Es war zwei Tage nach ihrem Aufbruch von Mediolanum gewesen. Marcellus hatte seine Begleiter zur Eile gedrängt, denn es brannte in ihm endlich die Länder nördlich der Alpen zu sehen, über welche er schon so vieles gehört und gelesen hatte. Nach seinen gescheiterten Versuchen ein Militärtribunat bei einer der Legionen an der Grenze zu erhalten, hatte er beschlossen sich erst einmal der Kurzweil hinzugeben und die Ländereien eben ohne militärisches Amt zu bereisen. Immerhin, so tröstete er sich, hatte er somit auch keine Verpflichtungen.
Zwei Leibsklaven und fünf Leibwächter hatte er bei sich, alle ritten sie. Dazu kamen noch drei Packpferde. Mehr Luxus hatte sich der Claudier nicht gegönnt. Er wollte die wilden Länder im Norden bereisen und dazu gehörte doch seiner Ansicht nach nicht dass man es sich in einem Wagen gemütlich machte. Die Seidenkissen hatte er in Rom gelassen, ebenso wie vieles weitere. Er suchte das Abenteuer, wollte nach all den behüteten Jahren in Italia und Achaia etwas anderes erleben. Und wenn er dies nicht als Soldat im Dienste Roms tun konnte, dann eben als Reisender.
Dann hatte das Abenteuer ihn gefunden. Weit früher als er es gedacht oder gewollt hatte und auch weit brutaler als es sein Wunsch gewesen wäre. Ohne mit etwas derartigem zu rechnen waren sie eine Straße entlanggeritten, die sich ein einsames Tal empor wand. Links und rechts der Straße gab es hohe Wälder aus Eichen und Tannen und Marcellus schwelgte in Gedanken schon in den Vorstellungen davon wie es in den Bergen und jenseits davon sein würde. Mächtig und beeindruckend sah er jene bereits vor sich in den Himmel ragen. Wälder soweit das Auge reichte und gekrönt wurde das ganze von weißen, schneebedeckten Gipfeln.
Während also Marcellus seinen Gedanken nachhing, hörte er ein mehrfaches Zischen und Surren, welches er überhaupt nicht zuordnen konnte. Dann hörte er hinter sich erstickte und dumpfe Schmerzenslaute, dann Schreie und mit einem Mal fuhr ihm der Schreck in die Knochen. Von jetzt auf gleich war ihm klar das etwas nicht in Ordnung war, auch wenn er nicht so schnell begreifen konnte was genau los war. Nie im Leben hätte er hier mit einer Gefahr für sich gerechnet und die neue Situation traf ihn so überraschend als habe man ihn gerade aus tiefsten Träumen geweckt.
"Dominus, bring dich in Sicherheit!" rief einer der Leibwächter und galoppierte mit gezogenem Schwert neben ihn, ehe auch er aus dem Sattel kippte. Marcellus konnte keinen Pfeil oder dergleichen erkennen, war aber auch nicht geistesgegenwärtig genug um an eine Steinschleuder zu denken. Nein, stattdessen begriff er nun endlich dass es an der Zeit war seinem nervösen Pferd die Fersen in die Seite zu drücken und zuzusehen dass er hier fort kam!
Er wendete das Tier und sah vor sich ein Durcheinander aus Pferden und Menschen. Seine Begleiter lagen Großteils am Boden und viele düstere Gestalten waren gerade dabei die Pferde einzufangen. Unvernünftigerweise hatte es Marcellus im Kopf das es eine bessere Idee war durch diese Gestalten hindurch zu reiten - zurück nach unten, nach Italien und in Richtung Mediolanum, anstatt das Pferd eben nicht zu wenden und zwar weiter in die Berge zu reiten, dafür aber die unmittelbare Gefahr hinter sich zu lassen. Nein, seine Panik (ja man musste es wohl bei allem Stolz Panik nennen) trieb ihn zurück nach Hause.
Natürlich war das eine schlechte Idee. Marcellus trieb sein Pferd an, sah dann aber schnell eine ganze Reihe dieser düsteren Gestalten vor sich und ehe er sich versah holte einer der Kerle mit einer Art langen Keule aus und schlug ihm damit vor den Brustkorb. Nicht nur blieb ihm davon die Luft weg, nein er fiel auch hintenüber von dem rennenden Pferd und das letzte woran er sich erinnern konnte war der Moment in welchem er auf dem Boden aufschlug.
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Wie lange das alles genau her war wusste er nicht zu sagen. Er erwachte mit Schmerzen in einer dunklen Höhle welche nach Rauch und Unrat stank und welche von Fackeln nur schlecht erleuchtet wurde. Offenbar war es draußen Nacht.
Vor ihm stand eine Gestalt die aussah als habe die Unterwelt sie nicht haben wollen. Der Mann sprach zu ihm in einer Sprache die man irgendwo, weit weg von Rom, vielleicht als Latein durchgehen lassen würde. Marcellus tat der Kopf weh und er konnte gerade vage nachvollziehen warum seine migränegeplagte Schwester oftmals so mürrisch war.
"Sag mir Bursche, wer du bist. Dann zahlt deine Familie ein Lösegeld und du kannst schnell wieder nach Hause." erklang es aus dem Mund des Mannes. Marcellus schwieg erstmal.
"Deine Leute haben wir getötet, aber du siehst nach Geld aus. Na los, das hier muss nicht länger dauern als nötig." er stieß Marcellus mit einem langen Stock an, war das die Keule die ihn vom Pferd geholt hatte?
"Lass mich gehen, du Wicht. Wie könnt ihr es wagen einen römischen Bürger zu überfallen?" antwortete Marcellus in sauberem, gestochen scharfem Latein und mit arroganter Stimme. Der Mann lachte ihn aus.
"Ach, dann überleg es dir nochmal ein paar Tage. Irgendwann bettelst du darum uns sagen zu dürfen wer du bist." dann ging der Kerl wieder weg und Marcellus wurde seine ungute Situation langsam bewusst. Er war gefesselt, es tat ihm alles weh und er saß in einer kalten Höhle herum. Noch dazu nicht wissend wo er überhaupt war.
War das nun das Ende seiner Reise? Er würde den Kerlen sagen wer er war und bei der Villa Claudia würde ein Bote vorsprechen und Lösegeld fordern. Seine Familie würde eine vermutlich horrende Summe bezahlen und er würde dann irgendwann wieder in Rom ankommen und wäre für den Rest seines Lebens gedemütigt. Fest fasste er den Entschluss das er lieber sterben würde, als das zuzulassen!
Dann vergingen die Tage. Wenn er schlief, verging die Zeit einigermaßen schnell, aber wenn er wach war war es verdammt langweilig nur herum zu sitzen. Immer wieder versuchten ihn die Kerle auszuhorchen. Am Anfang schienen sie sich einen Spaß aus seiner Sturheit zu machen, aber nach drei Tagen bemerkte Marcellus dass ihre Geduld zu schwinden schien. Sie begannen ihm Folter anzudrohen. Damit bekam sein Aufenthalt bei den Kerlen eine neue Dimension, denn er war noch nie gefoltert worden und stellte es sich alles andere als angenehm vor. Die Vorstellung reumütig und gedemütigt bei seiner Familie zu stehen wirkte auf einmal weniger schlimm.
Es dauerte zwei weitere Tage, ehe ihm klar wurde dass es nun ernst war. Der Anführer der Bande war wirklich überhaupt nicht mehr freundlich und er hatte ihm in Aussicht gestellt dass er morgen erst einen Fingernagel und danach den Finger verlieren würde wenn er nicht sprach. Marcellus fragte sich was er von seinem Stolz hatte. Er saß seit fünf Tagen in dieser Höhle fest, bekam wenig und schlechtes Essen und ihm wurde mit Schmerzen und Folter gedroht. All das nur weil er sich nicht der Demütigung hingeben wollte sich anhören zu müssen dass seine gesamte Reise eine dumme und naive Idee gewesen war.
Er würde den Kerlen wohl morgen früh sagen wer er war. Marcus Claudius Marcellus, aus der Gens Claudia, einer der angesehensten Familien Roms. Und diese Wichte würden tanzen und feiern bei dem Gedanken an das Lösegeld. Er war so dumm gewesen...
Sein Blick glitt durch die Höhle. Er hatte mittlerweile längst verstanden was diese Räuberbande tat. Sie überfielen Reisende und eigneten sich deren Güter an. Manche ihrer Opfer schienen sie auch als Sklaven verkaufen zu wollen. Einige Gestalten die noch armseliger aussahen als er selbst waren um ihn herum angebunden, während die Räuberbande etwas weiter entfernt am Feuer saß und zechte. Aber heute waren es weniger als sonst, der Anführer und ein Dutzend Männer waren fort und es waren nur vier oder fünf Wächter zurückgeblieben.
Marcellus Blick fiel auf ein Mädchen das seit vorhin neben ihm am Boden angebunden war. Er hatte sie schon öfter gesehen, aber bis heute Nachmittag war sein "Nachbar" ein alter Mann gewesen, der vorhin gestorben war.
"Kannst du mich verstehen?" fragte er, denn wie eine Römerin sah die junge Frau nicht aus. Sie kam aus dem Norden, aus Germanien oder Dakien vielleicht. Sie war mit Dreck bedeckt und sah fix und fertig aus, deutlich schlechter als er.