Valetudinarium - Scatos Vortrag über die Säftelehre

  • Die Säftelehre

    Die Zeit war gekommen, da man sich vergewissern wollte, was Scato in seiner Zeit als Capsarius gelernt hatte. Neben der praktischen Arbeit hatte er auch viel Theorie gebüffelt, wobei ihm die Schriften geholfen hatten, die ihm einst Tiberios geschenkt hatte, ebenso wie Lurco und die Barackenbrüder, die ihn hatten regelmäßig abfragen oder als Testpatienten hatten herhalten müssen. Nun wurde es ernst. Um den Hals lagen all seine klimpernden Glücksbringer. Wenn Scato Miles Medicus werden wollte, musste er beweisen, was er beherrschte. So hielt er vor versammelter Mannschaft im Valetudinarium einen Vortrag über die Grundlagenlehre schlechthin - die Lehre der vier Säfte. Auch ein paar neue Capsarii waren dabei, die das Thema heute zum ersten Mal hörten.


    "Verehrte Anwesende", plärrte er. "Ich erzähle den meisten heute nichts Neues, aber vielleicht ist es zumindest interessant zu beobachten, wie ich mich abrackere. Legen wir los. Unsere moderne Heilkunde basiert im Wesentlichen auf den Lehren der Hellenen. Der wichtigste Arzt aller Zeiten war wohl Hippokrates, weil er die Bedeutung der vier Körpersäfte erkannte, über die ich heute doziere."


    Nervös sah er in die Runde. Die Blicke der Anwesenden machten ihm den Umstand, dass man heute sein Wissen prüfte, deutlich bewusst. Er verschränkte die Finger, damit man nicht sah, dass sie zitterten.


    "Betrachtete man die Gesundheit bis dahin als von den Göttern beeinflusst, erkannte Hippokrates, dass die Götter uns gleichsam Gesetzmäßigkeiten auf den Weg gaben, um unsere Gesundheit im gewissen Rahmen eigenverantwortlich beeinflussen zu können! Hippokrates verknüpfte die Gesundheit und Krankheit als erster mit den Naturgesetzen. Dank seiner Lehre müssen wir uns nicht mehr damit begnügen, die Symptome einer Krankheit zu behandeln und zu den Göttern zu flehen, sondern können den Ursachen auf den Grund gehen und damit einer Erkrankung vorbeugen!"


    Er ließ eine Pause, um zu Atem zu kommen. Er hatte vor Aufregung zu schnell gesprochen und nun fehlte ihm die Luft.


    "Natürlich gibt es Kritker dieser Lehre. Aber die Existenz der vier Säfte im menschlichen Körper ist ganz einfach zu beweisen. Dazu habe ich hier etwas vorbereitet."


    Scato wies auf das Glas mit dem Blut, das auf dem Tisch bereitstand.


    "Dies ist das Blut eines gesunden Mannes, das ich ihm vorhin mit einem Aderlass abgenommen habe. Danke an Sextus für die Spende, du hast was gut bei mir. Ich habe das Blut eine Stunde lang stehen gelassen, damit eine Sedimentation erfolgen kann."


    Scato zeigte mit dem Finger von unten nach oben auf die unterschiedlich gefärbten Schichten. Der Zeigefinger zitterte nun für alle offensichtlich, denn auch der Optio Valetudinarii wohnte seinen Ausführungen bei.


    "Wir erkennen deutlich eine viergeteilte Schichtung. Am Grund des Glases hat sich ein dunkles Gerinnsel abgesetzt. Das ist der Anteil der schwarzen Galle. Darüber sehen wir eine Schicht von rotem Blut, die etwa vierzig Prozent des Füllstandes ausmacht. Anschließend folgt eine dünne Schicht von weißem Schleim, die man jedoch nur erkennt, wenn man sehr genau hinsieht. Schlussendlich nimmt den größten Anteil die gelbe Galle ein, welche obenauf schwimmt."


    Sextus, der Scato viel von seinem Wissen beigebracht hatte, befand sich ebenfalls unter den Anwesenden - nicht nur als Blutspender, sondern auch als Mutspender. Scato registrierte dessen aufmunterndes Lächeln, was er jedoch nicht erwidern konnte, denn er war furchtbar verkrampft.


    "Die vier Säfte des Körpers entstehen an folgenden Orten im Körper:

    • Gelbe Galle - Leber
    • Schwarze Galle - Milz
    • Blut - Herz
    • Weißschleim - Gehirn

    Diese Leibessäfte sind die Lebensträger! Ihr Gleichgewicht ist die Voraussetzung für die Gesundheit eines Lebewesens. Krankheiten entstehen folglich aus einem Ungleichgewicht, der Dyskrasie. Das Gleichgewicht hingegen nennen wir Eukrasie.


    Das harmonische Mischungsverhältnis ist individuell verschieden. Man muss folglich jeden Patienten für sich betrachten. Beispielsweise sind Männer und Frauen dahingehend unterschiedlich. Beim Mann dominiert die Gelbgalle, bei der Frau der Weißschleim. Die Qualitäten der Säfte des Mannes sind folglich warm und trocken, die der Frauen hingegen kalt und feucht. Das erklärt ihre unterschiedliche Wesensnatur. Es zeigt aber auch, dass ihre Krankheiten, selbst wenn sie äußerlich gleich erscheinen, andere innere Ursachen haben können und unterschiedlich behandelt werden müssen."


    Der Optio nickte. "Wenn du schon dabei bist, erkläre uns doch bitte gleich alle Qualitäten."


    Das konnte Scato glücklicherweise. "Nach Hippokrates weisen die vier Säfte unterschiedliche Qualitäten der Wärme und der Feuchte auf:

    • Gelbe Galle - warm und trocken
    • Schwarze Galle - kalt und trocken
    • Blut - warm und feucht
    • Schleim - kalt und feucht."

    Je nach individuellem Säftehaushalt überwiegen die einen oder anderen Eigenschaften beim Menschen. So kann man mithilfe der Säftelehre nicht nur Krankheiten des Körpers, sondern auch Krankheiten des Geistes erklären, ihnen vorbeugen und sie behandeln. Womit wir schon zu den Therapiemöglichkeiten kommen.


    Man kann das Säftegleichgewicht positiv beeinflussen, indem man überschüssige Säfte gezielt ausleitet. Vier Wege sind uns bekannt, um sie auszuleiten:

    • Mund
    • Nase
    • After
    • Harnröhre.

    Die Diätik ist dazu das wohl alltäglichste und am einfachsten anzuwendende Mittel, denn die meisten Krankheiten entstehen durch falsche Ernährung. Sie nach Anleitung durch einen Medicus auch vom Laien gut in den Alltag integrierbar. Zu den weiteren Methoden gehören das Erbrechen, Entschlacken, der Aderlass und das Schwitzen. Nicht zuletzt kann eine Förderung der Ausscheidung durch harntreibende und stuhltreibende Kräutersude oder einen Einlauf erfolgen. Darüber hinaus kann man mithilfe von Schröpfen, kalten und warmen Wickeln, aber auch durch kalte und warme Bäder den Säftehaushalt positiv beeinflussen."


    Er schaute etwas hilflos in die Runde.


    "Das war`s", schloss er unelegant. "Gibt es weitere Fragen?"


    Nervös blickte er in Richtung des Optio valetudinarii. Natürlich gab es sie. "Wenn es uns durch die Säftelehre möglich ist, Krankheiten zu verstehen und zu heilen, welche Bedeutung haben dann die Götter noch für unsere Gesundheit?"


    Wie gemein! Scato war doch nur Capsarius. Er wollte kein Arzt werden und noch weniger ein Priester, sondern nur Arztsoldat! Und dann solche Fragen? Er verkniff es sich, die inzwischen schweißnassen Hände an seiner Tunika abzutrocknen und verschränkte sie erneut. Inzwischen zitterten seine Unterarme.


    "Zunächst muss festgestellt werden, dass den vier Säften nicht nur vier Organe und vier Qualitäten zugeordnet werden können, sondern auch vier Urstoffe und vier Götter! Alles ist in Vierersystemen angeordnet.

    • Gelbe Galle - Feuer - Zeus
    • Schwarze Galle - Erde - Hades
    • Blut - Luft - Hera
    • Schleim - Wasser - Persephone.

    Das sind alles griechische Götter, weil Empedokles, der sie so zuordnete, nun mal ein Grieche war, wie die meisten bedeutenden Ärzte. Daneben gibt es noch Götter wie Asklepios, die allgemein für die Heilkunst stehen und um Hilfe gebeten werden können. Generell ist es so, dass uns Menschen nur ein gewisser Rahmen bleibt, in dem wir handeln können, um zur Gesundung beizutragen. Wenn die Götter etwas anderes im Sinne haben, nützt der beste Medicus nichts. Dann muss der Patient sterben.


    Weitere Fragen?"


    Scato blickte nervös in die Runde, doch zur Antwort erklang nur ein Klatschen. Er hatte diesen Teil seiner Ausbildung geschafft.


    RE: [Baracke VII] >>

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