Axilla überlegte noch, ob sie ihm eine Gemeinheit hinterherwerfen sollte. Wie, dass er ein Feigling war, der immer dann abhaute, sobald es etwas schwierig wurde, oder etwas vergleichbares. Aber sie verkniff es sich, sie wollte nicht die letzte Brücke auch noch abreißen, die vielleicht – wenngleich sehr wackelig und brüchig – noch da sein mochte. Also schnaubte sie nur und wartete nahezu versteinert, bis sie die Tür sich schließen hörte und sie so sicher sein konnte, dass Seneca gegangen war.
Erst dann hielt sie es nicht mehr aus. “So ein feiger, liebesblinder Idiot“, machte sie ihrem Ärger noch einmal Luft. Vielleicht war das eine typisch weibliche Eigenschaft, auch dann die eigene Meinung kundzutun, wenn man gar nicht erwartete, dass andere Personen wirklich eine Antwort dazu gaben. Einfach nur, um die eigene Meinung zu erklären, ohne eine passende Lösung zu haben – oder zu wollen.
Natürlich hörte sie auch Avianus' Einwurf, und jetzt tat ihr der Streit noch mehr leid als ohnehin schon. Denn ihr Cousin konnte hier ja am allerwenigsten etwas dafür. Und irgendwie sah sich Axilla noch mehr in der Verpflichtung, wenigstens ihm zu erklären, was sie so sehr störte, damit wenigstens er, der nicht total blind vor lauter Liebe war, vielleicht einmal ein bisschen Verständnis aufbringen konnte.
“Es tut mir wirklich leid, Avianus. Es ist nur so... hnnnng“ Axilla machte eine hilflose Bewegung, die deutlich machte, wie sehr sie das ganze unter Druck setzte. Aber wirklich in Worte fassen konnte sie das gar nicht. “Weißt du, ich rede mir da schon so lange den Mund bei ihm fusselig. Ich habe Seneca damals gesagt, wie verdammt gefährlich es ist, mit der verheirateten Frau seines Vorgesetzten zu schlafen. Ich habe ihn damals geradezu angefleht, dass er doch an die Familie denken sollte und es lassen soll. Und jetzt kommt er heute her und hat die Unverfrorenheit, mir vorzuwerfen, ich würde nicht an die Familie denken! Ihm war die ganze Zeit über die Familie schnurzpiepegal. Wenn er damals erwischt worden wäre, weißt du, was dann alles passiert wäre? Er wäre wegen Ehrverletzung verurteilt worden, und das wäre noch das mindeste gewesen! Den Schaden, den das für den Ruf unserer Familie bedeutet hätte, den muss ich ja wohl nicht erst ausführen.
Aber hat er auf mich gehört? Nein. Stattdessen hat er mich wieder und wieder angeschnauzt, wenn sein kleines Geheimnis aufzufliegen drohte, als ob ich da irgendetwas dafür könnte!
Und auch jetzt... also, ehrlich, diese Erklärung gerade war doch auch nur ein 'Ist mir doch scheißegal, was ihr davon haltet, ich heirate diese Frau und basta' und nichts anderes. Ihm ist doch immernoch die Familie scheißegal.
Wenn ihm auch nur irgendetwas daran gelegen hätte, irgendwas auszuräumen, dann hätte er wenigstens so viel Arsch in der Tunika haben müssen, um zuzugeben, dass er sich falsch verhalten hat. Bei den Göttern, er hat so ziemlich gegen das älteste Gesetz der gesamten Menschheit verstoßen: Die Frau eines anderen fasst man nicht an.
Aber nein, er macht keine Fehler, und seine tolle Seiana schon gleich gar nicht! Um Entschuldigung bitten? Die zwei doch nicht!
Weißt du, wenn die zwei im Vorfeld gekommen wären und wenigstens versucht hätten, da irgendwas auszuräumen, wenn sie wenigstens versucht hätten, Frieden zu schaffen und zuzugeben, dass sie Fehler gemacht haben und es nicht recht und gerecht war, wie sie sich verhalten haben, dann könnte man ja noch darüber reden! Aber so? Nein. Und ich lasse mir da sicher nicht einreden, dass ich da Teil des Problems wäre. Die beiden haben für sich beschlossen, dass sie ohne Fehl und Tadel sind und allein durch die Welt gehen können, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich bin lediglich der Spiegel, der ihnen mal ein Stück Wirklichkeit vorhält. Die Welt interessiert sich einen feuchten Kehricht dafür, ob man verliebt ist oder nicht. Und genau das kann dieser Traumtänzer nicht ertragen.“
Axilla ließ sich schnaubend in einen Sessel fallen und sich von einem Sklaven einen Becher verdünnten Wein reichen, von dem sie nach diesem langen Monolog erstmal einen großen Schluck nahm. Jetzt, nachdem sie sich den ganzen Frust nochmal von der Seele reden konnte, ganz ohne schreien oder Wut im Bauch, fühlte sie sich wesentlich besser und konnte auch erst einmal durchatmen.
“Tut mir echt leid, Avianus. Wenn du magst, können wir auch von etwas anderem reden. Du meintest vorhin, du hast eine Freundin? Oder hab ich dich falsch verstanden?“ In Axillas Stimme schwang etwas Neugier und durchaus auch ein bisschen Freude (und ein winziges bisschen Neid) mit. Zwar hatte Avianus auch gemeint, irgendetwas an der Frau wäre falsch, aber so schlimm konnte es doch wohl nicht sein. Um Seneca zu toppen, müsste Avianus jetzt schon ein Verhältnis mit der Augusta gestehen.