[Hortus Amafidii] Eine Einführung in die Lehre des Epikur

  • Lucius Praetonius Chairedemos

    http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg Der Philosoph blickte erfreut zu Plinia - er mochte es, wenn seine Schüler mitdachten! Und die Frage der Angst vor dem Schmerz war ja geradezu ein Klassiker der epikureischen Ethik.
    "Der Schmerz ist durchaus ein wichtiges Thema, denn wie ich bereits sagte, stellt er das Gegenteil zur Lust dar - wenn wir falsch mit ihm umgehen. Denn wir können über Götter, den Tod oder andere geistige Ängste diskutieren - der Schmerz ist zu real und vertraut, als dass er wegzudiskutieren wäre. Hier will uns der weise Epikur dennoch Trost spenden, um den Schmerz zu überwinden. In der von dir genannten Situation, deiner ärztlichen Tätigkeit, magst du an die Worte denken, die der Weise seinem Schüler Menoikeus schrieb:
    Ja, viele Schmerzen bewerten wir mitunter höher als Freuden, nämlich dann, wenn auf eine längere Schmerzenszeit eine umso größere Freude folgt. So bedeutet für uns also jede Freude, weil sie an sich etwas Angenehmes ist, zwar gewiss ein Gut, aber nicht jede Freude ist erstrebenswert, wie umgekehrt jeder Schmerz wohl ein Übel ist, aber darum doch nicht immer vermieden werden muss.
    Unsere Aufgabe ist es, durch Abwägen und Unterscheiden des Zuträglichen und Abträglichen immer alles richtig zu bewerten, denn manchmal bedienen wir uns des Guten gleich wie eines Übels und umgekehrt.*

    Ein wenig simpler ausgedrückt: Wir müssen stets abwägen, in welcher Situation es klüger ist, dem Schmerz zu entgehen, weil er sinnlos ist, oder wo wir ihn zu ertragen haben, weil wir uns damit trösten können, dass er notwendig ist, um einen größeren Schmerz oder ein größeres Übel zu vermeiden. Die Perspektive auf Heilung kann uns dann, wenn wir unser kurzsichtiges Denken überwunden haben, auch das Ertragen des Schmerzes erleichtern.


    Doch natürlich - und das dürfte gerade dir als Ärztin bekannt sein - gibt es auch Schmerzen, die ich weder vermeiden, noch ihnen Sinn abgewinnen kann. Hier Auch hier möchte Epikur uns Trost spenden mit einem Bestandteil seines Vierfachen Heilmittels. Wo steht es?"
    Fragend sah er in die vordere Reihe, wo die erfahreneren Jünger saßen. Philodemos begann schließlich mit dem 4. Lehrsatz:
    "Was schmerzt, spürt man nicht ununterbrochen im Fleisch; vielmehr ist der größte Schmerz nur von kurzer Dauer; der Schmerz aber, der die Lust im Fleisch kaum übersteigt, dauert nicht viele Tage lang. Lange andauernde Krankheiten gewähren mehr Lust im Fleisch als Schmerz."
    Der Praetonier legte die Stirn in Falten.
    "Einer der schwieriger zu verstehenden Sätze, zweifellos. Doch betrachten wir ihn genauer: Der erste Teil dürfte einleuchten: Ein heftiger Schmerz wird irgendwann nachlassen, womit der, der unter einem Schmerzanfall leidet, sich trösten darf. Auch hier gilt es also, die Perspektive zu erweitern und in die Zukunft zu blicken.
    Der zweite Teil hingegen weist uns auf einen Umstand hin, der auch den chronisch Leidenden beruhigen kann: Auch in der Krankheit ist es möglich, ungetrübte Lust zu empfinden. Auch hier hoffe ich, dass du, werte Plinia, mir zustimmen wirst: Einem Kranken, der sich nicht ständig seinem Leiden zuwendet, vermag es gelegentlich über einen Scherz zu lachen oder mit Freunden in erfreulichen Erinnerungen zu schwelgen, die ihn sein Leiden zumindest für eine Weile vergessen machen.


    Dies ist es, wozu Epikur uns erziehen will: Carpe diem - auch im unvermeidlichen Leiden."
    Er sah in die Runde, ob seine Schüler diese Erklärung akzeptierten.
    "Damit berühren wir im Grunde bereits den vorletzten Block unserer Einführung, der mir zugleich der wichtigste zu sein scheint: die Ethik. Sofern ihr keine Fragen mehr zur epikureischen Physik habt, würde ich dazu übergehen."


    Sim-Off:

    * Epikur: Brief an Menoikeus, Kap. 129

  • Der iulische Senator hatte an den ersten Treffen über die vierzig Lehrsätze und die Kanonik letztlich doch eher beobachtend nur teilgenommen und sich mit eigenen Beiträgen zur Lehre des Epikur vorerst überaus zurückgehalten. Zu neu und zu ungewohnt war die gesamte Situation für ihn, in einem derartigen Kreis, in welchem jede Hierarchie und Ordnung fehlte, sich zu befinden. Nichtsdestotrotz verfolgte er aufmerksam, was und worüber gesprochen wurde.
    Am Tag des epikureischen Geburtstages indes glänzte Dives nur mit seiner Abwesenheit, da er einige wichtige Termine, die er in seiner Position als Mitglied des Senats nun einmal so hatte, nicht hatte verschieben können. Jedoch, so hatte er sich bis zur nächsten Sitzung des Zirkels erkundigt, schien er allzu viel in diesem Zusammenhang wohl nicht verpasst zu haben, sodass er doch vergleichsweise zuversichtlich in das Gespräch über die physischen Lehren des Epikur ging. Heute, das hatte er sich überdies selbst aufgetragen, würde er auch etwas mehr in Erscheinung treten und würde irgendwann im Verlaufe der Gruppenunterhaltung auch das Wort zu irgendeinem Thema ergreifen.


    "Moment.", gab der Iulier spontan von sich, als der Praetonius damit drohte, bereits gleich zum nächsten Punkt überzugehen. Für einen kurzen Augenblick war er selbst etwas überrascht, dass er gesprochen hatte, ohne sich auch nur annähernd sicher zu sein, ob er das, was ihm im Kopf umging, überhaupt an dieser Stelle aussprechen und in der Form fragen wollte. Doch sogleich sammelte er sich wieder und kam zu der Erkenntnis, dass er nun in jedem Fall etwas vorbringen musste - folglich also auch einfach das vorbringen konnte, dessen er sich nicht sicher war. "Ich habe noch eine Frage, die sich auf deine überaus informativen Ausführungen zur Physik bezieht." Dives versuchte die passenden Worte zu finden. "Du sagtest unter anderem, nichts wäre beständig und wirklich alles zerfiele, richtig?", wiederholte er die betreffende Aussage.
    "Ich besuche diesen Zirkel, da ich mich nach dem viel zu frühen Ableben meiner Tochter versuchsweise ein wenig der Philosophie öffnen und zuwenden möchte. Als einer Vestalin war ihr, meiner Tochter, jedoch eines stets überaus wichtig - die Götter. Die Götter waren ihr wichtig und ich sitze nun hier und komme nicht umhin, mich auf deine Aussagen hin - respektive jene Epikurs - nun das Folgende zu fragen.", schlich der Senator zunächst wortreich um den heißen Puls, bevor er auf den Punkt kam. "Wenn ausnahmslos nichts beständig ist und absolut alles zerfällt, wie passen dann die Götter, welche in ihrer Unsterblichkeit doch wohl zweifellos als ewig anzunehmen sind, in dieses Bild?", rückte er am Ende also raus mit der Sprache. während seine Mimik zeigte, dass er damit hoffte, in keinen Fettnapf getreten zu sein. Indes hoffte er, dass auch ein Epikur sich mit den Göttern beschäftigt hatte und sie nicht etwa nur einfach negierte. Denn mit einem Zirkel von Ungläubigen, damit wollte er - insbesondere nach dem noch recht frischen Tod seiner vestalischen Tochter - gewiss nicht irgendwie in Verbindung gebracht werden...

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  • Lucius Praetonius Chairedemos

    http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg Der Praetonier hielt sofort inne, als Dives sich einschaltete und nickte erwartungsvoll, als er die physikalischen Grundaussagen Epikurs korrekt wiedergab. Als sich dann abzeichnete, worauf er tatsächlich hinauswollte, kam sogar ein Lächeln über sein Lippen - ein wunderbarer Ansatzpunkt!
    "Die Götter sind eine gute Anfrage, durchaus. Immerhin wurde den Schülern Epikurs immer wieder vorgeworfen, sie würden die Unsterblichen leugnen!"
    Er blickte wieder einmal kurz in die Runde seiner Schüler und legte nachdenklich den Zeigefinger auf die Lippen. Dann hob er ihn mahnend.
    "Das sind Verleumdungen böswilliger Leute! Denn Epikur leugnete niemals die Götter, ja er gab sogar eine recht einleuchtende Erklärung ab, wie ihre Ewigkeit trotz des Zerfalls aller Dinge gewährleistet wäre: Wie andere Dinge senden nämlich auch die Götter winzige Teilchen von sich in die Welt, die unsere Seelen erkennen können, sodass wir auf die Existenz der Götter schließen können. Dieser Verlust wird allerdings ausgeglichen, indem die Götter neue Atome in ihren Körper aufnehmen und in sich integrieren. Ähnlich wie wir, wenn wir essen und trinken - nur eben weitaus vollkommener.
    Epikur empfiehlt sogar die Verehrung der Götter, die uns Vorbilder sein können."

    Chairedemos lächelte erneut und legte die Hände ineinander.
    "Was er dagegen bestreitet, ist, dass die Unsterblichen Einfluss auf unser Leben nehmen. Warum dies der Fall ist, wird uns allerdings erst aus der Ethik Epikurs einsichtig werden, sodass wir diese Frage besser zu einem späteren Augenblick neu aufgreifen."

  • Der iulische Quaestorius nickte langsam, als der Praetonier ihnen die epikureische Sicht auf die Götter kurz darlegte. Denn der Grundgedanke erschien ihm doch überaus plausibel: Auch die Götter zerfielen; sie glichen diesen Verlust indes jedoch - und anders als die sterblichen Menschen - stets wieder aus und vermochten es darob, ewig zu leben.


    "Ich verstehe.", äußerte sich Dives folglich. "Und ich werde gewiss zu gegebenem Zeitpunkt nochmals darauf zurückkommen.", deutete er andererseits allerdings auch an, dass ihm vielleicht der Grundgedanke als Erklärungsbasis durchaus gefallen mochte, er mit dem daraus gezogenen Schluss hingegen noch das eine oder andere Problem hatte. Denn so auch die Götter zerfielen, beeinflusste dann nicht zumindest ebendieser Zerfall auch das irdische Leben? Und machte überhaupt das Opfern und die irdische Verehrung der unsterblichen Götter auch nur dann wirklich Sinn, wenn die Götter das irdische Leben irgendwie beeinflussen konnten? Überdies, so kam ihm dabei der Gedanke, müsste bei einer göttlichen Beeinflussung des irdischen Lebens wohl auch umgekehrt eine irdische Beeinflussung der göttlichen Existenz möglich sein, oder? 'Heilten' die Unsterblichen womöglich gar ihren Zerfall durch jene Atome, welche die Menschen mit ihren verbrennenden Opfern hinauf in die göttlichen Sphären schickten? - Fragen über Fragen, die sich beim Iulier in diesem Zusammenhang nun sammelten und auf den Zeitpunkt warteten, da der Praetonius im Rahmen seiner Ausführungen zur Ethik noch einmal diese Thematik anschneiden würde...

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  • Lucius Praetonius Chairedemos

    http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg "Erinnere mich gerne daran, Iulius."
    bemerkte Chairedemos und legte dann kurz die Hände an seine Schläfen um sich zu besinnen. Die Ethik war ein weites Feld, sodass es ordentlich aufgebaut werden musste.
    "Lasst uns also nun noch einmal den Faden der Physik aufgreifen. Wie ich bereits sagte, hat die Physik eine konkrete Funktion in der Lehre des Epikur, nämlich die Aufhebung irrationaler Ängste - sowohl vor dem Tod, als auch vor den Göttern."
    Er blickte wieder zu Dives.
    "Mit einigen argumentativen Desideraten, aber zumindest mit einem Erklärungsmodell, das die Götter nicht benötigt. Trotz der Zufälligkeit des Menschen bleibt jedoch die Frage, wie wir uns in diesem zufälligen und endlichen Leben verhalten sollen. Die Antwort auf diese Frage bietet die Ethik, der Kern der Lehre des großen Epikur.
    Um uns diesem Feld zu nähern, wollen wir zuerst fragen, woran sich unser Handeln bisher orientiert - sofern wir nicht bereits den Lehren Epikurs folgen, selbstverständlich."

    Nachdenklich legte der Praetonier die Stirn in Falten.
    "Denkt einmal nach. Was tut ihr jeden Tag und warum tut ihr es? Was sind die Grundlagen eurer Entscheidungen, dieses oder jenes zu tun? Was sind die Prinzipien, von denen ihr ausgeht?"
    Wieder gab es Raum zum Nachdenken, sodass sich jeder äußern konnte. Immerhin wollte der Lehrer noch einmal versuchen, die Schüler ein wenig stärker einzubinden - wo war das sinnvoller als beim Block der Ethik, bei der man von der alltäglichen Erfahrung ausgehen konnte, sodass im Grunde jeder etwas sagen konnte?
    "Die, die es wagen wollen, dürfen auch eine Vermutung anstellen, was Epikur zu den Maximen ihres Handelns sagen würde."
    Diese Fragestellung hatte auch den Vorteil, dass er prüfen konnte, ob der bisherige Stoff etwas angekommen war - das ganze war bisher ja relativ abstrakt gewesen und bekam erst durch die Ethik ihre praktische Konkretion.

  • Der Iulier erhob ein wenig irritiert die Augenbrauen, als der Praetonius ausgerechnet ihn anschaute bei seiner Rede von den irrationalen Ängsten vor den Göttern. Denn selbst wenn er sich danach erkundigt hatte, in welcher Art und Weise die Unsterblichen in das vom Praetonier gezeichnete Bild passen wollten, so sah er sich deshalb noch lange nicht als jemand, der Angst - und noch dazu irrationale Angst - hatte vor den Göttern. Indes betrachtete er es doch vielmehr als einen gewissen Respekt, welcher den Unsterblichen allein schon aufgrund der Sitten und Traditionen seiner Ahnen schlicht ohne Wenn und Aber entgegenzubringen war.


    Genau jene Sitten und Traditionen im Folgenden kamen Dives sodann als erstes in den Sinn, als der Praetonius die Runde fragte nach den Grundlagen für getroffene Entscheidungen. Denn was tat der Iulier an jedem Tag? Zu Beginn eines jeden Tages wachte er an der Seite einer Frau auf, die er weder liebte noch überhaupt großartig leiden konnte, indes letztlich auch nur geheiratet hatte, um auf diese Weise vor der Welt zu verbergen, was die Welt über ihn nicht wissen durfte. Er hatte sie zur Frau genommen, weil sie ihn genau damit erpresst hatte - und weil er wusste, dass er als dereinst noch lediglich Anwärter auf die Senatorenwürde eh nicht daran vorbei kam, früher oder später einmal eine Frau zu ehelichen. Und nun legte er sich Abend für Abend in das gleiche Bett wie seine Gattin - die übrigen Bewohner der Domus Iulia, und insbesondere sein Cousin Centho, sollten ja nichts merken - und betete und hoffte stets nur, dass alsbald wieder der Morgen erwachte.


    "Nun", setzte der Iulier an, der diese intime Geschichte selbstredend nicht hier und heute und vor all diesen Menschen zum besten geben würde, "gewiss nicht täglich, aber letztlich doch überaus regelmäßig verlasse ich das Haus, die Curia Iulia aufzusuchen, um ebendort nach bestem Wissen und Gewissen zum Wohle Romas zu wirken.", erklärte er. "Dabei ist es die Tradition, die mich antreibt. Es ist der Wille, meinen Ahnen und meiner Familia zu Ehre zu gereichen, der mich anspornt." Kurz überlegte der Quaestorier. "Es ist die Überzeugung, dass zu einem höheren Zweck - und damit meine ich das Wohle Romas genauso wie das Wohl meiner Familia - von einigen Menschen mitunter auch Opfer gebracht werden müssen.", fügte er noch hinzu und nickte einmal bekräftigend.


    "Letztlich nehme ich an, dass Epikur diese Maximen gewiss nicht allzu gut heißen würde, da nicht zuletzt ich mir bereits einige Schmerzen selbst zugefügt habe - und selbst zufügen _musste_, um...", stockte Dives für einen kurzen Augenblick und sah grübelnd in sich hinein. "...um einem höherem Zweck, meiner Familia und Roma, zu dienen.", sprach er leicht abwesend seinen Satz noch zu Ende, während er sich fragte, ob Torquata wohl mitunter noch am Leben wäre, hätte er nie den Karriereweg eingeschlagen, den er eingeschlagen hatte...

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  • Lucius Praetonius Chairedemos

    http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg "Die Maximen deines Handelns sind also die Erhaltung der Traditionen, das Wohl und die Ehre deiner Familie und deines Vaterlandes."
    fasste Chairedemos die Antwort des Iuliers knapp zusammen.
    "Wie du schon sehr treffend erkannt hast, hätte Epikur vermutlich seine Bedenken. Wer kann mir sagen, wo er dazu spricht?"
    Er sah wieder in die erste Reihe der erfahreneren Jünger. Philodemos erbarmte sich schließlich:
    "Die Prinzipien von Iulius sind alles traditionelle Tugenden. Die Vierzig Lehrsätze äußern sich nicht zu allen Tugenden, aber beispielhaft haben wir die Gerechtigkeit:
    Alles, was als gerecht gilt ... darf nur dann den Rang des Gerechten beanspruchen, wenn es nachweislich den Anforderungen des geregelten Umgangs miteinander entspricht, ob es nun für alle Menschen gleich oder nicht gleich ist. Wenn aber jemand ein Gesetz erlässt und es nicht der Regelung des Umgangs miteinander dienlich ist, dann hat es nicht mehr die natürliche Legitimation des Rechts. Und wenn sich der Nutzen, der vom Recht ausgeht, verändert, aber noch eine Zeit lang der ursprünglichen Vorstellung entspricht, dann war es nichtsdestoweniger zu jener Zeit gerecht für alle, die sich nicht durch leere Wort selbst verwirren, sondern einfach die Tatsachen im Auge behalten.
    Ich würde sagen, dass das gleiche für andere Tugenden gilt. Wenn sie nützlich sind, sollte man sie verfolgen. Wenn nicht, sind sie überflüssig. Dazu fällt mir auch der 7. Lehrsatz ein:
    Berühmt und angesehen wollten manche Menschen werden, weil sie meinten, dass sie sich so die Sicherheit vor den Menschen verschaffen könnten. Wenn daher das Leben solcher Menschen sicher war, haben sie das natürliche Gut gewonnen. Wenn es aber nicht sicher war, besaßen sie nicht, wonach sie von Anfang an in Übereinstimmung mit ihrer eigenen Natur strebten.
    Politik ist insofern nur ein Versuch, Sicherheit zu gewinnen, ohne dass man sie tatsächlich gewinnt. Das Wohl der Familie wäre insofern vielleicht auf anderem Weg besser herzustellen. Würde ich sagen.

    Er sah entschuldigend zu Dives, dessen Prinzipien er ja in gewisser Weise beleidigt hatte. Doch der Lehrer nickte zufrieden.
    "Durchaus richtig, durchaus grundsätzlich richtig. Bezüglich der Ahnen haben wir ja bereits gehört, dass sie sich in winzige Elemente aufgelöst haben, denen ihre Ehre oder ihr Ansehen vermutlich reichlich gleichgültig ist. Aber Tugenden sind ebenfalls nur Konventionen, die dann ihre Berechtigung haben, wenn sie Lust oder Sicherheit bereiten. Es ist dann aber immer abzuwägen, ob sie nicht mehr Schmerz generieren als Lust."
    Diese wohl schwer zu verdauende Ansicht ließ der Praetonier erst einmal kurz setzen. Dann fuhr er fort:
    "Speziell zur Familie wäre vielleicht noch zu bemerken, dass Epikur eine andere Form der Gemeinschaft als sehr viel lustbringender einschätzt. Wo steht es?"
    Er blickte wieder in die Runde und Batis meldete sich verschämt.
    "Der 27. Lehrsatz: Vor allem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des ganzen Lebens bereitstellt, ist der Gewinn der Freundschaft das bei weitem Wichtigste."
    Wieder nickte Chairedemos.
    "Die Freundschaft ist für Epikur und für uns der wichtigste Quell der Lust. Anders als bei Familienmitgliedern kann ich mir meine Freunde selbst auswählen und die, die mich dauerhaft enttäuschen, zurücklassen. Im übrigen besitzen sie alle Vorzüge, die auch die Familie bietet: Sie sind mir Gesellschaft, sie unterstützen mich in Notlagen, können mir Rat und Hilfe geben, was immer mich bewegt. Natürlich kann auch ein Familienmitglied mein Freund sein. Epikur warnt uns jedoch davor, uns auf Gedeih und Verderb an die zu ketten, die der Zufall des Schicksals durch das Blut mit uns verbunden hat."
    Er blickte noch einmal in die Runde.
    "Was könnte unser Handeln aber antreiben, wenn es nicht Tugenden und Traditionen sind? Denkt auch an euren Alltag, an die Dinge, die ihr jeden Tag tut."

  • Dives verfolgte aufmerksam die Ausführungen der anderen und versuchte zu verstehen, was jene sagten.
    "Nun, angetrieben werde ich persönlich nicht zuletzt auch durch meine Kinder.", nutzte er am Ende die Frage des Praetonius, um erneut auf die Familie zu sprechen zu kommen. "Und während mir das Argument der sich mitunter aufgelösten Ahnen noch einleuchten mag", obgleich die Denkweisen des Iuliers vermutlich bereits zu eingefahren waren, seine Ansichten in diesem Punkt noch einmal grundlegend zu ändern, "bringt mich der Leitgedanke 'Freundschaft vor Familie' zu einem großen Problem. Denn wo geraten wir letztendlich hin, wenn jeder Bewohner dieser Welt die Freundschaft noch vor die Familie stellt?", wollte Dives an dieser Stelle gewiss nicht anklagen, aber doch zumindest verstehen. "Wenn nicht ich - weil ich mit ihm verwandt bin, sein Vater bin, seine Familie bin - mich um meinen Sohn sorgen würde - ob nun persönlich oder durch das Einstellen von Erziehern oder anderen Leuten, die auf ihn Acht geben, wenn ich nicht da bin - ... wenn ich also nicht all das tun würde aus meinem väterlichen, meinem familiären Pflichtgefühl, wer sollte in seinen jungen Jahren sonst sein Freund sein, ihn beschützen, ihn verpflegen und für ihn sorgen?", wollte er, der er als Vater seiner verstorbenen (Adoptiv-)Tochter hier war, wissen. "Wer sonst sollte sein 'Freund' sein, wenn nicht ich als Vater dieses Opfer von Zeit, Geld und jeder Menge Aufwand auf mich nehmen würde?" Denn eine gänzlich kinderlose Welt, die doch zwangsläufig zum Ende der Menschheit führen musste, konnte ja schließlich auch nicht das Ziel der epikureischen Lehre sein...


    "Ist dies nicht folglich ein Schwachpunkt Epikurs? ...wenn ich selbst zwar freier und nur unter Freunden - unter Gleichgesinnten sozusagen - leben könnte, indes eine reine 'Welt der Freunde' sich dabei immer weiter entvölkerte?", stellte der Iulier letztlich fragend in den Raum und musste in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch daran denken, wie gerade die besten Familien Romas doch seit dem Ende Republik nahezu alle mit dem Aussterben zu kämpfen hatten - und wie bereits die eine oder andere traditionsreiche Familie - darunter exemplarisch die Iulii Caesares - diesen Kampf auch mittlerweile schon verloren hatte.

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  • Zitat

    Original von Lucius Praetonius Chairedemos: Nachdenklich legte der Praetonier die Stirn in Falten. "Denkt einmal nach. Was tut ihr jeden Tag und warum tut ihr es? Was sind die Grundlagen eurer Entscheidungen, dieses oder jenes zu tun? Was sind die Prinzipien, von denen ihr ausgeht?" Wieder gab es Raum zum Nachdenken, sodass sich jeder äußern konnte. Immerhin wollte der Lehrer noch einmal versuchen, die Schüler ein wenig stärker einzubinden - wo war das sinnvoller als beim Block der Ethik, bei der man von der alltäglichen Erfahrung ausgehen konnte, sodass im Grunde jeder etwas sagen konnte? "Die, die es wagen wollen, dürfen auch eine Vermutung anstellen, was Epikur zu den Maximen ihres Handelns sagen würde."


    Die Plinia lauschte interessiert dem Dialog zwischen Chairedemos und dem Iulier. Sie dachte darüber nach wie sie die Prinzipien von Epikurs Ethik im Alltag umsetzte. Und das tat sie, Tag für Tag. Denn die Abwesenheit von Schmerz, also von Unlust, war ja ihr Auftrag als Medica. Sie bemühte sich tagtäglich bei ihren Patienten die Unlust, also den Schmerz, zu veringern und die Lust, also das Wohlbefinden, zu mehren. War es nicht der 3. Lehrsatz gewesen. Chrysogona rekapitulierte: 3. Die Größe der Lust hat ihre Grenze in der Beseitigung allen Schmerzenden. So lange aber Lust empfunden wird, gibt es dort, wo sie empfunden wird, nichts, was weh tut oder traurig macht oder beides zusammen.


    Sie wollte abwarten wie die gelehrte Diskussion zwischen Iulus Dives und Cheiredemos zu Ende ging, dann würde sie sich zu Wort melden.

  • Lucius Praetonius Chairedemos

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    Zitat

    Original von Marcus Iulius Dives
    "Ist dies nicht folglich ein Schwachpunkt Epikurs? ...wenn ich selbst zwar freier und nur unter Freunden - unter Gleichgesinnten sozusagen - leben könnte, indes eine reine 'Welt der Freunde' sich dabei immer weiter entvölkerte?", stellte der Iulier letztlich fragend in den Raum und musste in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch daran denken, wie gerade die besten Familien Romas doch seit dem Ende Republik nahezu alle mit dem Aussterben zu kämpfen hatten - und wie bereits die eine oder andere traditionsreiche Familie - darunter exemplarisch die Iulii Caesares - diesen Kampf auch mittlerweile schon verloren hatte.


    "Nun, eine gute Frage - wobei Epikur wohl die Frage zurückgeben, was denn so schlimm daran wäre, wenn die Welt sich nach und nach entvölkert. Wenn wir die Physik Epikurs bzw. Demokrits ernst nehmen, ist die Fortexistenz der Menschheit weder gut, noch schlecht. Es gilt also unabhängig davon abzuwägen, ob eine Familie mehr Lust oder Schmerz bereitet."
    Er legte den Kopf schief.
    "Ich selbst habe mich schon früh dazu entschieden, mich nicht durch eine Familie aufzuhalten, insofern bleibt mir nur die Anschauung. Was ich dabei aber feststelle, ist, dass Ehepartner und Kinder recht viele Sorgen bereiten. Zumindest ist Epikur der Meinung, dass der Frust die Lust übertrifft."
    Er hob abwägend die Hände und lächelte.
    "Du musst aber letztlich selbst abwägen, wie die Bilanz für dich aussieht. Solltest du dich aber vor der Angst um das Schicksal nicht lösen können, kann ich dich möglicherweise damit beruhigen, dass es recht unwahrscheinlich ist, dass all die geistlosen Menschen dort draußen sich zur Weisheit Epikurs bekehren werden."
    Damit war die Frage hoffentlich beantwortet - womit wieder Raum für seine vorherige Frage war:
    "Aber zurück zu meiner Frage: Was bleibt, wenn wir diese Werte und Zwänge wie die Familie über Bord werfen, die uns bisher belasten?"

  • Chrysogona lauschte den Ausführungen ihres Lehrers zur Familie. Er hatte sich gegen eine Familie entschieden und sein Vorbild Epikur wohl auch. Die Griechin legte den Kopf schief. Sah sie das genauso? Sie war ohne Ehepartner und ohne Kinder. In wenigen Wochen würde sie 30 Sommer alt werden. Alt für eine Frau ohne Partner - zu alt. Aber wenn Chrysogona ehrlich war, hatte sie das Familienleben bislang auch nicht vermisst. Ihre Mutter war bei der Geburt gestorben, somit war sie auch nicht in einer klassischen Familie aufgewachsen. Die Amme, die sie gesäugt und später als Kinderfrau aufgezogen hatte, war ihr zwar eine wichtige Vertraute gewesen, doch hatte sie schnell ihre Befriedigung in der Medizin und der Beschäftigung mit den Wissenschaften gefunden - ganz wie ihr Vater. Sie würde es also mit Epikur halten und die Lust an den Wissenschaften dem Frust des Familienlebens vorziehen.


    Als von Ilius Dives keine Erwiderung mehr kam, meldete sich Chrysogona zu Wort.
    "Verehrter Paetonius Cheiredemos, ich denke, dass in meinem Lebensalltag einige der Lehrsätze und Prinzipien der Ethik Epikurs zu finden sind. Da ich als Medica dem Wohlbefinden meiner Patienten diene und versuche sie von Schmerzen und somit von "Unlust" zu befreien oder frei zu halten, wäre Epikur wohl zufrieden mit mir. Zumindest was die Ausübung meiner Profession angeht. Ich sehe den 3. Lehrsatz direkt als Maxime meines Handelns: Die Größe der Lust hat ihre Grenze in der Beseitigung allen Schmerzenden. So lange aber Lust empfunden wird, gibt es dort, wo sie empfunden wird, nichts, was weh tut oder traurig macht oder beides zusammen."


    Die Medica lächelte den Lehrer an. "Und auch den 21. Lehrsatz kann ich gut nachvollziehen in meinem Allltag: Wer die Grenzen des Lebens kennt, weiß, wie leicht das zu beschaffen ist, was den schmerzenden Mangel beseitigt und das ganze Leben vollkommen macht. Daher braucht er nichts von dem, was er nicht ohne Kampf bekommen kann. In diesem Lehrsatz vermute ich die Erkenntnis, dass wenn wir uns der Endlichkeit des Lebens und des Gutes der Gesundheit bewusst sind, wir dankbar sein sollten, wenn uns nichts fehlt. Denn Gesundheit kann man nicht "erkämpfen". Haben wir sie, sind wir eigentlich glücklich ohne es zu wissen. Dieses Glück erkennen wir aber oft erst in Anbetracht der Krankheit oder des nahen Todes. Sehe ich diesen Lehrsatz richtig? Dann spielt er eine wichtige Rolle in meinem Leben und ich sollte nicht müde werden ihn meinen Patienten näherzubringen."


    Langsam machte die Lehre des Epikur Sinn für Chrysogona. Sie war noch keine überzeugte Epikuräerin und würde es vermutlich nie gänzlich werden, aber sie konnte die Lehrsätze nun besser verstehen.

  • In der Tat vermochten die Ausführungen des Praetonius beim Iulier für ein wenig mehr Klarheit zu sorgen. Denn hatte er zuvor mitunter noch den einen oder anderen Zweifel daran gehabt, so war er sich spätestens an diesem Punkt nun doch überaus sicher, dass für Epikur tatsächlich einzig und allein nur man selbst im Mittelpunkt stand. Es war eine Lehre des puren Egoismus, in welcher jederzeit austauschbare - und folglich mitunter auch im entscheidenden Moment unzuverlässige - Freunde noch über dem kraftvollen und verlässlichen Konstrukt einer eigenen Familie standen, die in guten wie in schlechten Zeiten und jederzeit einem Fels in der Brandung gleich den Einzelnen schützte vor den Wellen, welche das Leben ihm entgegen warf. Und allein diese desillusionierende Erkenntnis ließ Dives im Folgenden doch etwas enttäuscht zurück.


    "Ich vermag hier nicht mit letzter Gewissheit zu sprechen, doch wäre ich mir nicht so sicher, ob nicht Epikur die Sache vielleicht doch etwas anders sähe. Denn in seinen Lehrsätzen, wie wie soeben noch einmal hörten, geht es nicht um die Lust oder Unlust von anderen - von Angehörigen, Familie oder Patienten - sondern letztlich wohl doch einzig und allein um dich selbst.", äußerte sich der Senator im Anschluss auf die Wortmeldung der Plinierin hin. "Und wie in der Folge also eine Familie Lust und Unlust bereiten kann und bereitet, und wie nun jeder selbst für sich entscheiden muss, was von beidem für ihn ganz persönlich dabei überwiegt, so wird es bei deiner Profession gewiss nicht anders sein, vermute ich. Denn zweifellos vermag die Heilung eines Kranken dir zu Lust verhelfen. Gleichzeitig aber besteht wohl auch häufig das - erhöhte - Risiko, dich im Rahmen deiner Tätigkeit selbst mit irgendeiner Krankheit anzustecken und zu infizieren, womit du dir selbst also vermeidbare Unlust und vermeidbaren Schmerz zufügst.", meinte der Iulier allmählich einen Blick für diese Lehre des Egoismus zu gewinnen - einen Blick zweifellos, der ihm selbst nicht im geringsten gefiel. "So dieses erhöhte Risiko eigenen Schmerzes und eigener Unlust dir also die durch erfolgreiche Behandlungen gewonnene Lust wert ist, mag es dir mit deiner Profession gehen wie mir mit meinem Kindern. Andernfalls jedoch... nunja, wäre Epikur vermutlich nicht ganz so glücklich mit dir.", beendete der Quaestorier sein pessimistisches Statement und lächelte schmal. Denn er intendierte damit nicht, die Plinierin in irgendeiner Form anzugreifen. Er wollte nur - frei nach Epikur - ganz egoistisch seine eigene Desillusionierung mit jemandem teilen, damit es ihm selbst im Anschluss daran vielleicht ein bisschen besser ging. (So zumindest könnte man an dieser Stelle wohl den Eindruck gewinnen.)

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  • Lucius Praetonius Chairedemos

    http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg Der Praetonier hörte den beiden Schülern aufmerksam zu. Die Plinia hatte manches offenbar noch nicht vollständig verstanden, dafür bewies Dives aber, dass seine kritischen Nachfragen ihm nun die rechte Einsicht bescherten. Das musste bestätigt werden:
    "Sehr richtig, Iulius."
    Dann wandte er sich an Chrysogona, die sich - wollte sie Epikurs Wegen folgen - noch manches ablegen musste, was ihr gelehrter Vater ihr vermutlich eingebläut hatte und das Helfen anderer zuerst einmal keinen Wert für sich hatte. Mit versöhnlicher Stimme führte er deshalb noch einmal aus:
    "Es ist sehr gut, wenn deine Profession dich erfüllt und wenn es dir Lust bereitet, anderen zu helfen und ihnen dabei auch Schmerz zu nehmen. Doch sollte die Lust der anderen kein Selbstzweck sein, wie Iulius schon richtig bemerkte.
    Den 21. Lehrsatz hast du aber sehr treffend erklärt: Manches lernt man erst zu schätzen, wenn man es verloren hat oder es zu verlieren droht."

    Sie war nicht ganz auf dem Holzweg - sie musste sich nur noch an den Gedanken gewöhnen, dass es in ihrem Leben zuerst um sie selbst ging. Für manchen mochte das beängstigend sein - für andere war es aber eine echte Befreiung.
    Um aber auch mit dem Stoff etwas vorwärts zu kommen, wiederholte er noch einmal seine Frage:
    "Doch was bleibt ohne Tugenden, wenn ich von den Anforderungen, die andere an mich herantragen, zuerst einmal absehe und nur auf mich höre?"

  • Irritiert sah Chrysogona den Lehrer an. Der Iulier hatte also Recht gehabt, es ging Epikur in keinster Weise um das Glück der Anderen, sondern einzig und allein um seine Lust. Wie egoistisich! Nein, definitiv würde sie keine Epikuräerin werden! Natürlich war ihr das eigene Leben und die eigene Zufriedenheit oder "Lust", wie Epikur es betitelt hätte, wichtig. Aber es war mit ihrem Selbstverständnis und ihrem Berufsethos nicht vereinbar, dass sie Behandlungen und Heilungen aus Eigennutz vornahm. Unvorstellbar! Chrysgogona stemmte entrüstet die Hände in die Seiten. Sie erinnerte sich noch gut an nicht enden wollende Dispute ihres streitbaren Vaters im Museion von Alexandria, der ebenso wie sie, erbost von der egozentlrischen Sichtweise der Epikuräer, seine altruistische Lebensphilosophie verteidigt hatte. Die Medica hatte große Lust, ein Streitgespräch mit dem Philosophielehrer zu beginnen, doch sie besann sich eines Besseren. Sie würde warten, bis es zu einer allgemeinen Diskussion käme.


    Und tatsächlich - nachdem er ihr mit ihrem Verständnis des 21. Lehrsatzes beigepflichtet hatte, kam er zu der Frage, die sich hinter ihrer Verstimmung verbarg. Genau! Wo bleiben wir ohne Tugenden? Wo kämen wir hin, wenn jeder nur an sich selbst denken würde? Chrysogona blieb abwartend stehen und sah den Iulier an. Würde er auch nach den Beweggründen hinter der Etkik des Epikur suchen? So wie sie ihn verstanden hatte, sorgte er sich ebenfalls sehr um Andere, war also ein tugendhafter Mensch, wenn die klassischen Tugenden für Epikur überhaupt zählten. Würde sie in Iulius Dives einen Mitstreiter haben?

  • Lucius Praetonius Chairedemos

    http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg Scheinbar wollte niemand von den neuen Teilnehmern sich erbarmen, auf die Frage zu antworten. Deshalb erbarmte sich schließlich Pythokles:
    "Das, worauf ich Lust habe?"
    Chairedemos nickte zufrieden.
    "Korrekt, meine Begierden! Das mag verwirrend klingen, doch Epikur sagt genau das in seinem 25. Lehrsatz: Wenn du nicht in jeder Situation all dein Handeln auf das Ziel beziehst, das dir die Natur vorgibt, sondern vorher abweichst, indem du Ablehnung und Zustimmung auf etwas anderes beziehst, werden bei dir die Taten nicht den Worten entsprechen.
    Aber natürlich heißt dies nicht, immer einfach das Erstbeste zu tun, wonach mir gerade ist. Um aber zu klären, welchen Begierden wir folgen sollen, bietet Epikur uns eine kleine Hilfe an:
    Zuerst einmal müssen wir uns darüber klar werden, welche Bedeutung einzelne Begierden haben. Dazu nennt Epikur im 29. Lehrsatz drei Kategorien. Weiß jemand noch, welche dies waren? Und hat er oder sie auch gleich eine Idee, was jeweils ein Beispiel für diese Kategorien sein könnte?"

    Wieder wartete der Praetonier auf Meldungen.

  • Auch die Griechin musste feststellen, dass sich niemand zu Wort meldete, dabei fand sie gerade dieses Thema spannend. Denn die Kriterien nach denen die Epikuräer ihre Entscheidungen fällten waren ihr nach wie vor suspekt. Nur die eigenen Bedürfnisse sollten zählen? Sie rekapitulierte den 29. Lehrsatz und meldete sich zu Wort "Nun, ich finde den 29. Lehrsatz äußerst schwammig und würde wirkllich gerne mehr darüber erfahren, welches die Kriterien für meine Entscheidungen sein sollten. Denn nur die Aussage.Die Begierden sind teils natürlich und notwendig, teils natürlich und nicht notwendig, teils weder natürlich noch notwendig, sondern durch leere Meinung begründet. gib mir noch keine Vorstellung davon, was Epikur als natürlich und widernatürlich, was er als notwendig und nicht notwendig betrachtet. Ich persönlich würde die Bedürfnisse nach Schlaf, Nahrung und Wasser als Grundbedürfnisse ansehen."


    Sie sah sich um. "Habt ihr noch weitere Ideen?"
    Chrysogona hoffte auf die Wortmeldung der anderen Teilnehmer.

  • Der Iulier ließ sich zu einem halben Schmunzeln verführen, als die Plinierin offenbar ebenfalls überaus unzufrieden mit der erlangten Erkenntnis entrüstet ihre Hände in die Seiten stemmte. Im selben Augenblick, da er sie so ansah, wurde er allerdings auch auf die Frage gestoßen, weshalb er nicht zuvor in einer ähnlichen Weise reagiert hatte. Warum hatte nicht auch er entrüstet seine Hände in die Seiten gestemmt, als er des puren Egoismus gewahr wurde? Wieso hatte er sich stattdessen nur zurückgelehnt und diese etwas desillusionierende Erkenntnis ohne Gegenwehr einfach so hingenommen? Hatte er sich womöglich unterbewusst bereits längst - und zweifellos überaus resigniert - damit abgefunden, dass es - auch in seinem eigenen, engsten Umfeld - Personen gab, die ohne jedes erkennbare Maß schlicht egoistisch waren?
    Dieser Gedanke wollte dem Senator fast noch weniger schmecken, sodass er etwas verärgert über sich selbst die Augenbrauen zusammenzog und ganz leicht seinen Kopf schüttelte. Erst da bemerkte Dives, dass seine Augen noch immer auf der Plinierin ruhten. Ohne ihren stummen Blick zu registrieren, wandte er sich also von ihr ab. Denn über die Jahre hatte der Iulier zwar ein regelrechtes Gespür für selbst die kleinste Geste und den heimlichsten Blick eines anderen Mannes entwickelt. Was das Bemerken ähnlicher Blicke, Mimiken und Gesten ihm gegenüber von Frauen anging, so war er hier von einer ähnlichen Begabung allerdings viele hundert Meilen entfernt. Beinahe mochte man sagen, hatten sich seine Augen über die Jahre daran gewöhnt, weibliche Reize, die ihn nun einmal nicht reizten, schlicht - und ohne böse Absicht - zu übersehen.


    "Das Begehren nach Nahrung, Wasser und Schlaf scheint mir ebenfalls beides, natürlich und notwendig.", meldete sich Dives erst an späterer Stelle wieder zu Wort. "Darüber hinaus denke ich, dass aber auch sexuelle Begierden natürlich und notwendig sind.", ergänzte er dann und dachte dabei selbstredend unter anderem auch daran, dass selbst gleichgeschlechtliche Begierden ja nicht nur beim Menschen vorkamen, sondern auch in der Tierwelt - gerade Schäfer waren damit sicherlich nicht unvertraut. Was aber nun in der Tierwelt vorkam, kam allgemein in der Natur vor und war folglich also natürlich. Im Gegensatz dazu hatte selbst in zwei Jahrtausenden wahrscheinlich noch niemand ein Tier entdeckt, welches eine Phobie vor gleichgeschlechtlich lebenden und liebenden Artgenossen hatte. Und was also nur in der künstlichen Welt der Menschen existierte, nicht jedoch auch in der natürlich Welt der Tiere, das musste definitionsgemäß wohl widernatürlich sein. - Doch dieser letztere Gedanke gehörte sicherlich kaum hierher.
    "Ein Begehren, der zwar natürlich, aber nicht notwendig ist, wäre wahrscheinlich der Wunsch nach einer Familie. Denn wenn auch viele Tiere in Familienverbänden zusammenleben, dann kann eine eigene Familie", die sich in dieser Lesart wohlbemerkt sehr verschieden definieren ließ, "selbstredend nicht unnatürlich sein. Andererseits aber haben wir über die nicht zwingende Notwendigkeit von Familien bereits gesprochen.", äußerte Dives eine Vermutung für ein weiteres Beispiel. "Und der dritte Teil ist ja eigentlich relativ einfach, weil für Epikur ausnahmslos alles, was nicht natürlich ist, auch nicht notwendig ist. Das heißt die zuvor genannte Tugend gehört zum Beispiel sicherlich dazu. Denn was tugendhaft ist und was nicht, bestimmt einzig der Mensch, nicht die Natur. Also ist die Tugend eindeutig nicht natürlich, sondern menschlich - und nach Epikur daher unnötig.", hoffte Dives auch hier nichts Verkehrtes gesagt zu haben.

    ir-senator.png Iulia2.png

    CIVIS
    DECURIO - OSTIA
    INSTITOR - MARCUS IULIUS LICINUS
    IUS LIBERORUM
    VICARIUS DOMINI FACTIONIS - FACTIO VENETA

    Klient - Marcus Vinicius Hungaricus

  • Der Iulier meldete sich zu Wort. Er nannte das sexuelle Begehren als eines der natürlichen und notwendigen Bedürfnisse. War das tatsächlich so? Chrysogona ging in sich. Schon lange verdrängte sie dieses Bedürfnis. So lange, dass sie es bereits nicht mehr als Bedürfnis wahrnahm. Als sie einst als junge Medica von Alexandria ans Asklepieion von Kos gekommen war, hatte sie es noch verspürt. Sie war einem ihrer Lehrer und Mentoren schwärmerisch zugetan und bewunderte nicht nur sein fachliches Können sondern ertappte sich damals dabei, ihn auch als Mann zu begehren. Nach einer wahrhaft dionysischen Festlichkeit hatte er sich ihr schließlich intim genähert und sie hatten die Nacht miteinander verbracht. Doch bereits am nächsten Morgen hatte er nichts mehr von ihr wissen wollen. Chrysogona jedoch, von der Flamme der Liebe entbrannt, hatte noch jahrelang in sehnsuchtsvoller Zuneigung auf Erhörung durch ihn gewartet. Vergebens. Schließlich verließ er das Asklepieion um eine andere Stelle anzunehmen. Seither hatte die Medica dieses Bedürfnis erfolgreich aus ihrem Katalog der notwendigen Bedürfnisse gestrichen. Sie zweifelte deshalb an der Priorität dieses Bedürfnissess und meldete sich erneut zu Wort als Iulius Dives geendet hatte.
    "Mit Verlaub, Iulius Dives, das Bedürfnis nach Sexualität und natürlich erst recht das Bedürfnis nach einer Familie ist in meinen Augen nicht gleichwertig mit den Bedürfnissen nach Nahrung, Wasser und Schlaf. Denn ohne die Erfüllung dieser drei Gundbedürfnisse, werden wir krank und sterben. Ohne Sexualität lässt es sich jedoch ein ganzes Leben lang aushalten. Das haben bereits viele bewiesen." Sie hätte am liebsten dazugesetzt, dass auch sie es schon lange aushielt ohne fühlbar krank zu sein geschweige denn dem Tode nah, doch verkniff sie sich diese Bemerkung. "Ich gebe zu, dass es ein natürliches Bedürfnis ist, aber deshalb noch lange kein notwendiges, wenn du mich fragst."


    Die Frage nach der Tugend und ob diese ein natürliches und notwendiges Bedürfnis sei, interessierte sie brennend. Zweifelte Epikur tatsächlichkeit die Relevanz dieses Bedürnisses an, welches für die moralische Entscheidungsfähigkeit so essentiell war? Zumindest in den Augen der Plinia. Sie wartete gespannt auf die Antwort des Philosophielehrers.

  • Dives wunderte sich ein wenig über den so entschiedenen Widerspruch der Plinierin. Denn nicht nur, dass die Anhänger des Epikur, wie der Iulier meinte, doch gerade für ihre eher lockere Einstellung zur Sexualität bekannt waren, förderte eine gesunde Sexualität darüber hinaus doch auch aus medizinischer Sicht ein insgesamt gesundes Leben. Das zumindest meinte er, in der Vergangenheit irgendwann einmal gehört zu haben. Insofern machte sexuelle Enthaltsamkeit vielleicht niemanden krank. Doch ohne erkennbaren Grund auf etwas zu verzichten, das einem gesunden Körper und Geist nur förderlich sein konnte, mochte wohl bestimmt auch nicht im Sinne Epikurs sein.


    "Nun zweifellos mag Nahrung, Wasser und Schlaf eine größere Bedeutung zukommen, da sie nicht nur natürlich und notwendig, sondern überdies auch überlebensnotwendig sind.", stimmte er ihr zu. "Jedoch verstehe ich Epikur und seinen Begriff der Notwendigkeit hier nicht so speziell. Denn ich meine doch, dass für ihn weniger das Überleben als viel mehr die Lust im Mittelpunkt steht.", erklärte er dann. "Und hier denke ich, dass auch die Sexualität durchaus notwendig ist, um ein lustvolles Leben zu führen.", kam er also zu seinem Schluss und hoffte, dass jener für alle doch einigermaßen nachvollziehbar war.


    "Denn wer sein Leben nach Epikur lebt, der richtet es wohl darauf aus, wie Pythokles eben sagte, worauf er Lust hat. Und ich glaube, dass Enthaltsamkeit in diesem Sinne wohl stets ein Herd der Unlust ist - unabhängig davon, ob es sich um sexuelle Enthaltsamkeit oder eine andere Form der Enthaltsamkeit handelt, und unabhängig davon, ob man eher freiwillig oder eher unfreiwillig in dieser Enthaltsamkeit lebt.", verriet er am Ende beinahe etwas zu viel über sich und seine eigene Enthaltsamkeit.

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    INSTITOR - MARCUS IULIUS LICINUS
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    Klient - Marcus Vinicius Hungaricus

  • Lucius Praetonius Chairedemos

    http://www.imperiumromanum.net…misc/ava_galerie/cato.jpg Der Praetonier lächelte zufrieden, als endlich eine kleine Diskussion aufkam - darauf hatte er schon die ganze Zeit gehofft, aber die Ethik war wohl am besten dazu geeignet, die Schüler zur Positionsbestimmung zu zwingen. Deshalb war sie ja auch der Kern der epikureischen Philosophie, zu der die Erkenntnistheorie und Physik nur Hilfsmittel darstellten.
    Was der Iulier und die Plinia diskutierten, war aber auch höchst interessant - offensichtlich hatten sie schon eine Vermutung, inwiefern Epikur die Kategorien einordnete...
    "Eine sehr interessante Diskussion, sehr gut!"
    lobte Chairedemos deshalb zuerst einmal, bevor er sich inhaltlich einschaltete:
    "Die Frage, ob Sexualität notwendig ist, hängt wohl von unserem Begriff von Notwendigkeit ab. Halten wir es für notwendig, dass unsere Spezies existiert, dann dürfte sie wohl so beurteilt werden. Gehen wir aber - was der große Epikur ebenfalls tut - von der einzelnen Person aus, müssen wir Plinia wohl Recht geben: Schlaf, Nahrung, etwas zu trinken und vielleicht auch ein gewisses Maß an Sicherheit und natürlich Gesundheit."
    Er lächelte der Ärztin zu.
    "Dass Sexualität aber zumindest eine natürliche Begierde ist, wird wohl niemand bezweifeln. Ob das Bedürfnis nach Familie eine natürliche Begierde ist, wäre wiederum zu diskutieren. Wenn wir die Natur betrachten, gibt es immerhin sehr viele Tiere, die keine Familien bilden - denken wir etwa an vielen Katzen, die allein durch unsere Gassen streunen.
    Etwas allgemeiner gesprochen von einem Bedürfnis nach Gesellschaft ist aber wohl ganz sicher von einer natürlichen Begierde auszugehen. Aristoteles nennt den Menschen ein "zoon politikon", ein gemeinschaftsbildendes Tier. Auch wenn ich sonst gewisse Zweifel an Aristoteles habe, würde ich diese Meinung wohl teilen.
    Zu den natürlichen, nicht notwendigen Begierden zählt Epikur aber auch die Ausgestaltung der notwendigen Begierden - etwa das Bedürfnis nach einer bestimmten Art von Nahrung, nach einer bestimmten Menge von Schlaf, nach vollständiger Gesundheit und Unversehrtheit."

    Er seufzte.
    "Der gesamte Rest ist, wie ihr schon treffend erkannt habt, nicht natürlich und nicht notwendig. Epikur schreibt im 30. Lehrsatz: Die natürlichen Begierden, die keine Schmerzen verursachen, wenn sie nicht befriedigt werden, obwohl das angespannte Bemühen um Befriedigung erhalten bleibt, entstehen aus einer leeren Meinung; und wenn sie nicht beseitigt werden können, dann liegt es nicht an ihrer eigenen Natur, sondern an der Neigung des Menschen zu leeren Meinungen.
    Hier erkennen wir auch bereits einen Übergang von den natürlichen, nicht notwendigen zu den unnatürlichen Begierden. Denn was glaubt ihr, was uns Epikur angesichts dieser drei Kategorien von Begierden rät? Wie sollen wir wohl jeweils mit ihnen umgehen?"

    Hier kamen sie nun endlich zur zentralen Frage, die die Schüler selbst erarbeiten sollten - denn so lernte man am besten!

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