Cubiculum - Caius Iunius Agricola

  • ~ Hier befindet sich das Cubiculum des Caius Iunius Agricola ~


    Den eben erst in der Domus Iunia angekommenen Agricola führte man ins Balneum, während sich Agnodice darum kümmerte, ein freies Cubiculum auf Vordermann zu bringen. Sie brachte frische Decken, schüttelte die Polster aus, wischte den Staub von allen Oberflächen, rückte die Stühle perfekt an den Tisch, oder anders ausgedrückt, werkelte so lange an dem Zimmer, bis es auch für den Hausherren selbst sauber und gemütlich genug gewesen wäre.
    Noch fanden sich nur zwei Stühle, ein kleiner Tisch, ein Bett, eine Truhe - allesamt aus edlem Holz und schön gearbeitet - und ein Teppich in dem Zimmer, den die Sklavin gerade noch zurecht schob, wenn aber der junge Herr so lange bleiben würde, wie sie den Eindruck hatte, nachdem sie kurz mit ihrer Kollegin gesprochen hatte, würde er sein Cubiculum sicherlich selbst nach seinem Geschmack nachrüsten.

  • „Wie? Schon da?“, grinste Agricola die Serva an, als sie ihn zu seinem neuen Gemach geführt hatte. Der Weg vom Balneum bis zu den Cubicula war erheblich länger gewesen als man es der Gebäude von der Straße aus ansehen konnte. Quer durch’s Haus, breite Stufen hinauf, einen langen Korridor entlang und dann noch einmal um die Ecke. Obwohl er während der Wanderung nur selten den Blick vom Hinterteil der Sklavin hatte losreißen können, war ihm nicht entgangen, dass die Domus Iunia tatsächlich über ein Peristylum mit Garten verfügte. Größe und Zustand des Hortus hatte er bei seinem flüchtigen Blick in das Dämmerlicht vor den Fenstern nicht abschätzen können, aber allein die Ahnung einiger Sträucher und Büsche erfüllte ihn mit Freude. Der unverstellte Blick auf Hügel, Wälder und Weingärten fehlte ihm schon jetzt, vielleicht konnte ihm ein schöner Garten diesen Verlust etwas leichter machen.


    Die Serva bat ihn, einzutreten, entzündete rasch die Lucerna auf dem Tisch, wünschte ihm anschließend eine angenehme Nacht und ließ ihn dann allein. Schon wieder. Angenehme Nacht, hallte es in Agricola nach, während er unschlüssig mitten im Zimmer stand, das Bündel über der einen Schulter, den Mantel über der anderen. Angenehme Nacht? Bäume hätte ausreißen können! Bestien niederringen! In die geheimnisvollen Gefilde weiblichen Fleisches vordringen! Aber nein, nichts dergleichen würde an diesem Tag noch geschehen. Die Sklavin hätte wenigstens so viel Anstand zeigen können, ihm zu sagen, wo sie zu finden war, wenn er ihrer bedurfte. Mit einem tiefen Seufzer ließ er seinen Mantel auf das Bett fallen und ging daran, seine wenigen Habseligkeiten vom Bündel in die Truhe zu packen.


    Als der Reisesack leergeräumt war, knautschte Agricola ihn zu einem dicken Oval zusammen, nahm die schwarze Perücke aus der Truhe, zog sie behutsam über das Leinenknäuel, ging zu einem Stuhl hinüber und klemmte das untere Ende des Sackes zwischen Wand und Stuhllehne. Nach ein paar korrigierenden Fummeleien war er für’s erste mit dem Ergebnis zufrieden, griff sich als nächstes die dunkle Palla und drapierte sie locker fallend um die Lehne. Schließlich stellte er noch die blauen Sandalen vor dem Stuhl auf den Boden, und benetzte, als alles zu seiner Zufriedenheit zurecht gezupft war, die Palla mit einem Tröpfchen Rosenwasser aus der irdenen Phiole. Dann setzte er sich auf den anderen Stuhl und wartete. Es dauerte etwas, bis sich der feine Duft gegen den öligen Geruch der Lucerna durchgesetzt hatte. Agricola saß regungslos da und schnupperte. Endlich drang ihm der erste sanfte Hauch des vertrauten Aromas in die Nase und von dort direkt in die bebende Brust. „Du siehst es ja selbst, ich bin in Roma.“, begann er mit belegter Stimme.

  • Agricola schlug die Augen auf und blinzelte auf die fahl schimmernde Holzmaserung einer polierten Tischplatte. Ihm war kalt. Sein Nacken schmerzte. Die Zunge klebte ihm am Gaumen wie angeleimt. Ansonsten aber fühlte er sich gar nicht schlecht. Das änderte sich, als er sich dazu durchringen konnte, den Kopf zu heben. Direkt vor seiner Nase erblickte er die zuckende Flamme einer Lucerna. Auf der anderen Seite des Tisches zeichnete sich ein mit Leinenstoff, Perücke und Palla geschmückter Stuhl ab. Ein nackter toter Stuhl. Seine Mutter war fort, hatte sich davongestohlen, während er schlief. Ohne seine Erzählungen zu kommentieren. Ohne auch nur eine seiner Fragen zu beantworten. Die Erinnerungen kamen wieder angekrochen, und mit ihnen der reißende Wolf, der ihm seit Tagen allmorgendlich in die Eingeweide fuhr, um ihn wach zu quälen. Nur der Schmerz war der alte, alles andere war neu. Der Raum, die Möbel, die Stille, alles neu. Alles fremd. Selbst in den Geruch von Lampenöl und Rosenwasser, der ihm eigentlich hätte vertraut sein müssen, hatte sich ein fremdartiger Brodem gemischt.
    Mit klappernden Zähnen erhob er sich, tapste zum unberührten Bett hinüber und schlang sich seinen achtlos hingeworfenen Mantel um. Es war nicht gut, sich um diese Zeit aus dem Schlaf locken zu lassen. Die schwarze Stunde zwischen Nacht und Morgen gehörte Manes und Lemures. Den Menschen war sie ein Sumpf voller Irrlichter, die den Geist narrten, ihm Pfade beleuchteten, wo es keine gab, und ihn mit Wahrheiten entsetzten, die nicht zu ertragen waren. Seine Mutter hatte diese Stunde geliebt. Vielleicht weil sie in den letzten Jahren ihres Lebens selbst fast schon zum Geist geworden war. Agricola aber graute davor, umschlichen von den Toten auf das erste Morgenlicht warten zu müssen.


    Dass die Flamme der Lucerna plötzlich zu flackern begann, hatte nichts zu bedeuten, soviel war ihm klar. Ein kalter Luftzug war durch die Ritze unter der Tür in den Raum gedrungen, sonst nichts. Auch das scheinbar zum Leben erwachte Wandgemälde an der Stirnseite des Bettes war natürlich nichts weiter als Farbe und Putz, dessen feine Unebenheiten durch das zuckende Licht plastischer wirkten als sie in Wirklichkeit waren. Und was er als leises eindringliches Flüstern wahrnahm, konnte im Grunde nur der Nachtwind sein, der sich draußen an irgendwelchen Bäumen oder Sträuchern brach. Es ließ sich alles erklären. Und doch flackerte die Kerze, dennoch wanderten die Schatten über die Züge des jungen Paares an der Wand, nichtsdestotrotz wisperte eine dünne Stimme leise auf ihn ein. Agricola wickelte sich in den Mantel, legte sich fröstelnd auf’s Bett und lauschte.
    Je öfter er das anfangs fast tonlose Flüstern zu vernehmen glaubte, desto lauter und fordernder wurde es. Irgendwann begannen sich die Laute klar und deutlich in seinem Kopf zu wiederholen. Als er die Worte erst verstanden hatte, erschloss sich ihm auch ihr Sinn. Mortuos verere. Honoretis mortuos et eorum memineritis. Immer wieder die selben mahnenden Sätze. „Das werde ich.“, murmelte er schließlich in die dicke Mantelwolle. „Ich weiß. Ich hab’s ja verstanden.“ Und ob er verstanden hatte. Säumnis musste er sich eingestehen, und Missachtung. Wenn er wirklich hier leben wollte, und das wollte er, gab es etwas nachzuholen. So bald wie möglich. Diese Einsicht schien dem wispernden Nachtwind zu genügen. Mit einem letzten sanften Säuseln löschte er die Flamme der Öllampe und verstummte. Agricola rann der kalte Schweiß von der Stirn. Eine Weile lauschte er noch in die Stille. Dann übermannte ihn der Schlaf.

  • Seit sein Neffe am Vortag in die Domus eingezogen war, hatte der Junge in regelmäßigen Abständen seine Gedanken gekreuzt. Weniges hätte Avianus wohl so sehr überrascht, wie das plötzliche Wiederauftauchen Agricolas und im Grunde war er immer noch nicht sicher, wie er damit umgehen sollte, dass der ehemals verloren geglaubte Iunius jetzt im selben Haus wohnte. Von jetzt an war er zuständig für den Jungen, so dachte er, und natürlich würde er tun, was er konnte, damit es seinem Neffen nichts fehlte. Doch so nah er mit ihm auch verwandt war, der Sohn seines eigenen Bruders war Avianus im Grunde ein Fremder. Innerhalb eines Tages hatte er sich inzwischen mehr mit seinem Neffen beschäftigt, als vermutlich in all den Jahren zuvor, in denen Agricola entweder ein schreiender Säugling oder irgendein Kind irgendwo in Cales gewesen war, und dennoch war er sich nicht einmal sicher, wie alt er war, wusste nicht, was er gerne machte, ob er Rom zum ersten mal sah oder ob er sich in der Domus überhaupt wohl fühlte.
    Dass sich vom Nichtstun nichts ändern würde, soviel war auch Avianus klar, sodass er sich fest vornahm, in nächster Zeit einen Teil seiner Freizeit für den Neffen zu opfern, obwohl er das Gefühl hatte, dass seine Zeit nicht einmal für die restlichen Dinge reichte, die ihm wichtig waren. So wie heute, als er nach Feierabend an der Tür des Cubiculums klopfte, welches nun Agricola gehörte, und auf eine Antwort von der anderen Seite wartete.

  • Je mehr Zeilen er in das Wachs kritzelte, desto wirrer wurden die Sätze. Kaum war eines der kleinen Täfelchen zur Hälfte vollgeschrieben, blickte er selbst nicht mehr durch. Es hatte keinen Sinn. Zu viele Eindrücke. Zu wenig Platz. Agricola legte seufzend Codex und Stylus beiseite. So ging das nicht. Gewiss, er hatte seinen Vettern einen Brief versprochen, sobald er bei den Iunii angekommen war, aber was er da notiert hatte, konnte er so nicht auf teuren Papyrus übertragen. Außerdem hätten Manius und Appius sicher nicht allzu viel damit anfangen können, war es doch nicht viel mehr als eine verworrene Beschreibung eines recht absonderlichen Tages, in dessen Verlauf er zwar das verwinkelte Gebäude erkundet hatte, nicht aber seine Bewohner. Was also hätte er schreiben sollen? Dass er den ersten Morgen in seinem neuen Heim zu einem Gutteil verschlafen hatte? Dass man ihm das verpasste Ientaculum in seinem Zimmer angerichtet hatte, während er noch in tiefsten Schlaf versunken war? Die beiden Iturier hätte das sicher amüsiert, ihm war es einfach nur peinlich. Verdammt. Sein Onkel musste ihn für einen verschnarchten Müßiggänger halten, einen nichtsnutzigen Tagedieb. Nein, so ging’s wirklich nicht.


    Er wollte sich auch nicht unbedingt darüber auslassen, dass er die weiteren Stunden des Tages gleich einem Geist durch die Domus geschlichen war, tunlichst darum bemüht, von niemanden entdeckt zu werden. Das war natürlich albern gewesen. Ein Rückfall in kindliche Abenteuerlust. Unwürdig eines iunischen Jünglings, der in absehbarer Zeit die Toga Virilis anlegen würde. Gleichwohl hatte es ihm ein diebisches Vergnügen bereitet. Nun wusste er zumindest schon mal, wo sich Culina, Cella und Latrina befanden, die Unterkünfte der Bediensteten und die Bibliothek. Sowohl aus dem Atrium als auch aus Tablinum und Peristylum hatte er Gesprächsfetzen vernommen und sich deshalb von diesen Örtlichkeiten fern gehalten. Den Stimmen nach zu urteilen gab es eine ganze Menge an Bewohnern in der Domus. Frauenstimmen, Männerstimmen, sogar Kinderstimmen hatte er wahrgenommen. Sollte er das vielleicht schreiben? Hier gibt es viele Stimmen, ergo auch viele Iunier? Schwachsinn.


    Mittlerweile war es Abend geworden, und genau genommen wusste er noch immer nichts. Weder über seine Gens noch über deren Alltag. Aber er hatte es nunmal versprochen. Gerade als er wieder zu den Schreibutensilien greifen wollte, klopfte es an der Tür. Ausgesprochen dankbar für die willkommene Störung sprang Agricola vom Stuhl hoch und zog sich die Tunika in Form. Wenn das mal nicht die dralle Serva war. Balsam für seine Augen. Zunder für seine Lenden. Gekommen, um zu fragen, ob sie ihm in irgendeiner Weise zu Diensten sein konnte. Gewappnet mit einem leichten hintergründigen Lächeln, das er für männlich markant hielt, huschte er zur Tür hinüber und riss sie in einer beeindruckenden Demonstration jugendlicher Spannkraft auf. „Immer herein, oh beflissenes Wesen.“


    Es war aber nicht die Sklavin, die da vor der Tür stand, sondern Tribunus Iunius Avianus. Ohne es zu wollen, stieß Agricola sein verhasstes quietschendes Lachen aus. „Onkel! Wie schön!“ kehlte er brüchig. „Komm doch herein.“ Was war das nun wieder für ein Blödsinn! Er konnte doch nicht den Dominus in eines seiner eigenen Gemächer bitten. Nun gut, ihn an der Schwelle stehen zu lassen, ging selbstverständlich auch nicht. „Ich habe mir gerade ein paar Notizen gemacht ..“ erklärte Agricola hektisch lächelnd, während er einen Stuhl für Avianus zurecht rückte. „ .. für einen Brief an meine Vetter in Cales .. bitte, Onkel Avianus, setz dich doch.“

  • Avianus mochte mehr oder weniger der Hausherr sein als derzeit ältester Mann und einziger Eques in der Domus, trotzdem wartete er natürlich höflich vor der Zimmertür. Wer wusste schon, wobei er den Jungen sonst unterbrach. Es dauerte auch nur ein paar Sekunden bis die Tür aufschwang und er von einem überraschend vergnügten Agricola begrüßt wurde. Da musste er natürlich wieder grinsen, als sich die Stimme seines Neffen überschlug, und trat ein, sobald ihm Platz gemacht wurde.
    "Beflissenes Wesen?", wiederholte er leicht verwundert, nach wie vor lächelnd und würde die merkwürdige Anrede ansonsten wohl einfach unkommentiert lassen. "Salve, Agricola." Oder besser Caius? Keine Ahnung. Später dann vielleicht. Er hätte nur zu gerne einen flüchtigen Blick in besagte Notizen geworfen, die vermutlich in dem verschlossenen Codex auf dem Tisch zu finden waren. Vermutlich war es sowieso besser, nicht in den privaten Sachen eines pubertären Jungen herumzuschnüffeln. Hätte ihm in dem Alter auch nicht gefallen. "Schön, dass du Kontakt zu ihnen halten willst", kommentierte er knapp. Avianus mochte nicht übermäßig viele gute Erfahrungen mit den Ituriern gemacht haben, doch auf den alten Streitereien herumzureiten, an denen Getas Söhne gar nicht beteiligt waren, half auch keinem weiter. Solange Agricola wusste, welches Blut in seinen Adern floss, konnte er Kontakt zu seinen Vettern pflegen wie er wollte.
    "Ich dachte, ich schau vorbei, um mich zu erkundigen, wie es dir geht. Hast du dich schon etwas eingerichtet? Fehlt dir etwas?", fragte er und bekam von seinen eigenen Fragen schon während er sie aussprach einen unangenehmen Geschmack im Mund. Agricolas Mutter war erst seit kurzem tot, der Ort an dem er sein bisheriges Leben verbracht hatte ebenso in der Ferne wie seine Freunde, und der Onkel fragte, ob etwas fehlte. Bravo, Avianus. Etwas genervt von seiner eigenen Einfältigkeit nahm er endlich das Angebot an, sich auf einen der Stühle zu setzen.
    "Ich meine, gibt es etwas das du noch brauchen könntest …?", wollte er seine vorherige Frage ausbessern. Ach, was solls. Anstatt sich weiter in irgendwelchen Formulierungen zu verrennen, sah er sich im Zimmer um und stellte fest, dass die Sklaven wie immer innerhalb kürzester Zeit ein ganz passables Cubiculum aus dem Ärmel geschüttelt hatten. Ja klar, eingerichtet war es vorher schon gewesen, aber er erinnerte sich noch gut genug daran, wie er in seiner alten Unterkunft als Miles eine gefühlte Ewigkeit gefegt und dennoch wieder irgendwo unter dem ausgefransten Teppich oder einem Möbelstück Staub oder Sand gefunden hatte. Hier es war sauber und gepflegt, sein Neffe hatte alles, was er brauchte, wenn auch von eingerichtet sein noch nicht wirklich die Rede sein konnte. Aber wie auch, nach gerade mal einem Tag und bei den paar Sachen, die sein Neffe aus Cales mitgebracht hatte. Da stellte sich die Frage, ob Agricola mit den wenigen Habseligkeiten eigentlich alles hatte, was er brauchte. Kleider? Zusätzliche Möbel? Bücher? Irgendwelchen Kleinkram? Dafür würden von jetzt an selbstverständlich er und die restlichen Iunii aufkommen. Aber eines nach dem anderen.

  • Der Onkel trat ein. Der Neffe staunte nicht schlecht. Jetzt, da ihm Avianus direkt gegenüber stand, fiel Agricola erst so richtig auf, was für ein imposanter Bursche das war. Schon hinter seinem Schreibtisch im Officium hatte der Tribun groß und breitschultrig gewirkt, nun aber, zu voller Größe aufgerichtet, glich er einer gemeißelten Götterstatue. Wie mochte der Iunier wohl in Paraderüstung aussehen? Noch größer zweifellos und noch breiter. Dass dieser sicher schwer beschäftigte Mann vorgab, einfach mal vorbeizuschauen, um zu sehen, ob sein Neffe sich schon eingerichtet hatte, schien diesem fast schon etwas zu viel der Höflichkeit. Gewiss war Avianus auch deshalb hergekommen, in erster Linie aber war er hier, um herauszufinden, mit wem er es überhaupt zu tun hatte. Agricola war vielleicht ab und an etwas linkisch, blöd war er nicht. Und er verstand seinen Onkel voll und ganz. Schließlich hatte der als Dominus die Verantwortung für alles, und musste von daher wissen, wen er unter seinem Dach beherbergte. Sollte er ruhig seine Fragen stellen. Agricola hatte nichts zu verbergen. Abgesehen vielleicht von seinem Innenleben, einer Perücke, einer Palla und solcherlei Sachen. Ob ihm etwas fehle, wollte Avianus anschließend wissen. Agricola wusste mit der Frage zunächst nichts anzufangen. Der letzte, der ihn gefragt hatte, ob ihm etwas fehlt, war ein Medicus aus Neapolis gewesen, den Geta gerufen hatte, um nach der erkrankten Merenda zu sehen. Aber so war Avianus’ Frage sicher nicht gemeint. Agricola dachte kurz nach. Was sollte ihm denn fehlen? Außer seiner Mutter, seinen Freunden, seiner Ziege und seiner gewohnten Umgebung?


    „Danke, das ist sehr .. aufmerksam. Alles in Ordnung.“, entgegnete er etwas zaghaft. „Ein sehr schönes Zimmer ist das. Wirklich. Fast wie zuhause.“ Eine unglückliche Formulierung, wie ihm sofort klar wurde. Das Cubiculum war sogar bedeutend größer als sein Zimmer in Cales. Zudem war das jetzt nun mal sein Zuhause. Fast wie zuhause klang ziemlich undankbar. Zum Glück erwies sich Avianus nicht als spitzfindiger Wortklauber, sondern ging darüber hinweg und setzte sich endlich hin. Agricola tat es ihm erleichtert gleich. So stolz es ihn einerseits machte, einen derart aufrechten und eindrucksvollen Kerl seinen Onkel nennen zu dürfen, so froh war er andererseits, als Avianus saß und ihn nicht mehr um eineinhalb Köpfe überragte. Da würde er noch eine Menge aufholen müssen. In jeder Beziehung. Nach einem Moment betretenen Schweigens konkretisierte der Tribunus seine Frage von vorher. Ob es etwas gab, was er noch brauchen könnte. Agricola atmete auf. Jetzt war endgültig klar, dass Avianus von Sachen sprach. Von Dingen. „Ich wüsste nicht, was.“, murmelte er nachdenklich.


    Nein, an Dingen fehlte es nicht. Dinge hatte er genug. Waschzeug. Schreibzeug. Zeug zum Anziehen. Was er an Dingen in Cales zurückgelassen hatte, ging ihm nicht ab. Sein Spielzeug, seine Schneckenhaussammlung, seine Schnitzfiguren – all das hätte ohnehin nicht mehr hierher gepasst. Dinge waren nicht das Problem. Zumindest nicht im Moment. Das mit der Kleidung würde allerdings noch problematisch werden. Nichts passte ihm länger als ein halbes Jahr, weder Schuhe noch Tunicae. Was seine Calcei betraf, die waren neu und machten es sicher noch eine Weile, im Gegensatz zu seinen bereits ziemlich straff sitzenden Klamotten. Darüber wollte er aber mit seinem Onkel nicht sprechen. Nicht jetzt. Es wäre ihm schlicht peinlich gewesen. In Cales hatte er nie danach gefragt, woher die neuen Kleider kamen. Sie waren einfach bereit gelegt worden. Meistens von Locusta, manchmal auch von seiner Mutter. Hier aber fühlte er sich noch zu sehr als Gast, um sich solche Ansprüche zu erlauben. Ansonsten gab es wenig, was ihm zu Avianus’ Frage einfiel. Alles, was er unbedingt brauchte, hatte er bereits. Offen waren lediglich ein paar Wünsche.


    „Ehrlich, Onkel Avianus .. ich bin bestens versorgt.“, begann er vorsichtig, während er eine angemessene Ruhestellung für seine flatternden Hände suchte. Herrje, was hatte er denn früher mit seinen störenden Gliedmaßen gemacht? „Allerdings .. wenn ich ich vielleicht die eine oder andere Bitte vortragen dürfte.“ Das Händepaar hatte sich darauf verlegt, rhythmisch auf seinen Oberschenkeln herum zu patschen. Agricola blickte seinen Onkel unschlüssig an. Der hatte, wie es schien, keine Einwände. „Ich hab’ heute ein wenig die Domus erkundet, und bin dabei auf die Bibliothek gestoßen. Ich war nicht drin! Keine Sorge. Hab’ nur reingeguckt. Also .. es wäre mir eine große Freude, wenn ich mich da hin und wieder aufhalten dürfte, um zu lesen. Ich nehme auch nichts mit raus, und räum alles wieder an seinen Platz, wenn ich fertig bin. Das wäre wirklich toll, Onkel.“


    Das Gepatsche ging ihm auf die Nerven. Räuspernd verschränkte er die Finger vor dem Bauch. „Tja .. und dann möchte ich gerne ein paar Blumengirlanden besorgen. Für das Grab meines Vaters. Appius, mein Vetter, hat mir vor der Abreise ein paar Sesterzen zugesteckt, die werden sicher reichen. Ich weiß, die Parentalien sind schon vorbei, aber man wird sowas doch bestimmt noch irgendwo bekommen, was meinst du, Onkel?“ Über den verschränkten Fingern sah er plötzlich seine Daumen kreisen. Bei Iuno, diese Hände taugten wirklich nur noch, um sich drauf zu setzen. Genau das tat er dann auch. Mochte sein Onkel ihn eben für einen ungelenken Narren halten. So ganz falsch lag er damit nicht. „Das ist mir sehr wichtig. Ich glaub’ nicht, dass ich mich hier mit gutem Gewissen einleben kann, ohne meinem Vater zuvor die Ehre erweisen zu haben. Ihm und auch den Vorfahren.“

  • Nachdem Avianus es sich auf dem Stuhl so bequem gemacht hatte wie es eben ging, hörte weiter zu und saß dabei sehr viel ruhiger als der wesentlich jüngere Iunius auf der anderen Seite des Tisches. Lag es an ihm, dass der Junge so hibbelig war, oder war das einfach das Alter? Eine Mischung von beidem? Er versuchte einfach, das Herumgezucke zu ignorieren. Zwar blieb er vorerst stumm, ließ sich Agricolas Worte dennoch durch den Kopf gehen. Das Zimmer war schön, da konnte Avianus nur zustimmen, und hoffentlich wäre es irgendwann weder fast wie zu Hause noch ganz wie zu Hause, sondern einfach nur zu Hause, was es ja jetzt eigentlich schon sein sollte. Rein theoretisch eben. Aber wenn soweit alles in Ordnung war und Agricola hatte, was er brauchte, war das vermutlich nur eine Frage der Zeit.
    Was die Bibliothek anging, da musste er ohnehin gar nicht lange nachdenken, wenn sein Neffe allerdings zum ersten Mal das Grabmal der Iunii besuchte und seine Ahnen ehren wollte, wäre vielleicht etwas mehr als nur ein paar Blümchen nicht schlecht. Avianus schenkte seinem Neffen skeptische Blicke und verkniff sich dabei sein Lächeln. Wenn der Junge den Iuniern vor ihm Respekt zollen wollte, sollte er definitiv noch etwas anderes mitbringen. Eine Amphore guten Weines vielleicht, Kuchen oder Kekse. Jedenfalls würden sich die Ahnen bei seinem eigenen Neffen nicht mit einem halbherzigen abgestatteten Besuch zufriedengeben müssen. Der Bursche mochte nicht viel aus Cales mitgebracht haben, aber um alles was fehlte, würden sich jetzt ja die Iunii kümmern, und die Speisekammer war zweifellos voll genug. Und bei den Göttern, endlich saß der Bursche dann mal still. Im Prinzip konnte der ja zappeln, wie er lustig war und Avianus wollte es dem Junge nicht übel nehmen, er musste aber zugeben, es lenkte ein wenig ab, wenn am Rande des Blickfelds ständig irgendetwas herumzuckelte. So konnte er sich endlich ungestört dem Beantworten der Fragen widmen.
    "Nein", sagte er also knapp zum Vorschlag seines Neffen und hatte es bis gerade eben geschafft, seine aufgesetzte nüchterne Miene zu wahren. Ganz langsam bröckelte sie, während er die Reaktion des ohnehin schon nervös wirkenden Agricola beobachtete, und gab schließlich ein leichtes Lächeln preis. Er wollte seinen Neffen ja nur ein wenig auf den Arm nehmen. "Dass du unsere Ahnen ehren willst, freut mich sehr. Und die Blumen sind eine gute Idee, aber du wirst noch Gaben aus der Speisekammer mitnehmen. Etwas Wein und Essen. Wir wollen schließlich, dass alles seine Ordnung hat, wenn du das erste Mal unser Familiengrab besuchst", erklärte er, "Was hältst du davon?" Soviel also dazu. Was die Bücher anging, hätte er ja gedacht, dass es logisch war, dass ein Iunius, der pfleglich mit den Schriften umging, sie in der Bibliothek der Domus Iunia lesen durfte. Erstens war das hier ja sein Zuhause und zweitens bräuchten sie ja sonst wohl kaum eine Bibliothek, denn Agricola war ja längst kein kleines, sabberndes Kind mehr. Ganz im Gegenteil, er war exakt in dem Alter, in dem er sich in der Bibliothek umsehen, lesen und lernen sollte.
    "Und die Bibliothek darfst du selbstverständlich gerne nutzen, solange du mit den Büchern sorgsam umgehst. Wenn du was lernen willst, wird dich hier sicher niemand daran hindern. Wenn du aber was kaputt machst …" Avianus grinste amüsiert. Was dann? Zog er es ihm vom Sold ab? Das hatte damals bei seiner Centuria funktioniert. Nur blöd das Agricola keinen Sold bekam – apropos, wie sah es eigentlich mit Geld aus? Sollte der Junge sein eigenes Taschengeld kriegen? Dann könnte Agricola sich um seinen Kram zudem selber kümmern. Avianus wurde immer mehr bewusst, dass er noch verdammt viel zu lernen hatte, aber das hier war vielleicht eine gute Übung für später, wenn er einmal Kinder im selben Alter hatte. Ja, äh … wo war er eigentlich stehen geblieben?
    "… naja, das werde dann vorerst ich bezahlen müssen", scherzte er und lachte leise. Dass Agricola erst fragte, zeugte für ihn aber schon davon, dass sein Neffe ein anständiger Kerl war und keinen Mist bauen würde – oder zumindest nicht mit Absicht.
    "Falls du sonst mal irgendwelche Fragen hast, bin ich Abends für gewöhnlich hier in der Domus. Aber du kannst dich natürlich jederzeit an die Sklaven oder andere Bewohner wenden. Jedenfalls brauchst du nicht zu warten, bis ich hierher komme", meinte er freundlich. Darüber, dass der Junge ihn beim Abarbeiten seiner Geschäfte unterbrechen würde, machte er sich keine großen Sorgen, das taten auch jetzt schon Kindergeschrei und die ständigen Besuche irgendwelcher Leute. Auf absolute Ruhe bei der Arbeit könnte er lange warten.

  • Nein? Wie, nein? Agricola sank der Mut. Er war zwar nicht unbedingt davon ausgegangen, dass sein Onkel zu all seinen Ansinnen gleich quippe und bene sagen würde, aber mit einem allumfassenden kategorischen Nein hatte er dann doch nicht gerechnet. Also nicht. Keine Bücher. Keine Blumen für Regulus’ Grab. Nun gut, das hatte er zu akzeptieren. Gleichwohl verwirrte es ihn. Das mit der Bibliothek war ja noch einzusehen, in Cales hatten auch nur Hauslehrer und Herrschaft Zugang zu den gesammelten Schriften. Na schön, dann würde er die Tage eben damit verbringen, in seinem Cubiculum herumzulungern und in der Nase zu bohren. Aber was hatte Avianus gegen die Ehrung der Ahnen? Hielt er ihn noch nicht für würdig? Mit einem Gesichtsausdruck, der wohl nicht gerade auf besonders ausgeprägte Intelligenz schließen ließ. glotzte er seinen Onkel an, gewahrte ein leichtes Lächeln auf dessen Lippen, und begann seinerseits zu schmunzeln. Aha, diese gewölbte Soldatenbrust beherbergte einen schlummernden Scherzbold. Gut zu wissen. „Also wirklich .. Onkel.“, kicherte Agricola krächzend, „Mach doch sowas nicht.“


    Sicher, dass ein paar Blumengirlanden ein eher kümmerliches Mitbringsel darstellten, war ihm schon klar, nur überstieg alles Weitere deutlich seine pekuniären Möglichkeiten, und es lag ihm eben eine Menge daran, selbst für seine Gaben aufzukommen. Die Ahnen mit Speisen und Tränken zu ehren, die ihm gar nicht gehörten, erschien ihm irgendwie schäbig. Seine Hände wurden unter dem Druck seines Hinterteils langsam taub. Seufzend zog er sie hervor, schlenkerte kurz verlegen damit herum und hakte dann die Daumen in seinen Gürtel. Diese nervösen Pfoten schienen ebenfalls nicht ihm zu gehören. Wenn er es genau bedachte, gehörten ihm nicht einmal die paar Sesterzen für die Blumen. Andererseits war das Geld keine Leihgabe von Appius, sondern ein Geschenk, und Geschenke gehörtem letztlich dem Beschenkten, oder? Avianus hatte schon recht. Sein Vorschlag, zusätzlich zu den Blumen etwas aus der Speisekammer mitzunehmen, war ein ganz annehmbarer Kompromiss. Außerdem konnte er sich für diese Großzügigkeit ja erkenntlich zeigen. Fragte sich nur, wie. Und damit war er schon bei der nächsten offenen Frage, die ihm im Kopf herum schwirrte. Aber eines nach dem anderen. Zunächst einmal durfte er innerlich jubeln, als Avianus ihm die Erlaubnis erteilte, die Bibliothek zu nutzen. Etwas kaputt machen? Ach was, nie im Leben. Er hatte sich völlig im Griff. Naja, meistens zumindest. Wenn er da an sein Bad im Balneum dachte ... besser, er vergaß das schleunigst. Als Avianus geendet hatte, schnellten Agricolas Arme begeistert zur Seite und rissen die eingehakten Daumen mit sich.


    „Das ist ja wunderbar! Vielen Dank, Onkel Avianus! Nun .. ja, das mit den Lebensmitteln ist viel angemessener, stimmt. Ich meine, zusätzlich zu meinen Blumen selbstverständlich. Da wird man mir aber etwas unter die Arme greifen müssen. Also .. nicht finanziell, versteht sich .. aber ich weiß ja nicht, wo man die kauft, geschweige denn, wie ich zur Grabstätte unserer Familie komme. Rom ist so dermaßen riesig. Für mich zumindest.“ Tja, und dann war da unter anderem noch die Frage, wie er sich in Zukunft all dessen würdig und dafür erkenntlich zeigen konnte. Es war ihm durchaus bewusst, dass das nun ein anderes Leben sein würde als das altgewohnte. Auch wenn dies der Sitz seiner Familie war, konnte er sich hier trotzdem nicht einfach einnisten, ohne sein Teil zu allem beizutragen. Avianus hatte mit ihm eine weitere Verantwortung zu tragen, und Agricola konnte es ihm nur etwas leichter machen, indem er langsam damit anfing, selbst Verantwortung für sich zu übernehmen. Bloß wie?
    „Sag, Onkel .. gibt es denn etwas, das ich für dich und die Familie tun kann? Dir zur Hand gehen vielleicht? Oder .. was weiß ich .. Einkäufe erledigen? Irgendwas? Nur zu Lesen ist zwar auf den ersten Blick eine verlockende Vorstellung, aber allein davon werd ich auch nicht reifer. Klüger gewiss, aber nicht erwachsen. Also .. wenn du verstehst, was ich meine. Ich möchte keine Last sein, oder so.“ So richtig wusste er selbst nicht, wozu er taugte. So Sachen wie das Schrubben der Böden oder das Auftragen der Mahlzeiten kamen natürlich überhaupt nich in Frage. Damit hätte er sich und die Gens mit Schande überhäuft. Möglich, dass er einfach zu ungeduldig war. Immerhin war er gestern erst angekommen und kannte weder alle Räume des Hauses noch alle hier lebenden Familienmitglieder. Nur wollte er von Anfang an dem Eindruck entgegentreten, er sei nur gekommen, um auf der faulen Haut zu liegen und sich bedienen zu lassen.

  • Sein kleiner Scherz zeigte die ersehnte Wirkung, lockerte die Stimmung ein wenig und brachte den werten Neffen sogar zum Kichern. Oh, er würde sich noch sehr viele harmlose Scherze mehr mit Agricola erlauben, da kannte er sich gut genug. Avianus grinste lediglich breit. Sehr schön, dachte er sich auch, als Agricola sich mit seinem Vorschlag einverstanden erklärte, denn alles andere war für ihn mehr oder weniger selbstverständlich. Avianus diente schon fast zehn Jahre bei Roms Stammeinheiten und kannte Roma inzwischen besser als Misenum, seine Heimat, wagte er zu behaupten, und wusste, wie groß das Herz des Reiches wirkte, wenn man es zum ersten Mal sah. Aber dass der Junge nicht allein in der Urbs herumlief, war ihm ohnehin lieber, egal wie gut er sich in ihren Straßen auskannte. Darum, in der Stadt auf sich allein gestellt zu sein, brauchte sich Agricola definitiv nicht zu sorgen.
    "Wegen der Blumen kannst du ja Aesara fragen, wann sie das nächste Mal ihre Einkäufe erledigt. Bestimmt hat sie nichts dagegen, wenn du mitgehst. Und zum Grabmal kann ich dich begleiten, falls du das möchtest", schlug er ohne große Umschweife vor und hätte eigentlich auch keine Gegenleistung verlangt. Dass Agricola nach einer Art Aufgabe suchte und sich seinen Platz in der Familie verdienen wollte, verstand er aber nur zu gut, sodass Avianus nicht einfach abwinken wollte. Irgendetwas gab es eigentlich immer zu tun, das stand fest. Er fragte sich vielmehr, was davon geeignet und machbar für einen Jungen in Agricolas Alter war. "Worin bist du denn gut? Oder was machst du gerne? Wir haben Kaninchen und Hunde. Wenn du gut mit Tieren kannst, kannst du dich vielleicht da einbringen. Außerdem sind vor kurzem auch Iunius Crassus und Iunia Marsa hier angekommen, Zwillinge, ein Stück jünger als du. Sie scheinen ihre Amme ganz schön auf Trab zu halten. Wenn du ein Auge auf sie haben könntest, wäre ich dir dankbar. Oder du könntest mir bei meinen Geschäften helfen." So langsam wurde ihm klar, dass er auf Dauer nicht alles selbst würde erledigen können, wenn er sich jetzt auch noch um ein Haus voller junger Verwandter kümmern wollte. Er könnte sich zwar auch einen Schreibsklaven anschaffen, andererseits war es vielleicht gut, wenn Agricola ein paar Erfahrungen sammelte, die ihn auf sein späteres Leben vorbereiteten. Und um Abrechnungen durchzugehen, Kosten und Einnahmen zu berechnen oder ihm die Briefe auf dem Schreibtisch zu sortieren, war Agricola allemal alt genug. "Den Rest des Tages solltest du mit lernen und körperlicher Ertüchtigung verbringen. Es kann nicht schaden, dich schon jetzt auf eine mögliche Karriere im Exercitus vorzubereiten. In ein paar Jahren möchtest du ja vielleicht die Tradition unserer Familie fortsetzen." Ganz umhin kam er nicht, dem Burschen in regelmäßigen Abständen klar zu machen, welchen Weg er für den richtigen hielt. Andererseits … war es als verantwortungsvoller Patruus nicht sogar seine Aufgabe den vaterlosen Jungen auf einen anständigen Pfad zu lenken?
    In dem Zusammenhang kam ihm noch ein anderer Gedanke. "Ähm ... ja … denn du bist … wie alt?", stellte er dann die ihm so verhasste Frage, die ihn daran erinnerte, wie sehr er als Iunius versagt hatte, wenn es um den eigenen Neffen ging. Ausgerechnet er, der immer davon sprach, wie unfassbar wichtig ihm seine Familie war, der für seine Verwandten beide Hände ins Feuer legen würde, hatte es in den vergangenen Jahren nicht auf die Reihe bekommen, Kontakt zu seinem Neffen aufzunehmen. Das Lächeln war ihm vergangen und deutlich zeigte sich stattdessen in seinen Zügen, wie unangenehm ihm die Situation war.
    "Dreizehn? Vierzehn? Es tut mir leid, Agricola … dass ich nie versucht habe, Kontakt zu dir aufzunehmen, nachdem meine Mutter es aufgegeben hat, meine ich." Dass er es in der Zeit kurz nach dem Tod seines Bruders und während Helia ihren kleinen Krieg mit den Iturii geführt hatte, nicht getan hatte, war vielleicht noch entschuldbar, allerdings nicht, dass er all die Jahre danach versucht hatte, keinen Gedanken mehr an das Geschehene zu verschwenden. Jetzt, da er es endlich losgeworden war, fühlte er sich, musste er zugeben, auch gleich viel wohler in seiner Haut und hoffte, auch endlich eine Reaktion zu seinem Handeln von Seiten des Neffen zu erhalten. Es irritierte ihn, dass Agricola deswegen bisher weder Ablehnung ihm gegenüber gezeigt noch danach gefragt oder es erwähnt hatte. Als wäre es vollkommen logisch, dass sich kein Iunier mehr um ihn geschert hatte.

  • Agricola lauschte Avianus’ Worten mit wachsendem Wohlgefallen. Was sein Onkel da ausführte, hörte sich recht vielversprechend an. Allein schon die Aussicht auf eine kleine Exkursion mit der anmutigen Aersara förderte seine Durchblutung auf’s Angenehmste, und auch das Angebot, ihn zum Familiengrabmal zu begleiten, erfüllte ihn mit Freude. Ein gemeinsamer Besuch würde dem Ganzen einen noch würdigeren Rahmen verleihen und ihm zudem die Möglichkeit bieten, Avianus besser kennenzulernen. Agricola konnte zu alldem nur zustimmend nicken und dabei lächeln. Die Frage, worin er denn gut sei, brachte seine Extremitäten allerdings wieder zum Schlenkern. Schwer zu sagen. Wirklich viel hatte er in seinem kurzen Leben ja noch nicht ausprobiert, aber was er angefangen hatte, war ihm eigentlich immer ganz gut gelungen. Gewiss, über den geschäftlichen Instinkt eins Iturius Geta, der hinter allem und jedem seine persönlichen Vorteile zu erkennen vermochte, verfügte Agricola nicht. Mit Zahlen umzugehen bereitete ihm jedoch keinerlei Probleme. Es lag ihm nur nicht sonderlich viel daran. Dafür besaß er etwas, was seinem Avunculus völlig abging: Empathie. Ein selbstbezogener Ochse wie Geta hätte nicht einmal einer Ziege etwas beibringen können, weil Ziegen sich nicht bestechen lassen und Geta ansonsten keine Mittel kannte, um sich andere Lebewesen gefügig zu machen. Tiere waren da ziemlich konsequent. Wenn man von denen was wollte, musste man nach ihren Regeln spielen oder blieb außen vor.


    Als hätte Avianus die Gedanken seines Neffen erraten, kam er als nächstes auf die iunische Fauna zu sprechen. Kaninchen und Hunde. Kaninchen mochte er. Auch wenn er sie, was das Erlernen von Kunststücken betraf, als eher minder begabt einschätzte. Zumindest im Vergleich zu Ziegen. Hunde dagegen waren Mistviecher, mitunter überraschend talentierte Mistviecher, zugegeben, aber nichtsdestotrotz nur einfältige Mistviecher, die sich dem menschlichen Willen auch ohne viel entgegengebrachte Empathie beugten, wenn man ihnen nur entschlossen genug entgegentrat und eine Steinschleuder mit sich führte. Jedenfalls traf das auf die zähnefletschenden Hofhunde des iturischen Gutes ebenso zu, wie auf die tobenden Bestien der umliegenden Gehöfte. Mit den Haustölen würde er schon fertig werden. Seine Steinschleuder hatte er zwar in Cales zurückgelassen, aber ein starker Lederriemen tat es sicher auch. Wieder nickte er gut gelaunt. Alles kein Problem. Sein Lächeln wurde erst etwas krampfhaft, als Avianus die Zwillinge erwähnte. Ein Stück jünger als er? Auweia. „Kinder?“, fragte er tonlos, erntete aber keinen Kommentar. Natürlich Kinder, was sonst? Und er hatte schon gehofft, das hinter sich zu haben. Nun gut, wenn seinem Onkel so viel daran lag, würde er sich zur Not auch um Kinder kümmern. Im Zweifelsfall konnte er ihnen ja eine ähnlich rigorose Behandlung angedeihen lassen wie den Kötern. Der Gedanke, Avianus bei dessen Geschäften zu helfen, schmeckte ihm schon erheblich besser, und sich geistig wie körperlich weiterzuentwickeln war dann vollends ganz nach seinem Geschmack. Das waren wirklich genügend Aufgaben, um ihn von Trauer und Grübelei abzulenken, und es waren dazu noch sinnvolle Aufgaben. Sogar das mit den Kindern.


    Was für ein angenehmes und konstruktives Gespräch hätte das werden können, wäre Avianus nicht plötzlich doch noch in die Vergangenheit abgeglitten. Dass er Agricola’s Alter nicht genau kannte, war ihm nicht einmal übel zu nehmen, Agricola kannte das Alter seines Onkels schließlich auch nicht. Aber davon, dass es ihm leid tat, sich nicht um seinen Neffen gekümmert zu haben, wollte dieser nichts hören. Nicht etwa, dass er Avianus sein spätes Bedauern nicht abgenommen hätte, das tat er durchaus, nur nützte es niemandem mehr. Im Gegenteil. Es rührte an Dingen, die er spätestens seit der vergangenen Nacht in die stillen Abgründe des Vergessens entlassen hatte. Entweder, er blickte nach vorn, oder zurück, beides gleichzeitig zu tun, bekam ihm nicht. Natürlich wäre es schön gewesen, zu wissen, dass es neben seinem egoistischen Vater auch noch einen Iunier gab, der zu seinen Angehörigen stand. Aber die Gelegenheit, ihm das zu vermitteln, hatte sein Patruus nunmal verpasst, und wenn ihm das nun leid tat, war das allein seine Sache. Agricola konnte ihm sein schlechtes Gewissen nicht erleichtern, und er wollte es auch nicht. Obgleich er bereits begonnen hatte, seinen Onkel zu schätzen. Trotzdem, vorbei war vorbei. Er war auch ohne die Iunii ganz passabel zurecht gekommen. Bisher.


    „Vierzehn.“, entgegnete er kühl. „Fünfzehn im August.“ Sein Gezappel hatte aufgehört, war dieser angespannten starren Körperhaltung gewichen, mit der sich alles leichter ertragen ließ. „Verstehe. Es tut dir leid.“, fuhr er mit mühsam aufrecht erhaltener Beherrschung fort, „Schon seltsam. Immer tut’s den Falschen leid. Meinen Vettern tut es leid, dass ihr Vater sich wie ein Arschloch benommen hat. Meiner Amme hat es leid getan, dass sie mir meine geistig abwesende Mutter nicht ersetzten konnte. Dir tut es leid, dass ich mich von den Iuniern völlig vergessen gefühlt hab’. Schön. Bloß .. nicht dir, sondern meinem Vater hätte es leid tun müssen! Hat es aber ganz offenbar nicht .. oder? Wenn er schon selbst keinen Gedanken mehr an seinen Nachkommen verschwendet hat, wieso sollte sich dann irgendein anderer Iunius um mich scheren? Ich hab’ gar nichts anderes erwartet. Ich bin auch nicht hier, weil ich so schreckliche Sehnsucht nach der Familie meines Vaters verspürt hab’, sondern weil das der einzige Ort ist, wo ich überhaupt noch hin kann, und ich war mir nichtmal sicher, ob ihr mich nicht wieder fortschickt! So oder so, jetzt bin ich nunmal hier, und bis gerade eben war ich auch ganz froh drüber, hier zu sein. Ich will mich ja nützlich machen .. ich will ja lernen und sowas alles. Ich lass mich auch gern’ davon überzeugen, dass die Iunii nicht so sind, wie man sie mir immer geschildert hat, aber im Moment bist du noch der einzige Iunius, den ich kenne. Das sagt noch nicht wirklich viel über die Gens meines Vaters aus, findest du nicht auch? Onkel Avianus? Und könnten wir die Vergangenheit vielleicht endlich mal ruhen lassen? Bitte? Mein Vater ist tot. Meine Mutter ist tot. Die werden auch nicht wieder lebendig, bloß weil’s mir leid tut!“ Irgendwann, zwischen dem vierten und fünften Satz vermutlich, war ihm die Beherrschung dann doch noch abhanden gekommen. Er bedauerte das. Wirklich leid indes tat es ihm nicht. Immer tat allen alles leid. Das ganze Leitgetue führte doch zu nichts. Verflucht! Gut, er war ein bisschen zu weit gegangen, das konnte er sich eingestehen. Avianus hatte ihn hier aufgenommen und sich auch bereits Gedanken um seine Zukunft gemacht. Ihm Vorhaltungen zu machen, wenn auch nur indirekt, gehörte sich nicht und war außerdem ungerecht. So konnte er das nicht stehen lassen. „Weißt du, Onkel..", versuchte er es noch einmal in ruhigem bedächtigen Tonfall. „Bis heute haben mir immer andere gesagt, was ich für richtig oder für falsch zu halten hab’. Das kann einen auf Dauer ganz schön irre machen im Kopf. Entweder stimmt Onkel Geta’s Version von den Iunii oder deine. Beide können ja schlecht hinhauen. So, und ich möchte ab jetzt lieber deine glauben. Kann ich aber nur, wenn ich über Geta und Cales und alles, was mal war, nicht mehr so viel nachdenke. Würde mich wirklich freuen, die Karnickel und Hunde und Kinder unter meine Fittiche zu nehmen, oder dir sonstwie zu helfen. Was die körperliche Ertüchtigung betrifft, bin ich ja bereits von unserem Instrukteur Carus unterwiesen worden, und der hat gesagt, ich hätte außergewöhnlich gute Anlagen. Was immer das auch heißen soll. Also .. ich meine ..“ Die Verspannung löste sich allmählich und die Arme baumelten wieder störend im Weg rum. „Was ich damit sagen will ... ich mach das gern. Und zudem .. braucht es dir nicht leid zu tun. War eben so. Basta.“

  • Avianus nickte dankbar. Klar, wenn er seinem Neffen eine Aufgabe erteilte, erwartete er auch, dass Agricola sich darum kümmerte. Sehr viel hilfreicher war es aber, wenn der Junge seine Aufgaben freiwillig erledigte. Eine richtige Antwort erhielt er zwar nicht, Avianus ging aber davon aus, dass der Neffe verstanden hatte. Ja, Kinder. War ja nicht so kompliziert. Und er erwartete ja keinesfalls von Agricola, dass er eine zweite Amme spielte, nur, dass ein weiteres Augenpaar auf den Zwillingen ruhte, damit die beiden keinen Unfug anstellten.
    So gut es sich eben noch angefühlt hatte, die Entschuldigung losgeworden zu sein, so sehr bereute er es nur einen Moment später. Avianus schwieg, so kühl, wie Agricolas Ton von einem Augenblick auf den anderen geworden war. Genau das war es doch womit er hätte rechnen müssten, die einzig logische Reaktion auf sein verspätetes schlechtes Gewissen. Doch um ehrlich zu sein, hatte er keinen blassen Schimmer, womit er gerechnet hatte. Über solche Dinge dachte er meist viel zu spät nach. Der Monolog, den sein Neffe ihm hielt war es allerdings definitiv nicht.
    Vierzehn also. Fast schon erwachsen. Wirklich anzunehmen schien Agricola seine Entschuldigung nicht, was Avianus ihm kaum verübeln konnte. Und das war es auch gar nicht worauf er aus war. Den Gedanken loswerden, darum war es ihm gegangen, und dass sein Neffe zumindest wusste, dass es ihm leid tat. Aber ob es ebenso ergangen war? Ein kleines bisschen vielleicht? Avianus wusste keine Antwort. Vielleicht tief versteckt in seinem Inneren, wo es niemand spüren konnte, denn zugegeben hätte sein Bruder es wohl nie. Und es hätte ihm noch so leid tun können, gegangen wäre er vermutlich dennoch. Das entschuldigte aber noch lange nicht, was alle anderen Iunii getan oder nicht hatten. Er war nicht sein Bruder, sondern selbst für sein Handeln verantwortlich, Regulus hatte damit nichts zu tun. Sein Blick verfinsterte sich ein wenig, sowie in ihm der Verdacht aufkam, dass er ihr kleines Gespräch gerade vollkommen versaut hatte. Nur ein Verdacht? Nein, ganz eindeutig sogar. Mit einem einzigen Satz hatte er es geschafft, Agricolas gute Laune zu zerstören und ihn dazu zu bringen den Onkel anzupflaumen, und das noch dazu vollkommen unbeabsichtigt. Wahrlich eine neue Meisterleistung. Beherrscht saß er auf seinem Stuhl, um seinen Neffen zumindest ausreden zu lassen, bevor er konterte.
    Was Agricola nur kurz darauf wieder wesentlich ruhiger hinzufügte, stimmte Avianus wieder etwas milder, die Illusion, dass der ganze Mist mit einem kleinen "Tut mir leid" gegessen wäre, war allerdings futsch, und ebenso die Hoffnung, dass es einen einfachen Weg gab, dem Neffen klar zu machen, dass Regulus weder ihn noch den Rest der Iunii repräsentierte. Dass Agricola ihn gerade wieder in die unbequeme Realität zurückgeholt hatte, ließ ihn aber auch etwas ganz anderes bedenken. Mussten sich die Iunii wirklich beweisen, einem Jungen gegenüber, der dankbar sein sollte, ein Teil ihrer Gens sein zu dürfen? Die Iunii waren eine angesehene und ehrbare Familie, davon konnte sich Agricola auch überzeugen, ohne dass Avianus dasselbe tat wie Iturius Geta. Warum glaubte er immer, für alles und jeden zuständig zu sein? Sein Neffe war alt genug und hatte jede Möglichkeit, die er nutzen wollte, um sich ein eigenes Bild zu machen. Er nickte knapp. Einverstanden, weg mit der Vergangenheit, da hatte er ja nicht wirklich etwas dagegen. Agricolas Meinung zu den Iunii war allerdings eine ganz andere Sache.
    "Wenn du die Iunii kennenlernen willst, musst du nur nach unten gehen und mit welchen reden, anstatt zu warten, bis jemand herkommt. Dass du bisher nur mich kennst, scheint mir dein eigener Verdienst zu sein, wenn du es den ganzen Tag über geschafft hast, allen anderen aus dem Weg zu gehen. Du hast hier Cousins und eine Cousine, eine Tante, einen entfernten Onkel, meine Frau … mach dich mit ihnen bekannt, lern sie kennen", wies er Agicola zurecht, "Ich könnte hier den ganzen Tag davon reden, wie Unrecht dein Onkel in Cales hatte, aber mach dir dein Bild doch selbst, wenn du nicht willst, dass dir jemand eines eintrichtert. Denn wenn ich das mache, bin ich erstens wohl kaum besser als dein Onkel Geta, und zweitens haben die Iunii das gar nicht nötig." Schließlich hinderte niemand Agricola daran, den Eindruck der verräterischen, niederträchtigen und undankbaren Iunier in seinem Kopf zu revidieren. Das hatte er dem Jungen aber zu genüge klar gemacht, so fand er und entspannte sich wieder.
    "Gut, die Vergangenheit ... lassen wir sie ruhen. Deine zumindest", sprach er nun versöhnlicher, "Mit deinen Vorfahren wirst du dich selbstverständlich umso mehr beschäftigen müssen. Jedenfalls … es freut mich, dass du deinen Beitrag leisten willst. Das Haus ist in letzter Zeit recht voll geworden, sodass ich froh bin über jeden, der nicht nur ein Bett belegt und an den Vorräten zehrt, sondern die Familie auch unterstützt. Wenn du dich gut machst, werde ich dir auch gerne ein angemessenes Taschengeld zukommen lassen, dann kannst du dich auch selbst darum kümmern, wenn du etwas brauchst, und brauchst nicht wegen allem mich oder sonst jemanden zu fragen." Ein dünnes Lächeln blitzte nun auch wieder durch. "Tja, und die guten Anlagen, die hat bei uns jeder. Hättest du die nicht, müsste ich mir Gedanken machen, ob du wirklich mein Neffe bist. Im Soldatsein waren wir schon immer gut."

  • Agricola spürte sich bockig werden, hatte aber genug Respekt vor seinem Onkel, um sich ohne Wiederrede von ihm anschnauzen zu lassen, zumal ihm dabei aufging, dass er wohl an einer von Avianus’ empfindlichen Stellen entlang geschrammt war. Offenbar hatte er Agricolas’ Ausspruch, er wolle sich gerne überzeugen lassen, in den falschen Hals bekommen. Für Avianus’ Ohren musste sich das so angehört haben, als erwarte der unbedarfte Neffe irgendwelche Rechtfertigungen oder gar Beweise. Dem war nicht so. Die Iunii brauchten ihm nichts zu beweisen, das hatten sie nach Avianus’ Worten auch gar nicht nötig. Die Familie erwartete wohl eher, dass ihr verschollenes Anhängsel sich als ihrer würdig erwies. Ein bisschen viel verlangt, fand er, wenn man bedachte, dass ihm der Umstand, ein Iunius zu sein, bislang eher geschadet hatte als genutzt. Und nun sollte er sich beweisen? Warum eigentlich? Er hatte sich immer Mühe gegeben, ob nun bei den Lehrstunden des Grammaticus, den Übungen mit Carus oder anderen Aufgaben, die in Cales freilich dünn gesät gewesen waren. Noch nie hatte er anderen etwas weggenommen, sich vor einer Herausforderung gedrückt oder sich sonst irgendwie unehrenhaft verhalten, zumindest soweit er sich erinnern konnte, und das ließ sich nun wirklich nicht von jedem Iunier sagen, wie er hatte feststellen müssen. Immerhin, von zwei Iuniern, mit denen er jemals zu tun gehabt hatte, war einer ganz offensichtlich ein ehrenhafter aufrechter Mann, der andere aber ein verantwortungsloser Drückeberger. Nicht gerade ein besonders Vertrauen erweckender Schnitt. So betrachtet hatte er es ebensowenig nötig, irgendetwas zu beweisen.
    Sicher, Avianus hatte völlig recht damit, seinem Neffen vorzuhalten, dass der es bislang versäumt hatte, den Rest der Familie zu begrüßen. Das hätte allein schon der Anstand geboten und musste schleunigst nachgeholt werden. Ihm das allerdings als Ignoranz oder schlimmer noch Arroganz auszulegen, ging Agricola heftigst gegen den Strich. In Cales hatte er jahrein jahraus die selben Gestalten um sich gehabt, nicht alle geschätzt, aber wenigstens vertraut. Mit denen konnte er umgehen, die kannte er. Hier kannte er niemanden. Auf den Gedanken, dass es eine atemberaubende Überwindung darstellten konnte, sich einem ganzen Haushalt wildfremder Menschen als naher Blutsverwandter vorzustellen, schien Avianus gar nicht zu kommen. Agricola wollte diesen Einwand unbedingt loswerden, öffnete den Mund, schloss ihn aber auch gleich wieder. Zum einen, weil ihm sehr wohl bewusst war, dass er schon wieder ungerecht wurde, zum anderen weil Avianus das leidige Thema offenkundig als abgeschlossen betrachtete und sich stattdessen angenehmeren Dingen zuwandte. Daran, dass Agricola seinen Beitrag leisten würde, konnte es gar keinen Zweifel geben, das erachtete er als selbstverständlich. Ihm dafür ein Taschengeld in Aussicht zu stellen klang fast schon wie eine Kränkung, war aber ziemlich sicher nicht so gemeint. Was er tat, wollte er aus freien Stücken tun: Schließlich war er kein Lohnarbeiter, sondern ein Familienmitglied. Verlockend war die Vorstellung, über ein klein wenig Geld zu verfügen, natürlich trotzdem. Jedenfalls war es ein anständiger Zug von seinem Onkel, ihm das anzubieten. Vielleicht konnte er so für eine neue Ziege sparen. Die Vorstellung, eines Tages mit einem meckernden Paarhufer hier aufzutauchen, der erst auf die Mosaiken kackte und sich anschließend daran machte, den Hortus kahl zu fressen, vertrieb den Rest von Agricolas’ Trotz und ließ ihn grinsen. Als welcher Menschenschlag sich der bisher noch unbekannte Teil der Iunii auch erweisen mochte, unbeliebt würde er sich mit einer derartigen Aktion zweifellos bei allen machen.


    Auch Avianus’ Laune hatte sich merklich gebessert. An der Art und Weise, wie er über die iunische Militärtradition sprach, ließ sich erahnen, mit welchem Stolz und welcher Leidenschaft er seiner Berufung nachging. Agricola konnte das verstehen. Auf profitgierige Weinhändler konnte das Reich zur Not verzichten, auf Soldaten nicht. Niemals. „Genau deswegen werd’ auch ich mal Soldat.“, platzte es plötzlich fast ungewollt aus ihm heraus. Obgleich er selbst etwas überrascht darüber war, mit so viel Überzeugung gesprochen zu haben, wurde ihm im selben Moment klar, dass er diese Entscheidung insgeheim längst getroffen hatte. Nicht, um seinem verstorbenen Vater nachzueifern, ganz gewiss nicht. Schon eher, um ihm irgendwann die Zunge herausstrecken zu können, weil ihm das gelungen war, wofür Regulus ihn verlassen hatte, um dann dennoch zu scheitern.
    „Aber bevor ich zu den Adlern durchbrenne, werd’ ich dir noch eine Weile auf der Tasche liegen müssen.“, schmunzelte er seinen Onkel an. „Und mich der Familie vorstellen sollte ich vorher wohl auch noch, nicht wahr?“ Bei diesem Thema angekommen, wurde er wieder ein wenig ernster. „Wenn ich den Eindruck erweckt hab’, dass ich bloß hier rumzusitzen und Audienzen an die Familienmitglieder zu verteilen gedenke, ist das ganz anders angekommen als es gemeint war. Du hast recht, ich hätte mich den Iunii längst stellen sollen. Dass ich das noch nicht getan habe, hat nichts mit Desinteresse zu tun, sondern vielmehr mit .. naja .. Unsicherheit. Ich bitte, dieses Versäumnis zu entschuldigen. Selbstverständlich hole ich das umgehend nach .. bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit .. äh .. habt ihr denn schon gegessen?“

  • Gut, dass Agricola nichts mehr sagte. Jegliche Widerrede hätte Avianus' Laune lediglich zurück in den Keller sinken lassen, wenn er sie nicht ohnehin bereits im Keim erstickt hätte. Ein aufmüpfiger Neffe zusätzlich zu all den anderen Dingen, die ihn derzeit beschäftigten, hätte ihm nämlich gerade noch gefehlt. Vielleicht war er auch ein kleines bisschen zu harsch gewesen, dass Agricola nun kein Wort mehr darüber verlieren wollte? Nein, versicherte er sich selbst. Weder er noch die anderen Verwandten im Haus hatten sich etwas zu Schulden kommen lassen, ganz im Gegenteil, sie dienten vorbildlich dem Reich und mehrten das Ansehen der Familie. Am besten war es wohl das Thema als gegessen anzusehen, was es ja gewissermaßen auch war. Er hatte seinen Standpunkt dargelegt und Agricola schien ihn akzeptiert zu haben. In einer Familie das Sagen zu haben unterschied sich irgendwie gar nicht so sehr vom Herumkommandieren von Soldaten. Man gab Befehle und verteilte Anpfiffe, die den Leuten nicht immer schmeckten, aber sie taten was man sagte und hielten den Rand, anstatt ihrem Unmut Luft zu machen. Damit konnte Avianus gut leben.
    Außerdem brachte der Junge erneut ein Lächeln auf seinem Gesicht zum Vorschein, sodass er an den ganzen Mist zuvor nicht mehr allzu viele Gedanken verschwenden wollte. Großvater, Vater und Onkel in den Exercitus zu folgen war ja mehr oder weniger das Beste, was Agricola in Avianus' Augen tun konnte. Und die Entschlossenheit, mit welcher sein Neffe gesprochen hatte, ließ ihn daran glauben, dass dieser es nicht nur sagte, um das Wohlwollen des Onkels zu gewinnen.
    "Deine Karriere hat tatsächlich noch etwas Zeit", stimmte er lächelnd zu, "Aber natürlich freut es mich, wenn du daran denkst, unsere Tradition fortzusetzen. Bis dahin aber … konzentriere dich auf dein Leben hier in der Domus und deine Aufgaben. Und ja, dazu zähle ich auch, dich mit deiner Familie bekannt zu machen. " Wenn der Rest der Familie irgendwann bemerkte, dass sich sein Neffe schon eine halbe Ewigkeit lang in einem der Zimmer verschanzte, würde es nämlich peinlich, und dann wäre auch die Unsicherheit womöglich tatsächlich angebracht. Jetzt allerdings? Nein, Agricola brauchte sich keinesfalls zu verstecken. "Warum du dich noch nicht vorgestellt hast, spielt für mich keine große Rolle. Und ich bin dir auch nicht böse deswegen. Ich wollte dir nur deine eigenen Fehler vor Augen halten. Du brauchst dich also nicht zu entschuldigen, wenn ich davon ausgehen kann, dass es in Zukunft anders sein wird." Agricolas Unsicherheit schien ihm ohnehin vollkommen unbegründet. Sein Neffe mochte sich als Außenstehender sehen. Dabei schien er vollkommen zu vergessen, dass er ebenfalls den Namen Iunius trug und im Grunde dasselbe Recht hatte, hier zu wohnen wie alle anderen. Axilla und die anderen würden ihm ebenso wenig feindselig begegnen wie er. Da war er sich sicher.
    "Weshalb aber die Unsicherheit? Fürchtest du dich vor deiner eigenen Verwandtschaft?", scherzte Avianus, um die Stimmung etwas aufzulockern. "Iunius Agricola, du hast in deinem Leben noch nichts getan, um bei deiner Familie in Ungnade zu fallen, in dir fließt dasselbe Blut und keiner von ihnen beißt. Das es dir bis gestern verwehrt war, bei deiner Familie zu leben, kann deinem Vater vorgeworfen werden, den Ituriern, oder auch meiner Mutter und mir noch eher als dir …" Mach dir also nicht in die Tunika, verkniff er sich. "Nun … also ich habe noch nichts gegessen. Was alle anderen angeht … wenn ich abends nach Hause komme habe ich leider in den seltensten Fällen den Überblick, aber wir können sie ja mal fragen. Wahrscheinlich treibt sie dann zumindest die Neugier ins Triclinium, wenn schon nicht der Hunger."

  • Agricola war am Ende doch ganz froh, den schwellenden Trotz bezwungen und seinem Onkel weiter aufmerksam gelauscht zu haben. Avianus’ Blick auf die Dinge unterschied sich etwas von seinem eigenen, war pragmatischer, rationaler und dadurch wohl auch klarer. Der Blick eines Tribunus Militares eben, ein soldatischer Blick. Schon in Cales hatte er gelernt, sich eher auf die nüchterne Einschätzung seines Ausbilders Carus zu verlassen als auf die wolkigen Orakelsprüche des Grammaticus Agron. Schätzte ein Soldat die Situation falsch ein, war er im Zweifelsfall tot. Ein zungenfertiger Schwätzer dagegen vermochte sich immer auf die eine oder andere Weise aus den eigenen Fehlern herauszureden. Selbst wenn Avianus ihn als Mensch enttäuscht hätte, was er nicht einmal tat, war seinen Worten eine gewisse Logik nicht abzusprechen. Unsicherheit, ob angebracht oder nicht, führte zu nichts, außer vielleicht zu noch mehr Unsicherheit. Zudem hasste Agricola die Vorstellung, sein Onkel könnte ihn für einen Hasenfuß halten. Nein, er fürchtete sich nicht vor den Iunii, wusste sie lediglich noch nicht einzuschätzen. Aber letztlich verhielt es sich genau so, wie Avianus sagte: Es war seine eigene Verwandtschaft. Sein Blut. Seine Zukunft. Außerdem – sagte er sich mit einem flüchtigen Blick auf den Codex, mit dem seine eigenwilligen Finger begonnen hatten, herumzuspielen – brauchte er schließlich ein paar Eindrücke, die er den iturischen Vettern berichten konnte.


    „Ist ja nicht so, dass ich Angst vor der Familie hätte, Onkel.“, stellte er richtig, „Ich hab’ mich bloß an einen Ratschlag des alten Optios gehalten, der mich unterwiesen hat. Carus hat mal gesagt, in unübersichtlichen Situationen sei es am besten, den Feind aus sicherer Deckung heraus zu beobachten, bevor man sich mit ihm einlässt.“ Götter, klang das martialisch! Wieder huschte ein Lächeln über Agricolas Gesicht. „Naja .. ich fürchte, da hab ich Freund und Feind etwas durcheinander gebracht.“ Nun gut, ob da unten wirklich Freunde auf ihn warteten, mochte sich noch erweisen, zumindest aber keine Feinde, schlimmstenfalls bloße Verbündete. Das war ja auch schon was. Ohnehin würde er wohl kaum auf alle Hausbewohner gleichzeitig treffen. Nach dem zu urteilen, was Avianus sagte, waren gemeinsame Mahlzeiten in dieser Domus nicht gerade die Regel. Agricola war das gar nicht so unrecht. Wenn er an die steifen späten Cenae in Cales dachte, verging ihm fast der Appetit. Aber auch nur fast. „Bene est homini, si palato bene est.“, feixte er seinen Patruus an, „Wenn du auch noch nichts gegessen hast, können wir ja mal gucken, was es gibt .. oder, Onkel Avianus? Vielleicht stoßen wir ja auf Iunii.“ Wohlgemut grinsend hampelte er von seinem Stuhl hoch. Wenn er sich einmal zu etwas durchgerungen hatte, war er meist nur schwer wieder zu bremsen. „Falls dafür noch Zeit bleibt, könntest du mir danach ja zeigen, wo ich unser Lararium finde. Das hab ich bei meiner Schleicherei nämlich noch nicht rausgefunden.“ Quietschendes Kichern. „Ein paar Augenblicke der Andacht täten mir gut. Und morgen werd’ ich dann also Aersara auf den Markt begleiten, um Girlanden zu besorgen. Wird sicher aufregend. Auch die Kaninchen und das alles. Ich hoffe, du kannst unseren Besuch beim Grabmahl bald einrichten, ich meine .. wenn du .. “ Mitten im Satz hielt Agricola inne. Plapperte er etwa? Ja, er plapperte. Verdammt. Mit einem solch jähen Ausbruch an Enthusiasmus hatte Avianus womöglich gar nicht gerechnet. „Öhm .. es sei denn natürlich, du hättest vorher noch Weiters mit mir zu bereden.“, schickte er seinem Geplapper rasch hinterher. Bei Iuno und Iuventas! Er war doch kein Kind mehr. Warum benahm er sich dann wie eins?

  • Soso. Der Feind. Agricola tat gut daran, sich selbst zu korrigieren, ansonsten hätte der Onkel es getan, der nun lediglich dünn lächelte. Die Iunii mochten seinem Neffen in den letzten Jahren keine Hilfe gewesen sein, aber die Bezeichnung Feind hatten sie gewiss nicht verdient. Ganz ohne Frage hatte sein Neffe ein paar Dinge verwechselt. Avianus selbst hatte ihn jungen Jahren mehr als einmal einen blöden Spruch rausgelassen, der gar nicht so gemeint war, wie er sich am Ende angehört hatte, und er tat es heute noch oft genug. Den etwas ungeschickten Scherz wollte er Agricola deshalb nicht übel nehmen, selbst wenn er einen unangenehmen Beigeschmack hatte.
    "Leute, die dir ein Dach über dem Kopf bieten, gutes Essen und Unterstützung sind wohl kaum der Feind", kommentierte er schlicht. "Aber gut, lassen wir das." Er schloss das Thema mit einem erneuten, leichten Lächeln ab und erhob sich, wie auch sein Neffe. Wenn auch die meisten vermutlich schon gegessen hatten, würden sie bestimmt auf irgendjemanden treffen, wenn auch die anderen Iunii höchstwahrscheinlich schon gegessen hatten. Die Cena fand ja für gewöhnlich zu einer Zeit statt, da war er noch nicht annähernd zu Hause, und dass der Rest der Familie einzig auf ihn wartete, wäre ihm auch nicht recht. Vielleicht würden sie sich aber zumindest dazusetzen. Wünschenswert wäre es.
    "Garantiert werden wir auf andere Iunii stoßen. Um die Zeit dürften ja alle daheim sein. Und wenn du dich morgen schon nach den Girlanden umsiehst, werden wir unseren Besuch beim Grabmal wohl möglichst bald einrichten müssen. Wir wollen ja nicht, dass die Dinger wieder lahm werden, bis wir das Grab besuchen", witzelte er, "Am besten bestellst du deine Blumengirlanden einfach beim Händler für kommende Woche. Sagen wir … am dies mercurii? Das dürfte sich ausgehen, wenn ich etwas früher Schluss mache." Blieb nur zu hoffen, dass ihm nichts Wichtiges dazwischenkam. Am besten sprach er gleich morgen früh mit seinem Scriba, damit der ihm nicht ganz überraschend irgendeinen Termin ausgerechnet auf diesen einen Tag klatschte, und alles dürfte klappen wie geplant.
    "Über alles andere können wir ja auch unten weitersprechen. Schauen wir einfach mal runter? Dann kann ich dir auch gleich das Lararium zeigen. Ist gleich beim Atrium, in dem Nebenraum bei der Sitzecke. Außerdem solltest du noch den Laren opfern, am besten gleich morgen. Das wäre dann eigentlich das einzige, was ich noch besprechen wollte. Dann kannst du dich gleich morgen ja auch um ein geeignetes Opfer kümmern, wenn du schon zum Markt gehst. Kuchen, Kekse, Wein ... oder besser gleich etwas blutiges? Ein Ferkel?" Gut, dass ihn Agricola mit seiner Frage nach dem Lararium daran erinnert hatte. Heute war es schon etwas spät für ein anständiges Opfer, aber definitiv sollte sein Neffe es morgen nachholen, um den Schutz der Lares zu erbitten, wie es sich eben für jemanden gehörte, der von jetzt an in der Domus Iunia wohnen sollte.

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