das .. wo ist Galeo .. such Galeo..“ Ein sehr eigentümliches und überaus bedrückendes Gefühl kroch an Antias’ Beinen hoch. Nein, er war nicht Manius. Aber er wünschte sich plötzlich nichts sehnlicher, als Manius zu sein. Oder Galeo. Oder irgend ein anderer - nur nicht Antias.

  • Die enge Coquina war warm und gemütlich. In der Herdstelle knisterte ein munteres Feuerchen. Von der niederen Decke hingen geräucherte Würste, deren aromatischer Duft sich mit dem würzigen Geruch frisch aufgekochten Kräuterweines mischt. An einem kleinen Tisch in der Ecke saßen sich auf derben aber bequemen Stühlen zwei Männer und ein Junge gegenüber. Friedlich, anheimelnd, fast idyllisch hätte das Szenarium angemutet, wäre das eisige Schweigen der Männer nicht gewesen. Und das helle Schluchzen des Jungen. Und das Blut.


    Einer der Männer war Optio Titus Germanicus Antias von den Urbaniciani. Ihm rann das Blut in dünnen Fäden unter dem Haar hervor in den Nacken. Der andere Mann war Manius Osturius Cerco, ein großer neunzehnjähriger Bursche, der an den Kalenden des Iulius seine Grundausildung bei der Legio Prima beginnen würde. Bei ihm kam das Blut aus einer klaffenden Platzwunde an der Stirn, die er gelegentlich mit einem zusammengeknüllten Stofffetzen abtupfte. Der weinende Junge war sein dreizehnjähriger Bruder Galeo. Seine Rückenwunde hatte bereits aufgehört zu bluten und zeichnete sich nun als dunkler krustiger Streifen unter der Tunika ab. Alle drei lauschten angespannt dem gedämpften Murmeln im Nebenzimmer, wohin Antias den schlimm zugerichteten Vater seiner jungen Tischgenossen gebracht hatte. Publius Osturius Calenus. Einst stolzer Veteran der Legio Septima Claudia, dann glückloser Cives und Familienvater und jetzt aller Voraussicht nach ein Krüppel. Der alte Gladius, mit dem sein ältester Sohn im Hinterhof herumgefuchtelt hatte war seiner.


    Die Tür zum Nebenzimmer knarrte. Mit einer kleinen Tabula in der Hand und dem Helm unter dem Arm kam Optio der Vigiles Theoxenus Trogus in die Coquina zurück und nickte in die Runde. „Gut, das wär’s dann, Jungens. Ihr könnt jetzt zu ihm rein. Optio Germanicus ..“ Antias blickte trübe auf. „.. der Osturier hat deine Aussage bestätigt. Dann will ich dich nicht länger aufhalten.“ Die beiden Burschen erhoben sich und verschwanden mit hängenden Schultern im Nebenraum. Antias blieb sitzen. Aufhalten? Das war ja wohl ein Witz. Mit einem bitteren Lächeln sah er den Vigil an. „Ach, und das war’s schon?“ Der Optio runzelte die Stirn, offenbar hatte er Antias’ Frage nicht recht verstanden. Wie auch, es war eine völlig überflüssige Frage, zumal für einen Urbaner. Antias wusste selbst nicht, was er sonst noch von den Vigiles erwartet hatte. Sie waren von einem Anwohner geholt worden, hatten den Hinterhof abgeriegelt, alle Anwesenden, die noch oder wieder selbst gehen konnten in der Coquina versammelt und verhört; sie hatten den Gladius sichergestellt, die Leiche durchsucht und den Bewusstlosen unter Aufsicht gestellt; sie hatten einfach ihre Arbeit gemacht, und die war mit der endgültigen Klärung des Hergangs schlichtweg abgeschlossen. Dafür, wer sich nun wofür verantwortlich fühlte, interessierten sie sich nicht im geringsten.


    Antias wusste natürlich nur zu gut, wie eine derartige Angelegenheit von den Ordnungskräften bewertet wurde: Ein Unteroffizier der CU war auf dem Heimweg von bereits aktenkundigen Galgenvögeln überfallen worden und hatte sich verteidigt. Einer der Räuber war dabei draufgegangen, ein anderer ohnmächtig geprügelt, das nahm den Vigiles nur die Arbeit ab. Bedauerlich war da höchstens der Umstand, dass ein dritter entkommen war. Ähnlich bedauerlich mochte es sein, dass ein mehr oder minder harmloser Bürger schwer verletzt worden war, aber das konnte man dem Urbaner eben so wenig ankreiden wie sein irrtümliches Vorgehen gegen den Sohn des Verletzten. Schließlich hatte der einen Gladius in’s Spiel gebracht. Blieb höchstens noch der Vorwurf, sich unbefugt im Hinterhof aufgehalten, ein paar Hühner verscheucht und einen Hahn getötet zu haben. Das allerdings war nicht die Sache der Vigiles, da musste der Geschädigte schon Klage einreichen. So zynisch diese Sichtweise auch war, Antias hätte die Sache kein bisschen anders betrachtet, wenn er selbst mit seinen Männern hinzugerufen worden wäre.


    „Nun gut, Optio.“ Mit einem rauen Stöhnen erhob er sich, nahm seinen dreckigen Mantel von der Stuhllehne und ging auf die Hintertür zu. Optio Theoxenus folgte ihm und stieß die Tür auf, vor der sich ein breitbeiniger Vigil postiert hatte. „Apelles, ruf die Männer zusammen! Wir rücken ab.“ Draußen war die ehedem undurchdringliche Schwärze schon in diffuses Grau übergegangen. Die klare Nachtluft hatte den feuchten Dunstschwaden Platz gemacht, die vom Tiberis her nach Osten trieben. In den Obstbäumen der benachbarten Hinterhöfe zwitscherten schon die ersten Vögel. Hätte der wehrhafte Gockel noch gelebt, wäre sein großer Auftritt unmittelbar bevorgestanden.


    Antias ging schweigend neben Theoxenus her. Fußspuren, Hühnerfedern, niedergetrampeltes dürres Gras. Ansonsten erinnerte fast nichts mehr an die Geschehnisse der Nacht. Die getrockneten Blutspritzer waren kaum vom braunen Lehmboden zu unterscheiden, die beiden leblosen Körper waren von den Vigiles weggebracht worden, nur die Knüppel lagen noch immer dort, wo man sie hingeworfen hatte. „Und du bist dir sicher, dass wir diesen Autronius nicht überstellen sollen?“ fragte Theoxenus unvermittelt. „Ist immerhin ein gesuchter Unruhestifter, sowas macht sich recht positiv in den Akten.“ Antias schüttelte müde den Kopf. „Macht mit dem Drecksack was ihr wollt. Ich will die Fresse nicht mehr sehn.“ Die restlichen Vigiles warteten vor dem Torbogen auf ihren Optio. Mit einem beiläufigen Handzeichen verabschiedete sich Antias von Theoxenus und seinen Männer und schlug dann den Weg nach Osten ein. Er hatte sich noch über so einiges klar zu werden, bevor er antreten ließ. Zum Beispiel über den Unterschied zwischen Grund und Anlass.

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