[Mare Nostrum] Die dunkle Ferne

  • Tiberios, der den Befehl bekommen hatte, sich zurückzuziehen, verneigte sich tief und wortlos. Dann ging er, während immer noch das Geräusch der zufallenden Tür in seinem Geist widerhallte.


    Und auch der feste Vorsatz, immer und überall das Gute zu sehen „Wenigstens hat mich Tarkyaris nicht über Bord werfen lassen“, verhinderte nicht das Gefühl von selbst herbeigeführtem Scheitern.


    Dieser grünäugige Kapitän im Zentrum seiner Macht war niemand, der seine Zeit mit Zauderern verlor; Laues spie er aus.
    Tiberios kroch zurück in den Schiffsbauch, woher er gekommen war, und schlang die Arme um seine Knie. Er starrte in die Dunkelheit.
    Auch nicht jeder Schreiber hatte ein gutes Leben; es gab unzählige, die in den Kopierstätten dahinvegetierten, buchstäblich an ihren Pult gekettet, im Sonnenlicht oder beim Schein einer Öllampe. Stunde um Stunde in gebeugter Haltung Schriftrollen kopieren und kaum aufstehen dürfen, ein Leben, dass die Betreffenden fast so zu Grunde richten konnte wie der Dienst in einem Lupanar. Austauschbar sein wie ein Zahnrädchen in einem der automata, die er aus Alexandria kannte, dem jungen Sklaven grauste es tüchtig.


    Dann dachte er an die Menschen, die er in seinem früheren Leben gekannt hatte, und zu seiner eigenen Überraschung wünschte er sich am sehnlichsten Scatos Sklaven Terpander herbei. Vielleicht weil Terpander kein Mitgefühl gezeigt hätte, im Gegenteil, Hohn und Spott hätte der alte Spartiate über Tiberios Haupt ausgegossen und ihm genüsslich vor Augen geführt, wie dumm er gewesen war. Tiberios fand sich selbst gerade auch fürchterlich dumm.


    Die Corbita trug ihn derweil immer weiter nach Osten, immer weiter weg von Roma. Ab und zu sah er durch die Spalte in der Schiffswand. Sie allein gab ihm die Information, ob Tag oder Nacht war oder ob Land in der Nähe oder nur Wasser sie umgab. Diese unruhig gezackte Öffnung, durch das das Sonnenlicht flirrte und Kringel auf seine Hände malte, wurde zum Mittelpunkt seines Daseins.

    Nach dem zweiten Sonnenaufgang tauchte eine neue Insel schemenhaft auf; bergig, zerklüftet; eine Ahnung von Kiefernduft mischte sich in die Ausdünstung des Viehs und der Menschen, und Tiberios vermutete, dass sie Rhodos passierten.


    Er erzählte den Kindern eine neue Geschichte: "Es war einmal eine schöne Nymphe namens Rhode, die besaß eine fruchtbare Insel mit Bergen, Wasser und Kieferwäldern. Als Helios mit seinem Sonnenwagen vorbeifuhr, da sah er….“


    „...Rhode und verliebte sich in sie?“, fragte eines der Kinder.


    Tiberios musste lachen: „Nein, nicht sofort. Ihm gefiel nur die Insel. Er erbat sie sich von Göttervater Zeus und nannte sie Rhodos nach der Nymphe. Später erst verliebte er sich in Rhode, heiratete sie und sie hatten sieben Söhne, die heliadai. Der Älteste der Heliadai hatte wiederum drei Söhne: Kameiros, Ialysos und Lindos, und jeder von ihnen gründete eine Stadt. Die Städte existieren bis auf den heutigen Tag.“


    „Dürfen wir die Städte sehen?“


    Heute nicht, ein andermal vielleicht.“, erwiderte Tiberios.


    Nach Art der Schiffer sich in Landesnähe haltend fand die Corbita des Tempelfürsten ihren Weg. Ab und zu zogen näher oder ferner Felsen vorbei. Aber Tiberios kannte die Namen der Orte nicht.

    Erst am siebten Tag nach Rhodos, wenn er sich nicht verzählt hatte, zeigte ihm seine Freundin, der Riss in der Planke, steil aufragende Felsenformationen, die wie von Menschenhand herausgemeißelte Ausbuchtungen besaßen.

    Tiberios vermutete, dass sie die Provinz Lycia et Pamphylia erreicht hatten.

    Vielleicht war dies die Stadt Myra, eine alte Gründung des Volkes der Lykier, die berühmt für ihre in luftigen Höhen errichteten Gräber war, und das hier waren einige der Gräber. Die Lykier glaubten anscheinend an eine Art Vogel-daimon, der sie nach ihrem Tod in die Himmel trug.

    Doch die im Schiffsbauch ausharrenden Sklaven bekamen von Myra, seinen Grabstätten oder dem Heiligtum der Artemis Eleutheris nichts weiter zu Gesicht.

  • Myra oder Mina oder so ähnlich



    Unter den Kindern gab es ein kleines Mädchen, es war noch sehr jung, vielleicht erst zwei, vielleicht schon drei Jahre alt, das noch nicht richtig seinen Namen sagen konnte; die anderen Kinder sagten, dass es Myra wie die Stadt, die sie passiert hatten oder Mina hieße. Es war ein schüchternes, kleines Ding. Soweit Tiberios es mitbekam, hatte sie keine Verwandten an Bord.


    Die Corbita hatte o Issokos kolpos oder das Mare Issicum erreicht und somit die Provinz Cilicia, Kilikien. Ihr zu Rechten schraubte sich das südlichste, weit vorladende und sichtbare Vorgebirge des rauhen Kilikiens und zugleich das südlichste Kleinasiens in den blauen wolkenlosen Himmel. Die gleichnamige Stadt am Ostabhang hieß Anemurion.

    Gegenüber in der Ferne lag Kypros - Zypern, zwar zwei Tagesreisen entfernt, aber doch ab und zu sichtbar wie ein bläulicher Schatten, der sich aus spiegelglatter Meeresoberfläche erhob.


    Während Tiberios über Anemurion nichts zu sagen wusste, kannte er über Zypern, welches voller Wälder und reich gesegnet an Klatschmohn, Anemonen, Narzissen und Orchideen war, viele Geschichten. War die Insel doch der Göttin der Liebe heilig.

    Muse, sage mir die Werke der goldenen Aphrodite,

    Herrin auf Kypros;
    süßes Verlangen weckt sie den Göttern,

    überwältigt der sterblichen Menschen Geschlechter*


    Myra oder Mina aß schlecht und auf halber Strecke zwischen den Küstenstädten Anemurion und Korykos wollte sie auch kein Wasser mehr trinken. Niemand wusste, ob sie krank war, sie klagte nicht und sie sprach nicht. Ihr ganzes Gesicht fiel spitzmäusig ein, und ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen.

    Das Mädchen starb so ganz still und leise, als wäre es nur von einem Zimmer in ein anderes gehuscht.

    Tiberios, der selten um Worte verlegen war, bemerkte es als erster. Er fand keine Worte, er ging die Stiege hoch und sagte den Piraten Bescheid. Da er der Älteste war und die Kinder ruhig hielt, ließ man ihn gewähren – wohin hätten sie auch laufen sollen?


    Der Pirat nickte nur, nicht einmal unfreundlich, sondern ungeheuer gleichgültig; wenig später kamen zwei von ihnen, holten den kleinen Leichnam, um ihn über Bord zu werfen.


    Tiberios hatte nie Mitleid mit anderen Unfreien gehabt, und das hatte er auch jetzt nicht. Sein Leben als furischer Maiordomus hatte sich von denen, die auf den großen Latifundien oder in Bergwerken oder auch bei der Straßenreinigung dienen mussten, immer grundlegend unterschieden; natürlich wollte jeder gut behandelt oder sogar geliebt werden, aber niemals hatte er die Masse der gesichtslosen servi als seinesgleichen empfunden. Wäre er zur Zeit des Sklavenaufstandes bereits in Roma gewesen, hätte er sich der Rebellion gewiss nicht angeschlossen. Tarkyaris jedoch hatte die anderen als „seinesgleichen“ genannt, und der Grieche überlegte, ob da etwas Wahres dran war: Waren sie denn seinesgleichen? War Myra oder Mina seinesgleichen?


    „Wo ist Mina?“, fragte eines der älteren Kinder, als er zurückkam, und Tiberios erzählte ihnen statt einer Antwort die Geschichte von Kleobis und Biton, den Söhnen der Kydippe.

    „Es waren einmal zwei Brüder, die waren sehr stark und liebten sich und ihre Mutter. Ihre Mutter war eine Priesterin der Hera und sollte den Opferwagen fahren.

    Da ihre Ochsen noch nicht vom Feld zurückgekehrt waren, spannten sich die Jungen ein und zogen den Wagen die Strecke bis zum Heiligtum. Dort schliefen sie müde ein, und ihre Mutter betete zu Hera, sie solle ihnen das Beste geben, was ein Mensch erhalten könnte.

    Daraufhin sind sie nie wieder aufgewacht.

    Thnatoisi me phynai pheriston - Für die Sterblichen ist nicht geboren zu werden das Beste, schreibt schon Bakchylides von Keos **, doch wenn das nicht möglich ist, ist es wohl das zweitbeste, jung zu sterben.“


    Er lächelte leichthin den Kindern zu.


    Myra oder Mina war tot und würde niemals wiederkehren. Sie hatte wenig bedeutet, leicht war sie gegangen, und doch: In dieser Nacht fühlte sich der Sklave unter einem grausamen, kalten Himmel. Das Grauen angesichts der Endlichkeit der Existenz nahm ihm fast den Atem. Wie würde es sein, wenn die kleine Stimme verstummte, die ihm permanent sagte: Du bist hier.

    Und er erinnerte sich an die Worte des Magus Anis von Alexandria, in dessen Halle er einst an einer Totenbeschwörung teilgenommen hatte:

    „Die Toten sind wie gefallene Blätter im Herbst,

    Schatten ihres früheren Selbst….

    ....Man erzählt, ein ehemaliger König

    auf Erden würde seine ganzen Reichtümer, die er während seiner
    Herrschaft angehäuft hat, freudig eintauschen
    ,

    um nur noch
    einmal eine Stunde zu leben,

    und wenn es als der Geringste
    seiner Sklaven wäre.“***


    Erst als der Morgen graute, fand Tiberios seine Gemütsruhe wieder. Sie näherten sich der nächsten kilkilischen Stadt, und er nahm an, dass es Korykos war, welches der römische Geograph Pomponius Mela**** vor ungefähr achzig Jahren beschrieben hatte.


    Die korykion andron, zwei tiefe Grotten, die in der Nähe der Stadt lagen, waren der Sage nach Wohn - und Geburtsort von Typhon, dem schrecklichen Sohn der Gaia mit Tartaros, der geboren worden war, um die Niederlage der Titanen an den olympischen Göttern zu rächen.


    Tiberios erzählte am nächsten Nachmittag den Kindern eine ziemlich aufregende und lange Geschichte von Typhon, dem Monster mit dem Schlangenunterleib und den hundert schlangenförmigen Armen, dem es gelang, dem großen Zeus seine Sehnen herauszuschneiden und seinen Blitz zu stehlen, und wäre Hermes Zeus nicht beigestanden hätte, hätte der Zweikampf für den Göttervater schlecht enden können...

    „Und das ist alles hier in Korykos geschehen.“, endete er: "Aber keine Sorge, Typhon kann uns nichts tun. Er ist nun weit weg von hier. Zeus hat ihn unter dem Aetna, das ist ein Berg in Sicilia, eingekerkert.“


    Es schien so, als wäre Myra oder Mina schnell vergessen gewesen.
    Aber sie blieb etwas, was tief im Inneren des Griechen sitzen blieb so wie Zeus hilf und waffenlos auf dem Grund der kilkilischen Grotte gesessen hatte.


    Sim-Off:

    * Homer:Ode an Aphrodite
    **Bakchylides von Keos
    *** Diese Geschehnisse finden sich hier
    **** Pomponius Mela

  • Von Delos aus führte die Fahrt weiter nach Corinthus. Auf der Landseite der Peleponnes fuhr die Corbita entlang, anstatt sie außen auf der Seeseite zu umrunden. Für Vergnügungsausflüge ließ Tarkyaris seiner kleinen Mannschaft wenig Raum, die Männer hatten zu arbeiten und er schätzte keine Trunkenheit.


    Unterwegs wurde ein Teil der Sklaven verkauft, ein anderer kam an Bord, ausnahmslos von anmutiger Gestalt und binnen der letzten Jahre in den musikalischen Künsten ausgebildet, so dass Tarkyaris sie in Roma an betuchtere Kunden vermitteln konnte. Sie trugen Instrumente bei sich, so dass ihre künftigen Herren sich vom ersten Tag an ihrer musikalischen Fähigkeiten erfreuen konnte. Ihnen war gestattet, an Bord zum Zeitvertreib zu musizieren und ein Teppich zarter Klänge erfüllte bald das kleine Schiff. Diese Sklaven erwartete ein behütetes Leben und wenigen war das Herz schwer. Doch hielten sie einen gewissen Abstand zu jenen Sklaven ein, die sie bereits im Rumpf vorfanden.


    Auch unter diesen Neuzugängen rief Tarkyaris sich nacheinander zwei in seine Kajüte zu einer persönlichen Unterredung, doch vermochte keiner, seinen Ansprüchen zu genügen und er schickte sie, gelangweilt von ihrer Ersetzlichkeit, zu den übrigen zurück.


    Es kam der Tag, da sie das Mare nostrum queren mussten. Tigranes beobachtete das Wetter mit den Augen eines erfahrenen Seemanns und hielt Rücksprache mit den Bewohnern ihres letzten Aufenthaltsortes an der nördlichen Peleponnes. Niemand kannte die Winde und Stürme vor Ort so gut wie jene, die seit der Kindheit mit ihnen lebten. Nach einer Wartezeit von zwei Tagen nutzte die Corbita ein Wetterfenster, um ins offene Meer zu stechen. Von dem Tag an, da sie die Küste aus dem Blick verloren, war Tarkyaris krank. Die offene See barg etwas, dass ihm die Lebensenergie aus den Adern saugte. Er aß nichts, da sein Körper es nicht behalten hätte und verbarg sich in seiner Kajüte. Nach drei Tagen des Elends ließ er erneut mit einer Schale Milch nach Tiberios schicken und ihn nach der Waschung zu sich rufen.


    Bleich saß der Cappadox in seinem Stuhl, der wie jedes Möbelstück am Boden verankert war, so dass er bei Seegang nicht rutschen konnte, gepeinigt von der Unkontrollierbarkeit der See. Mochte jeder zivilisierte Mensch, der diese Bezeichnung verdiente, vor ihm das Haupt neigen oder in Respekt zu ihm aufsehen - der Ozean tat es nicht. König Xerxes hatte einst Fußschellen in den Hellespont geworfen* und die Wellen auspeitschen lassen, als das Meer seine Pläne durchkreuzte, doch geholfen hatte ihm dies nichts. Auch ein Mann, der Menschen und Land kaufen konnte, der die Geschicke eines jeden in seinem Umfeld zu lenken gewohnt war, musste sich vor der See in Demut üben wie vor einer Göttin.


    "Unterhalte mich", befahl der Fürst und meinte: Lenke mich ab von dem, was unter diesen Planken lauert.


    Einen Musikanten oder eine Tänzerin hatte er nicht zu diesem Zwecke rufen lassen - ihre Künste genügten nicht, um die kalten Klauen der See von seinem Herz zu lösen, die es zusammendrückten und bei jedem Herzschlag schmerzen ließen.


  • Die Musik, die Musenklänge, Huldigungen an Polyhymnia und Euterpe,waren in manchen Stunden zu hören wie ein Gruß aus einer anderen Welt, die Tiberios, obwohl nicht einmal Wochen vergangen waren, fast vergessen hatte.

    Schwerelos und lieblich streiften die Melodiefetzen über Deck, und die jungen Sklaven unter Deck lauschten. Manche von ihnen weinten, als die Musik verstummte, ohne dass sie genau hätten sagen können warum.


    Als man Tiberios nun zum zweiten Mal eine Schüssel Wasser und Milch brachte, und er zu Tarkyaris gerufen wurde, nutzte er das aus und wusch sich so gründlich wie er das ohne strigilis oder Salböl vermochte, auch seine Haare.

    Dann widerstrebte es ihm, schmutzige Kleidung auf einen sauberen Leib zu ziehen, so dass er sich seine Tunika, nur um die Schultern schlang und nur seine perizoma wieder anlegte.

    Da kyriosTarkyaris seine Anwesenheit verlangte, überlegte er, was von ihm gewünscht werden konnte. Etwas Schlimmes erwartete ihn wohl nicht sofort, sonst wäre es nicht sinnvoll gewesen, dass er sauber sein sollte. Das Schiff fuhr auch nicht unter einem Unwetter, welches ein größeres Opfer an Poseidon erfordert hätte..... wieder unterbrach Tiberios seinen eigenen Gedankengang. Er wusste schlicht nicht, was ihn erwartete. Tarkyaris war ihm undurchschaubar. Sowohl Kapitän Doniy als auch der düstere Baraq hatten ihn offensichtlich gefürchtet.


    Der Himmel wölbte sich über dem Deck in tiefem Blau, die Luft war belebend, salzig und frisch. Tiberios atmete tief ein, er war nicht so geblendet wie beim ersten Mal auf Deck, da die Spalte in der Wand, seine alte Freundin, ihm ab und an Sonnenschein gespendet hatte.
    ...Die Holzplanken unter seinen Füßen, das Wiegen der Schiffleibes, das Ächzen der Taue und Knattern des Segels, die Stimmen der Seeleute.....


    Er fühlte, wie das Leben in ihn zurückkehrte, wunderbares Leben.

    Wie nur sollte man ein Philosoph sein, wie frei von Gemütsbewegungen, wenn man so gerne existierte?


    Dem jungen Sklaven war alles andere als stoisch zumute. Sein Blut strömte rascher durch seine Adern, seine Wangen röteten sich, und sein Herz schlug ihm bis zum Halse, als er daran dachte, wieder vor Tarkyaris zu stehen. Tarkyaris war schlank und von mittlerer Größe, er sprach sehr gewähltes koine, sein Auftreten war weder lärmend noch barbarisch. Der Piratenkapitän hatte ihn "rex", König genannt.

    Nicht nur undurchschaubar war er ihm, sondern geradezu beunruhigend.


    Tiberios begab sich zur Kapitänskajüte, klopfte sachte an, trat ob der Schiffsbewegung etwas schwankend ein und verneigte sich:

    „Chaire o Herr Tarkyaris“, sagte er leise.


    Sein neuer Dominus saß in seinem Stuhl.
    Er war so bleich als hätte er Bleiweiß aufgetragen, aber das war keine Schminke, sondern der Hautton eines Mannes, der litt. Seine grünen Augen schienen dem jungen Griechen wie ein Morast, etwas Altes und Unaussprechliches lag auf ihrem
    Grund; etwas, das Linderung suchte.

    „Unterhalte mich“, befahl der Fürst auch schon.


    Tiberios war also gerufen worden, das Unaussprechliche zu bannen und zu vertreiben, zumindest für ein Weilchen.

    Es gab Musikanten und Tänzerinnen an Bord, jeder einzelne begabt, hervorragend und anmutig. Wenn Tarkyaris sie nicht gerufen hatte, dann erwartete er etwas anderes, als ihm ein choritis* bieten mochte.


    „Lass mich zunächst für deine Bequemlichkeit sorgen, Herr“, sagte Tiberios und schaute sich um, er brauchte ein kleines Kissen, kein großes Polster, welches den Sitzenden zwang, eine gebeugte Haltung einzunehmen, sondern eines, das das Kreuz stützte, damit Tarkyaris freier atmen konnte. Da er keines erblickte, das seinen Zwecken diente, nahm er seine Tunika von der Schulter und rollte sie ein:


    „Ich kann dir etwas vortragen, ein Gedicht oder einen Auszug aus einem philosophischen Werk, auf Griechisch oder auf Latein.
    Auch einige Theaterstücke habe ich gerlernt.
    " , sprach der Sklave, während er behutsam die Rolle seinem Herren ins Kreuz schob:

    „Oder möchtest du dich über dies und jenes unterhalten?"


    Tiberios dachte kurz, dass dies die gefährlichste aller Optionen war. Seine Stellung war nicht die eines vertrauten Dieners. Sollte Tarkyaris tatsächlich ins Reden kommen, und er plötzlich der Mitwisser von Geheimnissen sein, wäre es mit ihm vorbei.

    Est sine dubio stultum, quia quandoque sis futurus miser, esse iam miserum*, dachte er an Seneca und beschloss also, über jegliche Entscheidung seines neuen Herren weder glücklich noch unglücklich zu sein, so wie auch ein Stein, wenn er geworfen wurde, weder das eine noch das andere war:


    "Wir haben Myra passiert, nicht wahr? Und Anemurion und Korykos, dort wo Typhon geboren wurde. Ich weiß es nicht sicher, ich riet es nur anhand von Silhouetten, der Entfernung und aus dem, was ich über diese Hafenstädte gelesen habe….“

    Er trat einen Schritt zurück:


    „Nach was steht dir der Sinn, o déspota? Etwas Heiteres vom Lande? Die Kinder singen von altersher, wenn die Schwalben im Frühling zurückkehren...“,

    er begann den Anfang einer chelidónisma ***, eines Schwalbenliedes:

    Ēlth’ ēlthe chelidōn.....

    es kam, es kam die Schwalbe...

    schöne Zeiten bringend und schöne Jahre,
    auf dem Bauche weiß
    und auf dem Rücken schwarz.

    In Alexandria kamen die Schwalben allerdings im Winter. Und der warme, regenfeuchte Zephyros, der Westwind, ist der anmutigste der Winde...und doch, auch er kennt Eifersucht und lenkte den diskos des göttlichen Apollon so, dass er den Hyakinthos tötete, den er doch auch liebte.

    Das Fest Hyakinthos zu Ehren, die Hyakinthia von Amyklai, ist am ersten Tag traurig, da der Knabe beweint wird, und am Folgetag fröhlich, denn man feiert seine Auferstehung....."


    Tiberios lächelte nun verhalten und seine Augen glänzten, während er wie versprochen über dies und jenes plauderte.

    Da sie nur zu zweit waren, hielt er sich auch bereit, dem Tempelfürsten aufzuwarten, auf einen Wink mit dem Becher oder eine Geste hin, und ihm zuzuhören, und er bat:

    „Würdest du mir auch über die Schönheiten deiner Heimat berichten, Herr?“



    Sim-Off:

    *Chorsänger
    **Es ist unstreitig töricht, weil man vielleicht einmal unglücklich sein wird, es deswegen jetzt schon zu sein.Sen.epist.24,1
    ***Chelidonisma
    **** Hyakinthia

  • Tarkyaris hielt still, als Tiberios ihm die eigene Tunika hinter das Kreuz legte, so dass der Fürst bequemer saß. Diese simple Geste nahm viel von der körperlichen Anspannung des Tempelfürsten und wie es die Gesetze wollten, schwand auch die Anspannung des Geistes um ein kleines Stück, als der Körper sich entspannte.


    Kaum war es zu glauben, doch die Finsternis, aufsteigend aus den Tiefen, wich im Licht der weißen Haut. In der Nacktheit des Tiberios lag nichts Obszönes. In einer Leichtigkeit und Natürlichkeit bewegte er sich, als würde Kleidung etwas sein, dessen er nicht bedurfte. So erinnerte sie Tarkyaris an die sphärische Unschuld der Sklavenkinder, die noch zu klein waren, ihren Eltern zu helfen und sich unbeschwert von Pflicht und Kleidern ihres Lebens freuten, wenn die Sonne warm auf Cappadocia schien, während er selbst sich in seinen Pflichten schon als Kind angekettet fühlte, als sei er unfreier, als seine eigenen Sklaven es waren. Die schwerste Kette von allen hatte er eigenhändig durchtrennt und atmete seither freier, genoss die Fahrten mit dem Schiff in ferne Lande und das Leben, welches er in diesen begrenzten Zeiten führte. Doch die Ketten, die sein Herz und seinen Geist gefangen hielten, waren nicht mit herkömmlichen Mitteln zu durchtrennen.


    Träumerisch versunken in bittersüßer Wehmut schwelgte er in den Worten des Sklaven und der Traum, der ihn zart umsponn, endete erst, als Tiberios Tarkyaris ansprach. Doch dieser antwortete zunächst anders, in keiner Relation zur Fragestellung:


    "Edles Geschöpf, das du bist. Dich zu verkaufen, fällt mir nun nicht mehr leicht, da du dich in deiner Gänze offenbart hast. Zum Zeichen meiner Wertschätzung möchte ich dir jedoch vor unserem Scheiden einen Rat mit auf deinen Weg geben.


    Dem Hyakinthos bist du nicht unähnlich und bedenke stets - die Besten sterben jung. So ist es in Legenden, so ist es real. Nicht, weil die Götter ihre Favoriten ungeduldig bei sich wissen wollen, wie man es gemeinhin erzählt, sondern weil die Neider sie zu Fall bringen. Die mindere Brut, die vor Niedertracht nicht ertragen kann, dass jemand so gut, so fähig und so schön ist, wie sie es niemals sein werden! Neid ist die gefährlichste Eigenschaft der Menschen, noch vor dem Hass. Hüte dich, Tiberios. Nicht vor mir, sondern vor denen, die schlechter sind als du. Niemand ist ein so verbissener Feind wie Rivale, dessen Herz von Neid vergiftet wurde. Also halte die Augen stets offen."


    Über Neid und Niedertracht war auch Tarkyaris keineswegs erhaben, doch hatte er von Kindesbeinen an gelernt, sich hinter den plumpen Gefühlsregungen zu beherrschen bis hin zur völligen Maskerade, unter der er selbst sich nicht mehr fand. Er war Tarkyaris, der Tempelfürst, auf dem Meer nannte man ihn Rex - doch wer die Person hinter all diesen Funktionen war, das wusste er selbst nicht mehr. Eine Ahnung glaubte er zu spüren, als er die Unbeschwertheit des Sklaven sah, eine Rückversetzung in die eigene Kindheit, als noch mehr Mensch in ihm übrig gewesen war als heute.


    "Von der Schönheit meiner Heimat möchtest du hören. Wohlan, so höre. Man sagt, Wind und Feuer haben Cappadocia geformt. Sein Antlitz ist trocken und staubig, wild und zäh. Die Tempelstaaten sind darin gleich Sternen am finsteren Firmament, Lichtblicke peregriner Zivilisation. Cappadocia ist außer Achaia vielleicht die einzige Provinz, die nach ihrer Eroberung keine Romanisierung nötig hatte, da es nichts gibt, was die Römer uns lehren könnten. Wir kannten die Zivilisation bereits, als der Gründervater Roms noch an den Zitzen einer Wölfin hing.


    Kein anderes Land wird von den Göttern so geliebt wie das unsere. Und so mag es nicht verwundern, dass die Söhne der Götter dort ihre Wohnsitze errichteten. So auch Aias, der das Priestergeschlecht der Teukriden begründete. Erkennst du den Namen? In vorhellenischer Zeit wurde in Cappadocia der Wettergott Tarku verehrt, an dessen Stelle später Zeus Olbios trat. Der Göttervater, blitzeschleudernd - es ist die selbe Entität. Der Name, unter welcher wir sie ehren, ist ihr einerlei. Zeus und Tarku sind eins, doch der Name Tarku ist älter und edler.


    Nach Tarku benannte sich auch das Geschlecht der Teukriden, das in Olba residierte und vor dreihundert Jahren praktisch ganz Kilikien beherrschte. Hast du gewusst, dass Olba das finale Refugium des letzten Seleukidenzweiges war? Das Heiligtum selbst erhielt unter Kaiser Tiberius Stadtrechte und wurde Polis. Allerdings verloren die Teukriden ihren Einfluss wieder, als Vespasian die Provincia Cilica errichtete und die Verwaltung auf römische Weise umstrukturierte und die Grenzen neu zog. Du siehst, die Geschichte Cappadocias ist so wechselhaft und wandelbar wie die Elemente, die unser Land formten. Doch wir haben gelernt, ebenso wandelbar zu sein.


    Und bald, lieber Tiberios, wirst du beweisen, dass du selbige Kunst beherrschst, wenn ein neuer Herr für dich gefunden wurde und ein neuer Lebensabschnitt für dich beginnt."

  • Tiberios lauschte als er gelobt wurde mit einem stillen, in sich gekehrten Lächeln.

    Er freute sich, weil ihm gelungen war, weshalb man ihn gerufen hatte: Tarkyaris Geist zu zerstreuen, ihn abzulenken von dem, was ihn bedrückte.


    „Aias, ob ich den Namen erkenne? Der große Held der Griechen vor Troja. Teukros war sein Bruder. Der Geschichtsschreiber Strabon benennt Teukros und die Teukriden in Olba.

    Teukros und Tarku und Tarkyaris, Herr, sind heilige Namen gleichen Ursprungs, und du hast Recht, sie sind älter als Roma Aeterna, älter als Alexanders Stadt bei Aegypten, und sie sind älter als die Danaer, auch wenn wir behaupten, Aias wäre einer von uns gewesen“, sagte er lebhaft:

    „Auch in der korkyschen Grotte wird Typhoneus Tarkyaris verehrt, älter als Zeus, denn ihm brachte man noch Menschenopfer, bevor das im ganzen Imperium verboten wurde."

    Doch was war das Verbot einer neuen Verwaltung gegen die Macht uralter Tradition?

    "Also sagt man seit tausend Jahren, dass dein Geschlecht göttlich ist, Herr, doch was tust du dann unter den Sterblichen?“


    Als Tiberios das aussprach, wusste er selbst, dass er bei Herr Tarkyaris nicht bleiben konnte.

    Die Moiren hatten sein unbedeutendes Schicksal mit dem der römischen Furier verwebt. Er konnte genauso wenig zwei Herren dienen, wie Tarkyaris einen Diener akzeptieren konnte, der ihm nicht ganz und gar zu eigen war. Er hätte den Cappadokier lieben können, wäre er ihm nur früher im Leben begegnet.

    Doch um das Unabänderliche lohnte es sich nicht, unglücklich zu sein. Er ging daran, Abschied zu nehmen, denn er ahnte, dass er Herr Tarkyaris nicht wieder sehen würde, vielleicht nicht mehr in diesem Leben, doch gewiss nicht mehr auf dieser Reise:


    „Fürst von Wind und Feuer, aus dem Geschlecht der Götter“, sprach Tiberios: „Du hast mich, deinen Sklaven, mit deinem Rat geehrt, und ich danke dir von Herzen dafür."


    Noch einmal hob er den Blick, sich das edle Gesicht mit den grünen Augen einzuprägen.

    Ein wenig war es ihm, als würde er einem der Gestalten aus Homers Epen begegnen, wie sie schon lange nicht mehr unter der Sonne wandelten:

    Andra moi ennepe, Mousa, polỵtropon, hos mala polla....** Und doch musste Tarkyaris ein Mann aus Fleisch und Blut, getrieben von irdischen Leidenschaften, sein.


    Der Grieche wartete, ob er sich entfernen sollte, und er tat es mit einer tiefen Verbeugung.


    *


    Dann warteten der Fluss Pyramos und ein fremder Händler und eine mehrtägige Reise zu Wasser und zu Land, die aber diesmal keiner kleinen Myra oder Mina das Leben kosten sollte, auf ihn und dann schließlich der Sklavenmarkt von Caesarea, wo sich sein weiteres Schicksal entscheiden würde.



    Sim-Off:

    * gemäß Strabon XIV **Nenn mir Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes- Anfangsvers der Odyssee

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