Eleusis · Landgut der Claudia


  • Etwa zwanzig Meilen nordwestlich von Athen, auf halber Strecke zwischen den südlichen Ausläufern des Kithairon im Westen und dem Mons Egaleo im Osten, schmiegt sich das Anwesen der Gens Claudia an eine sanfte Hügelkette über dem Saronischen Golf.


    Neben einigen Obstgärten und Weinbergen werden hier vor allem ausgedehnte Olivenhaine bewirtschaftet, die sich der attischen Küste entlang nach Westen bis an die Hänge des Kitharion erstrecken. Sowohl die nördlich an den Claudischen Gütern vorbei führende Fernstraße von Athen nach Korinth als auch ein kleiner Hafen direkt am Fuße der Küstenhügel erlauben es, die Erzeugnisse des Landgutes wie Wein, Öl und Früchte zügig zu den großen Märkten und Häfen Achaias zu befördern.

  • Gedankenverloren starrte Maecenas auf den noch immer unvollendeten Brief hinab. Es wollten sich einfach nicht die rechten Worte einstellen, der richtige Ton, die nötige Distanz. Er schob es auf die drückende Schwüle, die nun schon seit Tagen alle Aktivitäten zur Qual machte, wusste im Grunde aber sehr wohl, dass ihm der Brief an seine Schwester auch bei gemäßigten Temperaturen nicht leichter von der Hand gehen würde. Nur nüchtern formulierte Banalitäten waren ihm bisher aus der Rohrfeder geflossen, Floskeln, Tratsch, unlustige Anekdoten. Nichts davon, wie sehr sie ihm in Wirklichkeit fehlte, kein Satz davon, wie sehr ihn die geheuchelte Anteilnahme und die ach so gut gemeinten Ratschläge der ansässigen Familien anwiderte. Seit Claudius Callidus gestorben war und sein zwanzigjähriger Sohn die Geschäfte übernommen hatte, kreisten die Häupter der landbesitzenden Familien über den attischen Gütern der Claudier wie Geier über einem hilflosen Milchlamm. Keiner der honorigen Herren, der sich die Unerfahrenheit des neuen Patrons nicht auf die eine oder andere Weise zunutze machen wollte, sei es durch die Vermittlung ihnen genehmer Zwischenhändler, durch Anspielungen auf alte Verbindlichkeiten, die sich in den Büchern jedoch nicht wiederfanden oder durch großzügige Kaufangebote für vermeintlich unrentable Grundstücke.


    Man meinte es gut mit dem jungen Claudier, man wollte nur sein Bestes, und der penetranteste von all diesen uneigennützigen Helfern war bedauerlicherweise Matienus, sein Schwiegervater in spe. Sollte er das etwa schreiben? Wozu? Um seine Schwester mit Vorgängen zu belasten, die zu handhaben allein seine Aufgabe war? Nein. Agrippina hatte mit ihrer Reise nach Rom den Schritt in ein neues Leben getan. Sie brauchte seinen Rückhalt, seine Unterstützung und nicht umgekehrt. Er würde dafür sorgen, dass sie in die bestmöglichen Hände kam, bei den Göttern, das würde er! Auch wenn ihn die Vorstellung, dass ein fremder Mann, und sei er noch so ehrenwert, einst seine wundervolle Schwester bespringen würde, schon jetzt um den Schlaf brachte.


    Ein flüchtiges Flackern ließ Maecenas von seinem Schreibpult aufblicken. War das ein Blitz? Er lauschte. Nur das einschläfernde Zirpen der Zikaden klang von den Gärten herauf, ansonsten lag dumpfe Stille über dem Land, wie immer zu dieser nachmittäglichen Stunde. Plötzlich bauschte ein jäher Windstoß die langen Leinenvorhänge, gefolgt von einem tiefen drohenden Grollen das den halbvollen Weinbecher auf dem Pult erzittern ließ. Tatsächlich. Ein aufziehendes Gewitter. Besorgt erhob er sich und ging zu einem der hohen Fenster hinüber. Das Meer lag noch noch immer reglos unter einem dunstig flimmernden Guss aus Licht und Hitze, von der östlichen Ebene jedoch schob sich langsam eine schwarze von Blitzadern durchflammte Wand auf die Hügel zu. Auch das noch. Das Gewitter kam von Osten. Ein bisschen Regen wäre die reinste Wohltat gewesen, Gärten und Haine hatten einen frischen Guss bitter nötig, was da aber heran rollte war ein knochentrockenes Chaos aus Wind und Feuer. Er hatte dergleichen schon zwei oder dreimal erlebt. Zum letzten mal allerdings als Kind, und da hatte sich sein Vater um alles gekümmert.
    „Kasemde!


    Die Tür zum Officium schwang auf. Ein dunkelhäutiger junger Servus eilte herein. „Dominus?“
    „Lauf zu Pyntius hinüber, die Pferde müssen von der Koppel. Sofort! Und dann rufst du die Männer am vorderen Brunnen zusammen. Ich komm gleich nach.“
    „Ja, Dominus.“ Mit patschenden nackten Füßen rannte der Nubier hinaus. Maecenas nahm einem letzten Schluck aus dem Becher und räumte dann die Papiere vom Pult. Der Brief an Agrippina musste warten und er war fast schon froh darüber, sich mit anderen Dingen beschäftigen zu müssen. Nachdem er die Läden geschlossen hatte lauschte er noch einmal den näher kommenden Donnerschlägen und beeilte sich schließlich, die Treppe hinunter zu kommen. Fenster und Türen mussten verrammelt, Heu und Trockenbottiche abgedeckt und verzurrt werden. Wasser musste bereit stehen. Viel Wasser. Und Sand. Ein guter Verwalter hätte das alles von sich aus veranlasst, aber Maecenas hatte noch keinen guten Verwalter gefunden. Alles hing an allein an ihm. Wieder einmal.

  • Ad
    Manius Claudius Maecenas
    Villa rustca Claudiana
    Eleusis, Achaea


    Liebster Mani,


    du fragst dich sicher, ob dein liebes Schwesterlein wohlbehalten in Rom angekommen ist. Ich kann dich beruhigen, sie ist es!


    ALLERDINGS muss ich mal ein ernstes Wörtchen mit dir reden! Wie konntest du mir nur diesen schrecklichen Menschen auf den Hals hetzen?! Maevius Tullinus raubt mir noch den letzten Nerv. Ständig nörgelt er an mir herum und einen Ehemann hat er auch noch nicht für mich gefunden!
    Stell dir vor, wir waren kürzlich auf dem Sklavenmarkt! Bei dieser Gelegenheit habe ich mich mit frischem Personal eigedeckt. Der Maevius musste unbedingt einen Paedagogus für mich aussuchen. Als ob ich gänzlich unbelesen wäre! Aber das war ja noch gar nicht das Schlimmste! Maevis Tullinus hat diesen armen Kerl entmannen lassen. Dabei hat man ihm irgendetwas abgeschnitten. Ich weiß aber nicht, was. Auf jeden Fall muss es sehr schmerzhaft gewesen sein.


    Kannst du den Maevius nicht unter einem Vorwand zurück beordern? Schreib ihm einfach, seine Olivenhaine seien in Flammen aufgegangen oder seine Frau sei gestorben. Schreib ihm irgendwas! Nur damit er mich endlich zufrieden lässt! Damit hättest du wieder etwa gut bei mit, lieber Mani!


    Apropos etwas gut haben, wie geht´s denn Sempronia? Sie hat sich über meine Abreise sicher gefreut. Oder? Nun hat sie dich ja ganz für sich allein.
    Also ich weiß ja nicht, du bist doch so ein flotter Kerl und entscheidest dich für das unansehnlichste Mädchen der Stadt! Versprich mir, dass du sie zu Hause lässt, wenn du mich demnächst besuchen kommst! Ja?!


    Übrigens Brüderchen, unser Verwandter, der Senator Menecrates, ist ein ganz netter Mann. Ich durfte ihn gleich am Abend unserer Ankunft kennenlernen. Und stell dir vor, in einigen Tagen werde ich ihn auf eine Hochzeit in die Villa Flavia Felix begleiten. Eine gewisse Flavia Domitilla heiratet einen gewissen Tiberius Lepidus. Ich kenne die beiden zwar nicht, doch möchte ich dieses Ereignis als Gelegenheit nutzen, meine Fühler zur feinen Gesellschaft in Rom auszustrecken. Der Maevius meinte natürlich gleich, ich könne mich bei dieser Gelegenheit schon einmal damit vertraut machen, was mir bald bevor stünde. Aus seinem Mund klang das so, als wäre die Ehe etwas Schreckliches. Naja, wenn er den Bräutigam aussucht, dann vielleicht schon.


    Vielleicht treffe ich ja auf dieser Hochzeit auch deinen Freund Flavius Scato. Wie ich dich kenne, hast du ihm bestimmt gleich einen Brief geschrieben, dass ich nach Rom komme. Stimmt´s? Hoffentlich hast du ihm nicht geschrieben, dass ich ihn angeblich früher immer umschwärmt hätte. Das stimmt nämlich nicht!! Wenn er bei uns war, habt ihr mich nämlich immer geärgert. So, jetzt weißt du´s wieder!


    Ich werde dir bald wieder schreiben, um dich auf dem Laufenden zu halten! Bitte grüße Mutter ganz herzlich von mir! Ach ja und denke an den Brief für den Maevius!


    Mögen die Unsterblichen immer bei dir sein!


    Vale bene,
    Dein Pinchen


  • Maecenas war tot! Die Nachricht von seinem Tod hatte meine Welt aus den Fugen gehoben und ins Wanken gebracht. Nichts war mehr so gewesen, wie es hätte sein sollen. Anfangs hatte ich niemanden sehen wollen, hatte es vermieden, das Haus zu verlassen.


    Doch dann schien auch mein eigener Lebenswille schwinden zu wollen. Ich war krank geworden. Die Ärzte hatten keinen Rat mehr. Sie hatten mich bereits aufgegeben, denn mein Körper war jeden Tag schwächer geworden. Mein einziger Wunsch war es, noch einmal Eleusis sehen. Noch einmal dort sein, wo er zuletzt gewesen war, bevor er ins Elysion gegangen war.


    Gegen die Empfehlungen der Ärzte hatte meine Eleni, die Tag und Nacht an meiner Seite gewacht hatte, schließlich alles für meine Heimreise veranlasst. Meinem Aristoteles hatte ich ein paar Briefe diktiert. Unter anderem an Flavius Scato, um ihm alles zu erklären und ihn um Verzeihung zu bitten. Ein weiterer Brief sollte meine Stiefmutter davon in Kenntnis setzen, dass ich nach Hause kommen würde, sofern es der Wille der Götter sei…

  • Von der Überfahrt hatte ich kaum etwas mitbekommen. Ich hatte mich währenddessen in einem abstrakten Bereich zwischen Leben und Tod befunden. Als die Küste des griechischen Festlandes in Sicht gekommen war, hatten sich die Götter entschieden. Ich sollte leben! Später berichteten mir meine Sklaven, die Fahrt nach Griechenland sei ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen.

    Nachdem unser Schiff in Piräus eingelaufen war, hatten meine Sklaven dafür gesorgt, dass mich ein Reisewagen unverzüglich nach Eleusis brachte. Eleni hatte mich begleitet und Onatas sollte für meine Sicherheit auf der Fahrt nach Hause sorgen. Der Wagen hatte den Weg in knapp zwei Stunden geschafft.


    Mein Brief hatte inzwischen meine Stiefmutter erreicht, so dass die genügend Zeit hatte, alles für meine Heimkehr zu veranlassen. Unser Wiedersehen war von Trauer geprägt und verlief sehr tränenreich. Mein bleiches Gesicht, die leeren Augen und mein ausgezehrter Körper hatten nicht nur die Sklaven in Bestürzung versetzt. Kreton, ein langjähriger Sklave meiner Familie, hatte mich auf seinen Armen in das Herrenhaus hineingetragen und mich schließlich auf mein Bett in meinem Cubiculum gebettet.


    Ich wusste nicht, wie viele Wochen oder gar Monate vergingen, bis ich zumindest wieder äußerlich vollkommen hergestellt war. Tief in mir drinnen herrschte eine bedrückende Leere. Nichts hatte mich zum Lächeln bringen können. Selbst Maevius Tullinus, der nach seiner Rückkehr und seit dem Tod meines Bruders das Landgut verwaltete, hatte ich kein Paroli zu bieten. Ich ließ ihn gewähren und protestierte auch nicht, als er eine Verbindung mit einem Zweig der in Athen ansässigen Gens Aquillia arrangiert hatte.
    Lucius Aquillius Gallus, ein Mann mittleren Alters, der in der Tradition seiner Familie als Jurist tätig war, nahm mich zur Frau. Jedoch war es nur eine leere Hülle, die er in sein Haus geführt hatte. Aquillius Gallus war ein guter Mann gewesen. Er hatte versucht, mir jeden Wunsch zu erfüllen, in der Hoffnung, damit mein Herz zu erobern. Doch wo nichts Lebendiges vorhanden war, konnte auch nichts erobert werden. Dennoch erfüllte ich meine eheliche Pflicht, so dass nach einem halben Jahr ein Kind in meinem Körper heranzureifen begann. Doch wie hätte ich Leben spenden können, wenn doch in mir nicht die Flamme des Lebens loderte? Ich verlor das Kind zwei Monate vor der Zeit.


    Mein Gemahl flüchtete sich danach in seine Arbeit und vermied es, mehr Zeit als nötig mit mir zu verbringen. So lebte ich Tag für Tag und spielte der Welt die untröstliche Matrone vor. Hinter meinem Rücken tuschelten die Sklaven über mich. Domina Agrippina – die Unnahbare, Domina Agrippina – die Unfruchtbare. Als zwei Jahre später Aquillius das zeitliche segnete, sagte man, er sei an Kummer gestorben…

  • Nach Aquillius´ Tod hatte mich nichts mehr in Athen gehalten. Meine Rückkehr nach Eleusis hatte beinahe einer Flucht geglichen. Denn Eleusis war immer mein Anker gewesen, meine Heimat, meine Zuflucht. Doch trotz all der Menschen, die auf dem Landgut lebten, war es für mich dort trostlos und leer. Nach all den Jahren hatte ich nicht die Trauer um meinen geliebten Bruder überwinden können. Die Wunde in meinem Herzen schien so frisch zu sein, als sei es erst gestern gewesen, dass Maecenas von mir gegangen war.


    Das Landgut hatte inzwischen einen neuen Verwalter erhalten, da den Maevius wenige Monate zuvor der Schlag getroffen hatte. Eine gerechte Strafe der Götter, wie ich fand. Meine Stiefmutter, um deren Gesundheit es auch nicht mehr zum Besten bestellt war, hatte einen jungen Mann auserkoren, den Sohn eines ehemaligen Klienten meines Vaters, der sich fortan um unseren Besitz kümmern sollte. Glücklicherweise war er nicht im gleichen Maße wie sein Vorgänger bestrebt, mich erneut an den Meistbietenden zu verschachern. Nein, er brachte wesentlich mehr Geduld für mich auf.
    Selbstverständlich war mir bewusst, dass ich nach einer angemessenen Zeit wieder heiraten sollte. Diesmal jedoch wollte ich ein Wörtchen dabei mitreden. Doch gab es überhaupt einen Mann von Stand, der sich mit mir einlassen wollte? Einer Frau, der ein gewisser Ruf voraus ging? Gab es den Einen, der mich aus meinem Kummer befreien und mir neuen Lebensmut einhauchen konnte? Diese Fragen stellte ich mir. Ich hatte sogar eine Wahrsagerin bemüht, eine alte Hexe aus den Bergen von Parnes, die mir aus der Hand gelesen hatte und die dort eine sehr ausgeprägte Lebenslinie entdeckt haben wollte. Außerdem sagte sie mir eine glorreiche Zukunft an der Seite eines "goldenen Mannes" voraus, der jenseits des Meeres auf mich wartete.


    Der seltsame Spruch der Alten hatte mich wochenlang beschäftigt, so dass ich nach längerem Nachsinnen, mir einer Antwort bewusst geworden war. So sehr ich Eleusis auch liebte, doch hier würde nicht meine Zukunft liegen. Auch wollte ich nicht wieder in die Enge einer Stadt wie Athen zurück. Nein, es musste wieder Rom sein! Das Zentrum der Welt! Jenseits des Meeres. Wenn nicht dort, wo dann?

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