Es rappelt im Karton

  • "Ich will aber nicht!", quengelte Ildrun und Octavena seufzte tief.


    Es war ein hektischer Tag in der Villa Duccia gewesen und ihre Geduld für heute ging definitiv zur Neige. Ihre Tochter hatte in letzter Zeit beschlossen, die meisten Worte ihrer Mutter nur als eine Art optionale Vorschläge zu behandeln, gleichzeitig ging ihr Sohn inzwischen die ersten Schritte selbst durch das Anwesen, was zur Folge hatte, dass Octavena wiederum kaum so schnell gucken konnte, wie Farold um die nächste Ecke verschwunden war. Seine Mutter dagegen fürchtete ständig, dass seine Neugier noch früher oder später dazu führen würde, dass er sich ernsthaft verletzte. Ildruns ewige Widerworte waren da nur eine weitere Sache, die unablässig an Octavenas Nerven zerrte und die meisten anderen Hausbewohner hatten sich schon den halben Tag vor der gereizten Hausherrin weggeduckt. Mit Ausnahme ihrer Kinder, besonders ihrer Tochter, die nun bockig die Arme vor der Brust verschränkte und ihre Mutter trotzig ansah. Unter anderen Umständen hätte Octavena vielleicht bei diesem Anblick selbst ein wenig schmunzeln müssen. Sie war sich eigentlich nur zu gut bewusst, dass dieser Dickschädel ihrer Tochter nicht von ungefähr kam, aber heute kratzte sie nur das letzte Bisschen Beherrschung zusammen, das sie noch auftreiben konnte, und holte einmal tief Luft ehe sie fortfuhr, zu sprechen.


    "Duccia Camelia!", zischte Octavena und baute sich drohend vor ihrer Tochter auf, langsam, aber sicher nicht mehr gewillt, den Unfug des Mädchens auch nur einen Augenblick länger zu dulden. Tatsächlich zuckte Ildrun bei der Verwendung ihres römischen Namens zusammen, wusste sie doch sehr wohl, dass das ein Zeichen war, dass sie nun wirklich in Schwierigkeiten steckte. In ernsten Schwierigkeiten. Dabei hatte ihr eigentlich schon Ärger in dem Moment geblüht, in dem gerade, am frühen Abend, sie fast vollständig mit Schlamm bedeckt ins Haus gestürmt war. Zum zweiten Mal am selben Tag. "Du wirst dir jetzt auf der Stelle etwas Sauberes anziehen oder du wirst mich erst richtig kennenlernen."


    Kurz schien Ildrun ein wenig verunsichert, schüttelte dann aber vehement den Kopf. "Nein!"


    "Na schön." Octavena knirschte wütend mit den Zähnen. "Ganz wie du willst."


    Sie streckte einen Arm aus, um das Handgelenk ihrer Tochter zu ergreifen und die Diskussion zu beenden, aber Ildrun duckte sich geschickt unter ihr hinweg. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, schlug einen Haken und lief blitzschnell aus dem Raum, wobei sie bei ihrer Flucht noch ihren Bruder anrempelte, der in der Nähe der Tür auf einer Decke gesessen und friedlich mit ein paar Holzfiguren gespielt hatte. Der Junge kippte ein wenig nach hinten und stieß sich den Hinterkopf an der Wand hinter sich, woraufhin er noch im selben Moment begann, lauthals zu weinen.


    "Camelia! Komm sofort zurück!", brüllte Octavena ihrer Tochter noch nach, aber entweder hörte ihre Tochter sie tatsächlich nicht mehr oder wollte es nicht. "Ich sag dir, junge Dame, das wird ein Nachspiel haben!"


    Doch alles Rufen blieb erfolglos und mit einem leisen Fluch schritt Octavena zu Farold hinüber und nahm ihn auf den Arm, um ihn eilig zu beruhigen. Garantiert würde Ildrun sich jetzt erst einmal irgendwo verkriechen oder sonst irgendwie versuchen, sich dem Zugriff ihrer Mutter so lange zu entziehen bis deren Zorn so weit verraucht war, dass der unausweichliche Ärger nur noch halb so schlimm sein würde, und Octavena war sich dessen nur allzu bewusst. Dumm war ihre Tochter ganz eindeutig nicht. Das würde zwar Octavena eines Tages noch in den Wahnsinn treiben, weil Ildrun damit auch längst heraus hatte, wie sie im richtigen Moment die richtigen Verwandten auf ihre Seite ziehen und so so mancher Strafe entgehen konnte, aber die Taktik war nicht blöd. Octavenas Züge verfinsterten sich unwillkürlich. Heute würde sie sie damit aber nicht durchkommen lassen.


    Noch immer mit ihrem weinenden Sohn auf dem Arm schritt Octavena wütend aus dem Kaminzimmer. Draußen lief sie beinahe in Lanthilda hinein, die überrascht die Stirn gerunzelt hatte und wohl nach dem Lärm hatte sehen wollen. Octavena drückte ihr mit einer knappen Erklärung Farold auf den Arm und setzte dann sichtlich verärgert ihre Suche fort.


    "Ich gebe dir genau eine Chance, zurück zu kommen, Duccia Camelia", rief die dabei laut und hoffte, dass ihre Tochter noch in der Nähe war und sie hören würde. "Ich zähle bis zehn und wenn du dann nicht hier bist, bist du wirklich in ernsten Schwierigkeiten! - Zehn ... neun ... acht ..."

  • Erschöpft drückte Witjon die Pforte der Villa Duccia auf. Er hatte einen langen und arbeitsreichen Tag hinter sich. Die Wintervorbereitungen in der Provinzverwaltung nahmen viel Zeit in Anspruch: Waren die wichtigsten Heerstraßen und Handelswege winterfest? Waren Versorgungsengpässe zu befürchten, oder hatten alle Civitates genügend vorgesorgt? Hatten die Pächter auf den kaiserlichen Ackerflächen ihre Abgaben erbracht, oder musste noch jemand mit sanftem Druck an seine Pflichten erinnert werden? Alles in allem handelte es sich um zeitraubende Routineaufgaben.


    Am Ende des Tages war Witjon leicht abgekämpft und freute sich auf ein Bier und eine deftige Mahlzeit. Kalter Wind pfiff in den Hauseingang und er beeilte sich die Pforte zu schließen. Albin war auf seinem Pförtnerstuhl eingenickt. Witjon ließ ihn schlafen, der alte Mann hatte Ruhe verdient. Einige Schritte schaffte Witjon in die Villa hinein, als urplötzlich etwas blitzschnell herangeschossen kam und mit ihm zusammenstieß.


    "Hoppla!", rief er überrascht aus. Ildrun war in ihn hineingerannt, während sie rücklings nach Gefahr ausschau gehalten hatte. "Vater!", stieß seine Tochter in einem erleichterten Ausruf hervor, während sie sich vom Boden aufrappelte. Witjon nahm ihre Hand. Er ahnte, dass hier etwas im Argen lag und unterdrückte einen genervten Seufzer. Er wollte doch bloß seine Ruhe haben!


    "Junge Dame, im Haus wird nicht gerannt", belehrte er sie. Ein müdes Lächeln konnte er sich dann aber doch nicht verkneifen. Solcherlei milde Vergehen konnte er seiner Tochter eigentlich gar nicht übelnehmen. Sodann nahm er aus dem hintern Teil der Villa jedoch die bezaubernde Stimme seiner Gattin wahr. Der Kasernenhofton seiner Frau beunruhigte ihn allerdings erheblich. Ildrun hatte vermutlich etwas ausgefressen. "Deine Mutter ruft nach dir, nicht wahr? Komm, wir schauen mal, was sie möchte..."
    Ildrun riss die Augen auf. "Nein, bitte! Mama ist gemein zu mir!"
    Witjon runzelte ärgerlich die Stirn. "Keine Widerrede." Er wollte sich seine Tochter schnappen und durch das Atrium tragen, aber Ildrun war schneller. Sie machte einen Satz zur Seite und rannte davon. Witjon grunzte ärgerlich. Das konnte ja noch heiter werden.


    Er betrat also das Atrium und sah dort Octavena, die von zehn herunterzählte. "Sieben.", sagte er und begrüßte seine Frau mit einem müden Lächeln. "Ist wieder Zwergenaufstand?" Im Hintergrund war gedämpft das Jammern des kleinen Farold zu hören, der von Lanthilda getröstet wurde. Bei Donar, was war hier nur wieder vorgefallen? Der ganz normale Alltagswahnsinn, vermutlich.

  • "So in der Art. Ildrun versucht es zumindest. Nur dass sie damit definitiv nicht durchkommen wird", knurrte Octavena mit einem verächtlichen Schnauben und war inzwischen selbst zu genervt, um wenigstens das müde Lächeln zu erwidern, mit dem ihr Mann sie bedachte. Stattdessen schob sie sich an Witjon vorbei in den Türrahmen und brüllte laut "Sechs!" in die Richtung, in der sie ihre Tochter vermutete ehe sie sich wieder zu ihm umdrehte. "Hast du sie schon gesehen? Sie gibt heute schon wieder nur Widerworte."


    Sie drehte kurz erneut den Kopf in die andere Richtung. "Fünf! - Ich warne dich, mit jeder Zahl sinken deine Chancen auf ein Abendessen!"


    "Mir doch egal!", schallte es bockig aus der Ferne zurück, auch wenn die Stimme zu sehr gedämpft war, als dass Octavena hätte sagen können, woher sie genau kam.


    "Ha! Das werden wir ja noch sehen, Camelia!" Ihr Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. "Vier!"


    Keine Reaktion. Octavena zuckte mit den Schultern und hob mit einem leisen Fluch hilflos die Arme in die Luft. "Siehst du?", zischte sie. "So geht das schon den ganzen Tag. Sie benimmt sich schlecht und wenn ich mit ihr schimpfe, haut sie ab und verkriecht sich. Die Konsequenzen kümmern sie nicht einmal mehr." Sie deutete in die Richtung, aus der das nun langsam leiser werdende Weinen ihres Sohnes kam, während sie sich jetzt erst so richtig in Rage geredet hatte. Und wenn es nur war, weil ihr eigentlich diese Rolle der zeternden Spielverderberin genauso wenig gefiel wie ihrer Tochter, aber wenn Ildrun nicht hören wollte, musste irgendwer ihr schließlich ihre Grenzen aufzeigen. Erst recht nachdem das hier nur die neuste Episode einer ganzen Reihe solcher Tage und Abende und Octavena inzwischen nur noch müde war. "Das ist übrigens das Ergebnis ihrer Flucht gerade eben. Als ob ihr Theater über den ganzen Tag hinweg nicht genug gewesen wäre, hat sie auf ihrem Weg nach draußen noch Farold umgerannt. Wunderbar, nicht wahr?"


    Octavena drehte noch einmal den Kopf. "DREI! - Zwing mich nicht dazu, bei eins anzukommen!"

  • Hoppla, zum Zweiten. Octavena schob sich an Witjon vorbei, um aus dem Türrahmen heraus quer durch die Villa zu brüllen. Witjon rollte genervt mit den Augen. Er hasste Lärm, erst recht wenn er in Form von verärgerten Frauenstimmen daherkam. Das klingelte immer so in seinem Kopf. Eine schreiende Octavena genau neben seinem Ohr verbesserte seine Laune daher nicht sonderlich. Auf Octavenas Frage nach ihrer beider Tochter gestand er: "Sie ist mir eben in die Arme gelaufen."


    Octavenas anschließende Drohung einer Nahrungsmittelsanktionierung verpuffte wirkungslos im Atrium. Im Gegenteil, so stachelte sie Ildruns Bockigkeit nur noch an. Witjon fuhr sich seufzend über das Gesicht. Wenn seine beiden Herzdamen Streit hatten, geriet er stets unweigerlich zwischen die Fronten. Er hasste das.


    Und nun fing Octavena natürlich an, sich über das Verhalten ihrer Tochter bei ihm zu beschweren. Witjon warf einen kurzen Blick zu Farold herüber. Der schien aber scheinbar keinen bleibenden Schaden genommen zu haben, weshalb er bloß achselzuckend meinte: "Der wird schon wieder." Stirnrunzelnd sah er wieder seine Frau an. Er konnte sich die Frage nicht verkneifen: "Was treibst du denn hier den ganzen Tag mit ihr, dass sie so bockig ist?" Im selben Moment wurde ihm klar: Er hätte seine Worte weiser wählen solllen.

  • Für einen Moment entgleisten Octavena ihre Gesichtszüge und sie blickte Witjon nur ungläubig an. Das drohende Zählen in Ildruns Richtung war vergessen, die müde Genervtheit wie weggeblasen, stattdessen hatte sie nun Perplexität erfasst. Perplexität, die nach der ersten überraschten Sekunde langsam in Wut umzuschlagen begann, die sich nun brodelnd in ihrer Brust ausbreitete, während ihre schon seit Stunden nur mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung sich jetzt vollends in Luft auflöste.


    "Ist das jetzt dein Ernst?", fauchte sie schließlich in einem Tonfall, mit dem man Berge hätte teilen können. "Unsere Tochter ist schlicht ein Kind, das seine Grenzen austestet und aufgezeigt bekommen muss und du fragst mich wirklich, was ich mit ihr getan habe?"


    Octavena presste die Lippen zu einem zornigen Strich zusammen und drehte sich um - hauptsächlich, um Witjon nicht direkt ansehen zu müssen - und begann, Farolds Spielzeugfiguren vom Boden aufzusammeln. "Natürlich", murmelte sie dabei leise zischend halb zu sich selbst und halb an ihren Mann gewandt. "Das war ja absolut klar." Dass Witjon jetzt ihr Vorwürfe machte, hatte ihr heute gerade noch gefehlt. Als ob dieser Tag nicht ohnehin schon ein mittelmäßiger Albtraum gewesen war.


    Mit einem lauten Knall warf Octavena die Figuren zurück in die Spielzeugtruhe ehe sie sich dann wieder zu ihrem Mann umdrehte und ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte. "Ich habe heute schon den ganzen Tag mir ein Bein ausgerissen, um Ildrun dazu zu bewegen, auch nur einen Moment mal zu zu hören statt wie ein Wirbelwind durch das gesamte Anwesen zu wüten, aber ja, natürlich, ich bin schuld, wenn sie einen bockigen Tag hat. Entschuldige, dass ich nicht von alleine drauf gekommen bin." Mit deutlich mehr Schwung als nötig ließ sie den Deckel der Truhe zukrachen und verschränkte die Arme vor der Brust. "Wenn du meinst, du kannst es besser, dann mach doch! Zeig ihr, dass schlechtes Benehmen keinerlei Konsequenzen hat!" Unter den verschränkten Armen ballte Octavena ihre Hände zu Fäusten. Sie war das alles so leid. So leid, sich immer und immer wieder mit ihrer Tochter zu streiten, nur damit Witjon abends dazu kommen und sich wundern konnte, was denn los war, und Octavena dann wiederum im nächsten Schritt gegenüber Ildrun mit Nachlässigkeit untergraben konnte. "Wunderbare Idee, dann bin ich für sie wieder die Böse und die Spielverderberin!"

  • Bei Donars Hammer, was war denn plötzlich in sie gefahren? Witjon riss fassungslos die Augen auf. Er konnte förmlich spüren, wie sich über der Villa Duccia schwarze Wolken zusammenzogen, Zeter und Mordio drohend. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Wodan mochte ihm beistehen für das, was nun auf ihn zukommen mochte. Octavena raunzte ihn an und regte sich über seine Worte auf. Völlig zu Unrecht natürlich! Doch wenn die sonst so freundliche Petronia in Rage geriet, konnte es für ihre Mitmenschen auch mal unschön werden. Das hatte Witjon schon erleben müssen.


    Witjon zuckte leicht zusammen, als Octavena Farolds Spielzeug lautstark in die Kiste zurückbeförderte. Sogleich zog er verärgert die Augenbrauen zusammen. Sehr erwachsen, wirklich. Und es nahm kein Ende. Sie zeterte in einem fort und knallte zur Betonung ihrer Predigt auch noch den Deckel der Truhe. Witjon schnaufte. Sie interpretierte definitiv zu viel in seine Worte. Langsam wurde auch er wütend bei dem, was Octavena ihm da an den Kopf warf. Dass seine scherzhaft gemeinte Frage sie womöglich an einem äußerst wunden Punkt getroffen haben könnte, kam ihm freilich nicht in den Sinn.


    "Jetzt reiß dich mal zusammen", begann er seine Antwort und in den göttlichen Sphären kicherte Wodan über die einfältigen Worte des Ducciers, während Frigg fassungslos die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Wie konnten die Menschlein bloß immer so blind für die Sorgen und Nöte ihrer Lieben sein?
    "Ich habe doch gar nicht gesagt, dass ihr Benehmen dein Fehler ist. Ich verstehe nur nicht, was ihr beide für ein Problem miteinander habt. Es kann doch nicht sein, dass sie den ganzen Tag lang bockig ist?!"
    Tatsächlich hatte Witjon wenig Verständnis für derlei kindliches Verhalten. Die Erziehungs seines erstgeborenen Sohnes hatte er großteils Elfleda und den anderen Frauen der Familie überlassen, während er sich nach Callistas Tod im Kindbett in die Arbeit geflüchet hatte. Erst später hatte er erkannt, dass er seinem Sohn Vorbild und Erzieher sein musste. Damals war Audaod wahrscheinlich schon aus der schlimmsten Kleinkindphase herausgewesen. Ohnehin hatte sein Sohn ihn schon immer vergöttert und nur sehr selten gewagt, seinem Vater Widerworte zu geben. Damals ein Segen für den faulen Vater, ein Fluch für den heute ebenso faulen Vater. Und jetzt hatte er den Schlamassel, wieder einmal.

  • "Ich soll mich zusammenreißen?" Octavena funkelte Witjon böse an und ballte die Hände nur noch stärker zu Fäusten, sodass ihre Nägel sich tief in ihre eigenen Handballen gruben. Das war ja jetzt wohl die Höhe. Sie erzählte ihm, dass der Tag ein einziger Kampf gewesen war und er forderte sie einfach auf, sich "zusammen zu reißen"! Als ob sie hier wegen jeder Kleinigkeit so an den Rand ihrer Kräfte getrieben wurde wie heute! Mühsam rang Octavena um das letzte bisschen, das von ihrer Fassung noch übrig war, trotzdem schien ihre Stimme mit jeder gefauchten Silbe etwas lauter zu werden. "Was um alles in der Welt glaubst du denn, was ich schon den ganzen Tag lang tue?"


    Sie ließ die Arme sinken und schüttelte den Kopf, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Wahrscheinlich verstand er nicht einmal, was genau ihr Problem war. Warum ausgerechnet seine Worte gerade die Tropfen waren, die das Fass zum Überlaufen brachten. Und warum sie genau das so frustrierte und ein Stück weit auch verletzte. Seufzend schloss Octavena für einen Augenblick die Augen und atmete einmal tief durch, um sich wieder zumindest ein wenig zu sammeln.


    "Ich erwarte nicht, dass du mich verstehst", erwiderte sie dann so ruhig wie möglich, auch wenn sie selbst hören konnte, wie angespannt ihre Stimme noch immer klang. "Aber ich wäre dir dankbar, wenn du es gerade einfach mal hinnehmen und mir glauben könntest, wenn ich dir sage, dass Ildrun schlicht ein Temperament hat, mit dem sie das ganze Haus auf Trab halten kann und genau dieses Temperament heute kaum zu bändigen war. Also entschuldige, dass meine Geduld Grenzen kennt und ich heute einfach keinen Nerv mehr für ihre Eskapaden habe." Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu und zögerte kurz, konnte sich dann aber eine letzte Spitze doch nicht verkneifen. "Oder deine vollkommen unangebrachten Vorwürfe."


    Dieser letzte Satz wäre nicht nötig gewesen, das wusste sie selbst, aber Octavenas Geduld für Diplomatie hatte heute ihr Ende erreicht. Und wenn Witjon schon nicht von allein darauf kam, dass er sich gerade unmöglich benahm, indem er ihr etwas Banales wie eine Streiterei mit ihrer Tochter in einer Trotzlaune vorhielt, dann würde sie eben nachhelfen.

  • "Keine Ahnung, was du hier so treibst", entgegnete Witjon auf die wohl eigentlich rhetorisch gemeinte Frage seiner Frau. "Den Haushalt führen, nehme ich an." So simpel war das aus der Sicht eines Hausherrn, der tagsüber nicht zugegen war, sondern für alles Personal hatte. Oder eben eine Gattin.


    Octavena beruhigte sich schließlich ein wenig, was Witjon erleichterte und ihm ebenfalls einen Augenblick Zeit gab, sich zu sammeln. Im Grunde genommen hatte sie ja Recht mit dem, was sie sagte. Kinder konnten schwierig sein und er zeigte für den täglichen Erziehungskampf mitunter zu wenig Verständnis. Ihre Tochter hatte offensichtlich das duccische Temperament in sich, das bereits in vielen ihrer - insbesondere weiblichen - Vorfahren geglüht hatte. Heute war einer dieser Tage, an dem das Glühen zum Feuer entfacht worden war.


    Witjon war also bereits so weit, für die Situation seiner Frau Verständnis und Mitgefühl aufzubringen, bis sie sich zum letzten Satz ihrer Ansprache hinreißen ließ. "Vollkommen unangebracht?", platzte es aus ihm heraus. "Ich habe doch nur gefragt, was in aller Götter Namen zwischen dir und unserer Tochter los ist, mehr nicht! Vorwürfe machst du gerade mir, nicht andersrum." Wenn Octavena streiten wollte, bitte. Er konnte da mithalten. "Ganz zu schweigen vom ganzen Rumgelärme und Truhenknallen", setzte er also noch hintendrauf und wedelte dabei mit der Hand unbestimmt in Richtung Spielzeug. Seine Frau sah er dabei herausfordernd an und wappnete sich innerlich bereits gegen den Zorn einer genervten Mutter.

  • "Ganz genau, ich führe den Haushalt", erwiderte Octavena fauchend und bedachte ihren Mann mit einem Blick, bei dem sämtliche andere Leute unter diesem Dach sicher Reißaus genommen hätten. Nach ihrem kurzen Beruhigungsversuch war ihre Stimmung jetzt direkt wieder dabei, vollkommen zu kippen und sämtliche angestaute Wut und Frustration über ihren Mann drohten sich Bahn zu brechen. "Ich schlage mich jeden Tag mit all den großen und kleinen Dramen unter diesem Dach herum. Und dann kommst du nach Hause und statt einfach einmal es für fünf Minuten zu schaffen, mir bei der Erziehung unserer Tochter nicht in den Rücken zu fallen, fragst du mich, was ich mit ihr angestellt habe, dass sie bockig ist und forderst mich auf, mich einfach zusammenzureißen."


    Ihre Stimme war mit jedem Wort ein bisschen lauter geworden und sie konnte erneut spüren, wie ihre Fingernägel in ihren geballten Fäusten tief sich in ihre eigene Haut drückten.


    "Ich mache den lieben langen Tag nichts anderes als mich zusammenzureißen!", fuhr sie Witjon laut genug an, als dass man sie sicher noch mindestens ein Zimmer weiter hören konnte. "Und ich mache das normalerweise gerne! Weil mir dieses Haus und diese Familie wichtig ist! Als Verus sich nicht um seinen Sohn kümmern konnte und wollte, habe ich mich ohne zu zögern hinter dich gestellt und mich um den Kleinen gekümmert! Weil ich wusste, dass ich dir damit ein Problem abnehmen würde! Alles, was ich tue, ist dazu da, dir den Rücken frei zu halten! Aber wenn ich auch nur ein Mal gerne den Bruchteil dieser Unterstützung von dir hätte, indem du meine Erziehung einfach nur nicht untergräbst, ist das zu viel verlangt!"


    Octavena seufzte tief ehe sie sich mit einer Hand über das Gesicht fuhr, mit einem Mal schrecklich müde. "Ich will mich ja gar nicht mit dir streiten", sagte sie dann, nun wieder deutlich leiser. "Aber ich wünschte, du würdest nicht jeden Abend weitere Probleme auf meine Liste hinzufügen, indem du Ildrun suggerierst, dass sie nur zu dir rennen muss, damit du mich bei jeder Maßnahme überstimmst. Mir macht es auch keinen Spaß, in ihren Augen immer die Spielverderberin zu sein, aber ich muss manchmal so zu ihr sein. Und du drängst mich nur noch stärker in die Rolle der Bösen, wenn du immer nur den Elternteil spielst, der im Zweifelsfall alles erlaubt, nur weil du abends selbst deine Ruhe haben willst."


    Kopfschüttelnd zuckte sie mit den Achseln und wandte sie sich zur Tür. "Aber mach was auch immer du für richtig hältst. Geh und sammel Ildrun aus dem Versteck ein, in dem sie sich bestimmt jetzt verkrochen hat, und sag ihr, dass ich mich nur nicht zusammenreißen kann. Dann geht dieses Theater morgen von vorne los, aber das muss dich ja dann nicht wirklich kümmern."

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