Tiberios, der den Befehl bekommen hatte, sich zurückzuziehen, verneigte sich tief und wortlos. Dann ging er, während immer noch das Geräusch der zufallenden Tür in seinem Geist widerhallte.
Und auch der feste Vorsatz, immer und überall das Gute zu sehen „Wenigstens hat mich Tarkyaris nicht über Bord werfen lassen“, verhinderte nicht das Gefühl von selbst herbeigeführtem Scheitern.
Dieser grünäugige Kapitän im Zentrum seiner Macht war niemand, der seine Zeit mit Zauderern verlor; Laues spie er aus.
Tiberios kroch zurück in den Schiffsbauch, woher er gekommen war, und schlang die Arme um seine Knie. Er starrte in die Dunkelheit.
Auch nicht jeder Schreiber hatte ein gutes Leben; es gab unzählige, die in den Kopierstätten dahinvegetierten, buchstäblich an ihren Pult gekettet, im Sonnenlicht oder beim Schein einer Öllampe. Stunde um Stunde in gebeugter Haltung Schriftrollen kopieren und kaum aufstehen dürfen, ein Leben, dass die Betreffenden fast so zu Grunde richten konnte wie der Dienst in einem Lupanar. Austauschbar sein wie ein Zahnrädchen in einem der automata, die er aus Alexandria kannte, dem jungen Sklaven grauste es tüchtig.
Dann dachte er an die Menschen, die er in seinem früheren Leben gekannt hatte, und zu seiner eigenen Überraschung wünschte er sich am sehnlichsten Scatos Sklaven Terpander herbei. Vielleicht weil Terpander kein Mitgefühl gezeigt hätte, im Gegenteil, Hohn und Spott hätte der alte Spartiate über Tiberios Haupt ausgegossen und ihm genüsslich vor Augen geführt, wie dumm er gewesen war. Tiberios fand sich selbst gerade auch fürchterlich dumm.
Die Corbita trug ihn derweil immer weiter nach Osten, immer weiter weg von Roma. Ab und zu sah er durch die Spalte in der Schiffswand. Sie allein gab ihm die Information, ob Tag oder Nacht war oder ob Land in der Nähe oder nur Wasser sie umgab. Diese unruhig gezackte Öffnung, durch das das Sonnenlicht flirrte und Kringel auf seine Hände malte, wurde zum Mittelpunkt seines Daseins.
Nach dem zweiten Sonnenaufgang tauchte eine neue Insel schemenhaft auf; bergig, zerklüftet; eine Ahnung von Kiefernduft mischte sich in die Ausdünstung des Viehs und der Menschen, und Tiberios vermutete, dass sie Rhodos passierten.
Er erzählte den Kindern eine neue Geschichte: "Es war einmal eine schöne Nymphe namens Rhode, die besaß eine fruchtbare Insel mit Bergen, Wasser und Kieferwäldern. Als Helios mit seinem Sonnenwagen vorbeifuhr, da sah er….“
„...Rhode und verliebte sich in sie?“, fragte eines der Kinder.
Tiberios musste lachen: „Nein, nicht sofort. Ihm gefiel nur die Insel. Er erbat sie sich von Göttervater Zeus und nannte sie Rhodos nach der Nymphe. Später erst verliebte er sich in Rhode, heiratete sie und sie hatten sieben Söhne, die heliadai. Der Älteste der Heliadai hatte wiederum drei Söhne: Kameiros, Ialysos und Lindos, und jeder von ihnen gründete eine Stadt. Die Städte existieren bis auf den heutigen Tag.“
„Dürfen wir die Städte sehen?“
„Heute nicht, ein andermal vielleicht.“, erwiderte Tiberios.
Nach Art der Schiffer sich in Landesnähe haltend fand die Corbita des Tempelfürsten ihren Weg. Ab und zu zogen näher oder ferner Felsen vorbei. Aber Tiberios kannte die Namen der Orte nicht.
Erst am siebten Tag nach Rhodos, wenn er sich nicht verzählt hatte, zeigte ihm seine Freundin, der Riss in der Planke, steil aufragende Felsenformationen, die wie von Menschenhand herausgemeißelte Ausbuchtungen besaßen.
Tiberios vermutete, dass sie die Provinz Lycia et Pamphylia erreicht hatten.
Vielleicht war dies die Stadt Myra, eine alte Gründung des Volkes der Lykier, die berühmt für ihre in luftigen Höhen errichteten Gräber war, und das hier waren einige der Gräber. Die Lykier glaubten anscheinend an eine Art Vogel-daimon, der sie nach ihrem Tod in die Himmel trug.
Doch die im Schiffsbauch ausharrenden Sklaven bekamen von Myra, seinen Grabstätten oder dem Heiligtum der Artemis Eleutheris nichts weiter zu Gesicht.