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| Sulamith
Seit einigen Tagen schon hatte der Brief ungeöffnet unter Sulamiths Kissen gelegen. Hätte man sie nach dem Grund dafür gefragt, hätte sie wohl den Mangel an Zeit vorgeschoben. In Wirklichkeit war es aber mehr ihre Furcht und das Unbehagen, sich mit dem Inhalt des Briefes auseinanderzusetzen. Tiberios war schließlich Zeuge dessen geworden, was ihr widerfahren war.
Alle Male an ihrem Körper waren inzwischen verheilt. Auch eine Schwangerschaft war ausgeblieben. Nur die schlimmen Alpträume, die sie nachts heimsuchten, wollten einfach nicht verschwinden. Dank der unermüdlichen Fürsorge ihrer Herrin und dem Versuch, alles Geschehene zu vergessen, hatte sie es geschafft, wieder ein klein wenig Freude am Leben zu finden. Zumindest schien es so nach außen hin. Dann, als sie Graecina vor ein paar Tagen zu der Werkschau und dem Treffen mit dem Decimus begleitet hatte, war sie dem furischen Sklaven wieder begegnet. Zwar hatten sie nur Blicke aber keine Worte getauscht, doch sie konnte sich noch gut daran erinnern, was sein plötzliches Erscheinen in ihr ausgelöst hatte. Ein Zucken hatte ihren Körper durchfahren. Sie hatte nicht lange seinem Anblick standhalten können. Zu groß waren immer noch der Schmerz und die Scham über das Geschehene.
Schließlich hatte sie den Brief wieder hervorgeholt und ihn unter ihrer Tunika verwahrt. Falls sie die Gelegenheit bot, wollte sie sich nun doch endlich mit dem Inhalt beschäftigen.
Mit ein paar Kissen und einer Decke bestückt, trat sie am Nachmittag hinaus in den Garten, um Ausschau nach einem schattigen Plätzchen zu halten. Graecina liebte es, den Nachmittag unter freiem Himmel zu verbringen. Was lag da näher, als es sich im Garten gemütlich zu machen?
Die Hebräerin wurde schließlich fündig und breitete die Decke neben einem herrlich blühenden Oleanderbusch aus und drapierte die mitgebrachten Kissen darauf. Dies war in der Tat ein hübsches ruhiges Plätzchen! Nur die Zikaden sangen ihr schier endloses Lied.
Nun endlich, nachdem sie sich auf ihre Knie niedergelassen hatte, nahm sie sich die Zeit, um den Brief hervorzuholen. Sie öffnete ihn und las Tiberios‘ Zeilen.
Ad Sulamith Serva Chaire Sulamith, viel Zeit ist vergangen, und ich, der immer geschickt mit Worten bin, blieb dir gegenüber ohne Worte. Sei gewiss, Sulamith, das sich an meinem Respekt und meiner Anteilnahme dir gegenüber nie etwas geändert hat, und mögen auch Phobos und Daimos* dein Gemüt eingeschlossen haben, wie es der Dichter Aischylos beschreibt, so hoffe ich, dass eines Tages die Dunkelheit weicht, wie die Nacht der Eos weichen muss. Als ich dich kürzlich wieder sah, du weißt schon wo, da tat ich, als würde ich dich nicht kennen, denn ich wiederum kannte nicht diejenigen, die bei dir waren. Wie ist es der Ancilla ergangen? Ist sie gesund geworden und erfreut sich nun der Güte deiner kyria? chairete
Iulia Graecina
Domus Iulia
Mons Esquilinus
Doch du sahst ruhig und genesen aus.
Tiberios
Maiordomus Casa Furia
Während sie las, hörte sie nicht das Knarzen der kleinen Steinchen des Gartenpfades, die die sich nahenden Schritte ankündigten.