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Je weiter sich die sieben verbliebenen Reiter von der Nordgrenze Raetias entfernten, desto klarer wurde Arwed, wie irrig seine bisherigen Vorstellungen von Germania Magna gewesen waren. Er hatte mit einer undurchdringlichen Wildnis gerechnet, nachtschwarz, leer und endlos. Nichts davon traf zu. Die Wälder waren dicht und düster, das schon, aber auch durchzogen von einem wenn auch grobmaschigen Netz schmaler Wege und Pfade, die wohl schon das alte Volk einst genutzt hatte. Leer war die angebliche Baumwildnis auch nicht. Auf ihrem Weg durch den Wald begegneten sie immer wieder irgendwelchen Menschen, meist einfachen Leuten, deren Vorstellungen von der Welt jenseits ihrer Gaue wohl ähnlich vage waren wie die Arweds. Auf junge Burschen trafen sie, die die Hausschweine ihrer Sippen im Waldboden wühlen ließen, auf schwarzgesichtige Köhler, die mürrisch und verbissen in ihren qualmenden Meilern herumstocherten, auf Fallensteller, Holzfäller, Jäger und Händler, sogar auf Römer, und damit hatte Arwed nun überhaupt nicht gerechnet. Im Grunde, musste er sich nach einigen Wegstunden eingestehen, unterschied sich diese Gegend gar nicht so grundlegend vom heimatlichen Grenzgau. Wenn man einmal von den deutlich schlechteren Wegen, den vergleichsweise riesigen Flächen an unbebautem Land und den weit größeren Abständen zwischen den Ansiedlungen absah. Ansonsten wechselten sich hier ebenso wie im Norden Raetias dunkle Wälder mit sonnendurchfluteten Fluren ab, felsige Anhöhen mit schattigen Waldschluchten, kahle einsame Hochweiden mit fruchtbaren Talsenken, in denen sich kleine Weiler und Gehöfte zwischen den Feldern versteckten. Ein Gefühl der Fremde stellte sich hier nicht ein. Vielleicht würde sich das im Verlauf der nächsten paar Tage noch ändern, einstweilen aber zog Arwed es vor, sich ganz seinen Eindrücken hinzugeben, und nicht weiter voraus zu schauen als bis zur nächsten Wegbiegung.
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Die heißesten Stunden des Tages lagen hinter ihnen. Längst war die Cochara davon gekrochen, hinüber zu den westlichen Hügeln, die ihre länger werdenden Schatten auf die Reisenden warfen. Von Osten her hatte sich dafür ein anderer Fluss herangeschlichen, an dessen bewaldetem Ufer sich der Trupp nun entlang bewegte. Halvor ritt an der Spitze, gefolgt von Arwed und Ove, dann Ratnar mit dem Packpferd am Zügel, schließlich Thrasea und weit zurück, fast schon außer Sicht dessen seltsame Gefährten. Die Dämmerung senkte sich über das Tal. Aus dem Fluss erhob sich schwüler Dunst. Im Buschwerk zwischen den Bäumen begann es zu rascheln. Nager, Füchse und anderes Beutegetier vermutlich, das sich im Schutz der anbrechenden Nacht daran machte, seinen Hunger zu stillen.
Auch Arwed war hungrig. Und er war müde. Gähnend blickte er auf ein paar dünne Rauchsäulen, die weit im Nordosten hinter den Baumkronen emporstiegen. Sicher ein Hof, an dessen Herdfeuer gerade Essen zubereitet wurde. So langsam, fand er, sollte sein Vater sich wirklich mit der Frage des Nachtlagers befassen. Wie viele Gehöfte hatten sie in den vergangen Stunden passiert? Zwei Dutzend? An einigen davon hatte Halvor die Männer halten lassen, um sich mit dem einen oder anderen Bauern zu unterhalten, um andere Höfe hatten sie dagegen einen weiten Bogen gemacht. Nun, wo es dunkel wurde, hielten sie sich fern von jeglicher menschlichen Ansiedlung. Für Arwed machte das keinen rechten Sinn. Für Ove ganz offensichtlich auch nicht. Noch bevor Arwed dazu kam, Halvor darauf anzusprechen, vernahm er die quengelnde Stimme seines Bruders hinter sich.
„Vater.? Wie lange soll das heute noch werden? Meinst du nicht, wir sollten uns allmählich nach einem Nachtquartier umsehen?“ Halvor spähte angestrengt nach vorn. „Sechs Meilen flussabwärts zieht der Jagas eine Kehrtschleife. Einen besseren Lagerplatz können wir uns nicht wünschen.“ Ove entgegnete nichts, grummelte aber leise vor sich hin. Halvor hatte gute Ohren. „Was ist, hast du Angst vor Trollen?“ brummte er beiläufig über die Schulter, ohne den dunklen Pfad aus den Augen zu lassen. Arwed grinste. Ove wirkte gekränkt. „Natürlich nicht! Ich dachte nur, wir könnten in einem der Höfe unterkommen.“
„Nein. Heute nicht. Morgen.“ Ove ließ sich damit nicht abspeisen. „Heute nicht aber morgen schon? Das versteh ich nicht so ganz.“
„Ehrlich gesagt, ich auch nicht, Vater.“ pflichtete Arwed seinem Bruder bei. Halvor stieß einen langen Seufzer aus, drehte sich aber noch immer nicht zu seinen Söhnen um. „Wir sind hier nicht mehr unter Askaleuda. Die meisten Sippen in dieser Gegend sind Nachkommen des alten Volkes, Vangionen, Narister und anderes versprengtes Pack. Die sind auf die Stämme der Suebi nicht gerade gut zu sprechen. Besser wir halten Abstand und bleiben unter uns. Wenn wir uns ran halten, erreichen wir morgen nach Mittag gastfreundlicheres Gebiet.“ Das klang einleuchtend. Trotzdem hielt Arwed die Vorsichtsmaßnahme für etwas übertrieben. „Aber Vater, das sind hier doch nur harmlose Bauern und Handwerker. Denen ist die Gastfreundschaft sicher eben so heilig wie uns.“ Halvors Entgegnung fiel kryptisch aus. „Ach Junge, du siehst einen Stier mit gestutzten Hörnern und hältst ihn für eine Milchkuh.“ Darauf gab es wenig sinnvolles zu sagen, also ließ es Arwed dabei bewenden und kämpfte weiter gegen die Müdigkeit.
Als sie die Flussbiegung endlich erreicht hatten, waren Thraseas Männer verschwunden, was weder den Römer noch Halvor besonders zu beunruhigen schien. Arwed war zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Seine ganze verbliebene Energie verbrauchte sich dabei, das Pferd zu versorgen. Ove und Ratnar ging es nicht anders. Mit steifen Knochen führten die jungen Männer die Reittiere zur Tränke an den Fluss hinunter, füllten frisches Wasser in die Lederschläuche, tranken, zogen sich aus, wuschen sich und plantschen noch eine Weile im kühlen Strom herum.
Schließlich vom Flussufer zurückgekehrt mussten sie beschämt feststellen, dass bereits alles hergerichtet war. Ihre Mäntel lagen ausgerollt auf dem Moos, daneben ihre Bündel, die Sättel am Kopfende. Im Boden steckte eine Fackel, davor war Brot und Käse auf einem Tuch ausgebreitet. Eigentlich wäre das alles ihre Aufgabe gewesen.
Halvor und Thrasea fläzten grinsend auf ihren Lagern, jeder einen vollen Trinkschlauch vor der Brust, in dem sich garantiert kein Tropfen Wasser befand. Ove und Ratnar machten sich gierig über das Essen her, Arwed legte seinem Pferd eine Decke über und ließ sich erschöpft auf seinen Mantel fallen. Sein Hunger war weg. Vielleicht war er auch zu müde, um Appetit zu haben oder einfach nur zu faul zum Essen. Jedenfalls fühlte er sich für diesen Tag restlos bedient. Er schloss die Augen. Wie durch einen Nebel hörte er Thraseas dunkle Stimme. „Hoffentlich habt ihr die Gäule nicht in den Fluss kacken lassen. Ich will mich noch waschen.“ Arwed hörte sich selbst kichern. „Doch, klar. Wir haben selbst auch noch rein gekackt. Schlimm?“ Thrasea erhob sich lachend und schlurfte mit schweren Schritten an Arwed vorbei dem Flussufer zu. „Was solls. Ist hier sowieso dunkel wie im Bärenarsch.“ Schmunzelnd nahm Arwed Thraseas breiten Schatten vor seinen geschlossenen Augenlidern wahr. „Übrigens. Wo ist eigentlich dein schweigsames Gefolge hin?“
„Die sehen nach dem kleinen Trupp harmloser Bauern und Handwerker, der schon seit Sonnenuntergang neben uns her schleicht.“ Thrasea verschwand summend in den Büschen. Arwed riss die Augen auf und starrte zu seinem Vater hinüber. Halvor nickte ihm langsam zu. „Du musst noch eine Menge lernen, Junge.“
In dieser Nacht schlief Arwed unruhig und traumreich.