• Es war ein trüber Herbsttag, kühl und regnerisch, noch dazu nicht der erste seiner Art in dieser Woche, und in der Villa Duccia fiel den Kindern die Decke auf den Kopf. Octavena konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Den Sommer über und noch zu Beginn des Herbstes hatten Ildrun und Farold viel draußen verbracht, manchmal auch zu Octavenas Leidweisen, wenn sie wieder von oben bis unten eingedreckt wieder vor ihr gestanden hatten, aber dann war das Wetter umgeschlagen und hatte diese Gewohnheit jäh zunichtegemacht. Nicht mehr lange und es würde richtig Winter werden und der Schnee würde stattdessen ihr Interesse wecken, aber bis dahin blieb nur der Regen und das bedeutete im Moment auch viel Langeweile und überschüssige Energie. Der regnerische Tag hatte sich schließlich in einen noch immer kalten Nachmittag und schließlich frühen Abend gewandelt, doch immerhin war irgendwann das sanfte Prasseln des Regens auf dem Dach verstummt. Das Abendessen würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und Octavenas Gedanken waren eigentlich schon wieder an tausend anderen Orten im Haus, als ihre Kinder es scheinbar wirklich nicht mehr aushielten.


    "Maaaamaaaa, dürfen wir noch etwas raaauuuus?", quäkte Farold mit großen Augen. "Biiitteee! Wir haben auch nachgesehen, es regnet ganz sicher nicht mehr!" Octavena hob die Brauen angesichts des gekonnt flehenden Tonfall ihres Sohnes und ihr eigener Blick glitt beiläufig zu seiner älteren Schwester, die mit einer ähnlich gekonnten Unschuldsmiene hinter ihm stand und sich redlich Mühe gab, so zu wirken als hätte sie nichts mit alldem zu tun. Eigentlich hätten beide eine Belohnung schon allein für diesen Auftritt verdient. Ildrun dafür, dass sie begriffen hatte, dass sie bessere Chancen hatte, ihren Willen durchzusetzen, wenn sie ihren kleinen Bruder vorschickte, und Farold dafür, dass er begriffen hatte, dass seine Schwester meistens die besseren Strategien auf Lager hatte, um ihre Mutter um den kleinen Finger zu wickeln. Octavena versuchte zwar, einen ernsten Gesichtsausdruck aufrechtzuerhalten, um sich wenigstens noch den Anschein von etwas mütterlicher Strenge zu geben, doch ehe sie es verhindern konnte, huschte natürlich doch ein kleines Lächeln über ihre Lippen. "In Ordnung, aber nur kur-", setzte sie zu ihrer Antwort an, doch der Rest wurde von fröhlichem Gequietsche der Kinder verschluckt.


    "Nicht so schnell! Und, Ildrun, pass auf Farold auf!", rief Octavena noch ihrer Tochter hinterher, doch das Mädchen war schon wieder nicht mehr zu bremsen. Lachend lief sie los, dicht gefolgt von ihrem Bruder, der noch immer Mühe hatte, mit ihr mitzuhalten, und stürmte mit so einer so offensichtlichen guten Laune nach draußen, dass selbst Octavena Mühe hatte, bei dem Anblick nicht breit zu grinsen.


    Sie gab das nur selten zu und sprach es noch seltener laut aus, aber in Momenten wie diesen musste sie manchmal an ihre eigenen Eltern denken, besonders an ihren Vater. Ihr Verhältnis war nie einfach gewesen und ein Teil von ihr würde ihm wohl nie vergeben können, wie kaltherzig er mit ihr nach dem Tod ihrer Mutter umgesprungen war, aber je älter ihre eigene Tochter wurde, desto mehr konnte sie zumindest seine Überforderung nachvollziehen. An manchen Tagen erkannte Octavena viel von sich selbst in ihrer Tochter, insbesondere wenn es um ihre Sturheit ging, und inzwischen tat sie sich immer schwerer, es weiterhin ihrem Vater zum Vorwurf zu machen, dass er nicht gewusst hatte, wie er damit umgehen sollte. Das glich noch immer nicht alles andere aus – erst recht nicht den vielen Streit, den Octavena ihrerseits ihren Kindern um jeden Preis ersparen wollte – doch es hatte wenigstens einen Teil ihres alten Zorns verrauchen lassen.


    Mit einem kleinen Seufzen bückte sie sich und sammelte ein paar Holzfiguren ein, die Farold offensichtlich wieder im Haus gestreut hatte, und nahm dabei auch noch direkt einen Schal an sich, den Ildrun wieder einmal drinnen liegen gelassen hatte. So wie das Kleidungsstück aussah, war das auch nicht das erste Mal in den letzten Tagen und vermutlich hatte er schon eine Weile hier gelegen und zumindest die Kinder waren ziemlich sicher ein paar Mal darüber hinweggestürmt, ohne ihn eigentlich zu bemerken. Alles wie immer also. Und ganz wie immer legte Octavena die Figuren in die Truhe, in die sie eigentlich gehörten, und schüttelte den Schal einmal aus.


    In den letzten Monaten hatte sich das zu einer Art Muster entwickelt. Während Octavena vor gar nicht so langer Zeit noch das Spielzeug beider Kinder eingesammelt hatte, sammelte sie inzwischen immer öfter nur noch das ihres Sohnes ein. Das lag weniger daran, dass Ildrun in letzter Zeit ordentlicher geworden wäre, sondern dass sie inzwischen meistens andere Dinge liegen ließ als früher. Sie merkte es vermutlich nicht, noch nicht, aber für Octavena war das eine dieser kleinen Erinnerungen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Tochter älter würde. Sie würde nicht ewig ihre Kleine bleiben. Sicher, noch blieb Zeit, aber in manchen Momenten stimmte der Gedanke Octavena doch melancholisch.


    Langsam schüttelte sie den Kopf und bemerkte erst jetzt richtig, dass sie gerade so in Gedanken versunken gewesen war, dass sie den Schal in ihren Händen angestarrt hatte. "Lass den Unsinn", murmelte sie dann so leise, dass nur sie es hörte, und drehte sich dann um, um kurz ihrer Tochter nachzugehen. Wenn der Schal hier drinnen lag, bedeutete das, dass Ildrun ihn nicht trug. Und das würde sich jetzt ändern.

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