Endlich wieder daheim

  • Auch hier drin hatte sich nichts verändert, und so fand Hadamar den Weg ohne zu zögern ins Kaminzimmer, das es schaffte die Balance zu wahren zwischen Gemütlichkeit und gleichzeitig geeignet zu sein für offizielle Besuche, die man nicht unbedingt im Officium empfangen wollte.


    „Also, nochmal endgültig: Ich bin nicht nur zu Besuch hier, ich bin zur XXII versetzt worden.“ Er stellte sich neben Tariq und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Und das hier ist Tariq. Wir haben uns in Cappadocia kennen gelernt.“ Flüchtig überlegte er, was er jetzt genau sagen sollte. Dass er sein Mündel war? Dass er auf ihn aufgepasst, ihn unter seine Fittiche genommen hatte? War alles irgendwie richtig, ja – klang alles aber trotzdem irgendwie nicht ganz korrekt. Fand Hadamar jedenfalls. Also tat er das, was er in so einem Fall immer tat: er redete nicht um den heißen Brei herum, sondern kam einfach direkt auf den Punkt, den er für relevant hielt: „Tariq ist in den letzten Jahren zu Familie geworden für mich. Deswegen hab ich ihn auch gefragt, ob er mitkommt. Ich würd mich freuen, wenn ihr ihm hier genauso begegnet wie er mir in den letzten Jahren in Satala.“ Mal abgesehen von ihrem allerersten Aufeinandertreffen, aber das war nichts, was er jetzt gleich schon jedem auf die Nase binden würde. Er war sich noch nicht mal sicher, ob er das überhaupt jemandem erzählen, oder ob er es nicht einfach Tariq überlassen würde, wie viel er von seiner Vergangenheit preisgeben wollte – und wann genug Vertrauen dafür da war.

  • Tariq lächelte, als er die Begeisterung des Kleinen bemerkte. „Schön. Ja, anders ist es da. Du kannst … weiter schauen. Es gibt keine Bäume. Oder wenige Bäume.“ Darüber hatte er sich ziemlich gewundert auf dem Weg hierher. Wie viele Bäume es in Germanien gab. Es waren so unfassbar viele, sodass man eigentlich nie irgendetwas sah. Er fragte sich, wie man hier das Herannahen eines Feindes bemerken sollte. Er hatte Hadamar und Cimber eigentlich fragen wollen, aber abends war er dann immer sehr schnell eingeschlafen und hatte es vergessen. „Und es kommt Feuer aus dem Boden. Das kannst du in der Nacht gut sehen. Sehr schön.“ Ein Licht in der Dunkelheit. Das war sehr bedeutsam in seinem Land, in dem man der Dunkelheit zuschrieb, dass in ihr das Fremde hauste, das Böse. Aber das sagte er dem kleinen Farold nicht, er wollte ihm ja keine Angst einjagen. „Vielleicht kann ich dir mal eine Geschichte aus meinem Land erzählen. Aber auf Latein. Ist einfacher.“


    „Hispania? Das kenne ich nicht. Wo ist das?“ Dann musste er wieder grinsen, als Farold so nonchalant seine Meinung zu den Germanisch-Kenntnissen seiner Mutter zum Besten gab. „Ich sag nix“, versprach er und kniff dem Kleinen ein Auge. „Aber du lernst immer zuerst verstehen, dann sprechen.“ Als Tariq bemerkte, dass die Gruppe sich ins Innere des Hauses zu verlagern begann, erhob er sich wieder und wuschelte Farold durch die Haare. „Sieben, fast erwachsen!“ meinte er und versuchte, entsprechend beeindruckt zu klingen, weil Farold offensichtlich sehr stolz auf das in seinen Augen fortgeschrittene Alter war. Er schob den Kleinen unauffällig Richtung Porta und war froh, dass sie den Eingangsbereich hinter sich ließen. Denn mal wieder begann Wasser vom Himmel zu fallen. Das war auch so eine Sache, die er hier merkwürdig fand. Dieser viele, starke und ständig kalte Regen. Die Sonne schien auch kaum. Gut, es war Winter, aber trotzdem … kalte Winter war er aus seiner Heimat gewohnt, aber die waren nicht so nass. Wie sollte hier jemals etwas trocken werden?


    Dementsprechend erleichtert war Tariq, als sie ein Zimmer betraten, in dem ein großes Kaminfeuer flackerte. Sofort platzierte er sich in der Nähe. Als Hadamar ihn offiziell auch den anderen Damen und dem Bruder vorstellte, nickte er kurz zur Begrüßung. Dass er ihn vor allen anderen ganz offiziell als Familie bezeichnete, überraschte ihn genauso sehr wie es ihn stolz machte. Es war so gewesen, gerade in der näheren Vergangenheit, aber es war doch noch mal etwas anderes, es ausgesprochen zu hören. Er wunderte sich, warum Hadamar sagte, dass er - Tariq - viel für ihn in Satala getan hatte. Eher hatte es sich andersherum verhalten. Aber er wollte nicht öffentlich wiedersprechen, dazu kannte er die anderen zu wenig. Ohnehin wusste er nicht, ob jetzt von ihm erwartet wurde, dass er etwas sagte. Farold hatte er bereits ins Herz geschlossen, Dagmar hatte ihn auch freundlich begrüßt und er glaubte nicht, dass Hadamars Geschwister und Farolds Mutter ihm gegenüber negativ eingestellt sein würden, aber ... na ja. Irgendetwas musste er wohl sagen, aber ihm, der sonst selten um Worte verlegen war, fiel einfach nichts ein.


    Also beschränkte er sich auf ein: „Ich ... freue mich, hier zu sein. Und euch kennenzulernen.“ Weil er so nervös war, bemerkte er gar nicht, dass er ins Lateinische wechselte.

  • Mit einem letzten Blick in den Himmel ließ Dagny die Porta hinter sich und folgte Hadamar ins Kaminzimmer. Kurz fragte sie sich, wo Iring eigentlich blieb. Wahrscheinlich war er wieder in irgendetwas vertieft … sollte sie ihn holen oder Rhaban losschicken? Sie war sich sicher, dass er das nicht verpassen wollen würde. Hadamar berichtete schließlich, dass er offiziell zur XXII-ten hier versetzt worden war. Ein weiteres strahlendes Lächeln glitt über Dagnys Gesicht. Das hieß, er würde jetzt wieder länger hier sein! Sie verdrängte die Gerüchte, die sie in der Freya Mecurioque gehört hatte – wo nicht nur Waren, sondern auch Informationen freigiebig gehandelt wurden. Nämlich, dass in letzter Zeit vermehrt Soldaten aus anderen Einheiten hierher versetzt wurden. Sie entschied, keine Schlüsse zu ziehen, sondern sich einfach zu freuen, dass ihr Bruder wieder hier war und sie ihn nun häufiger würde sehen können.


    Schließlich stellte Hadamar den fremden jungen Mann vor, den er mitgebracht hatte. Für einen winzigen Augenblick, nicht länger als ein Wimperschlag, war Dagny irritiert. Wieso brauchte er mehr Familie als er schon hatte? Aber sie wusste selbst, dass das unfair war, sowohl Hadamar als auch dem Fremden gegenüber, der ohnehin eher eingeschüchtert wirkte. Irgendwann würde sie die ganze Geschichte schon noch aus Hadamar herausquetschen. Sie wollte etwas sagen und zögerte kurz, als Tariq Latein sprach. Aber offensichtlich verstand er Germanisch, also redete sie auch weiterhin in der Sprache. „Willkommen, Tariq! Ich bin Dagny, Hadamars Schwester, das ist Rhaban, unser Bruder, das ist Dagmar, unsere Tante, und das ist Petronia Octavena, unsere Schwägerin.“ Sie wies abwechselnd auf die jeweils angesprochenen. Dann strich sie Farold über den Kopf – und weil sie ihn dabei ansah, fragte sie sich kurz, wo er mit seinen Händen reingelangt hatte. „Und mit Farold hast du dich ja schon bekannt gemacht.“ Das hatte sie zumindest aus den Augenwinkeln mitbekommen. Dass auch Dagmar sich bereits vorgestellt hatte bzw. von Hadamar vorgestellt worden war, hatte Dagny wiederum nicht mitbekommen.


    Sie musterte die beiden Neuankömmlinge. „Ihr seht müde aus.“ Insbesondere der Junge, Hadamar hielt sich noch recht gut auf den Beinen. „Macht es euch doch bequem, ich organisiere euch etwas zu essen und zu trinken.“ Damit verschwand sie kurz, fing Ilda ab, um sie in die Küche zu schicken und Met für alle und Reste des Mittagessens für Hadamar und Tariq bringen zu lassen und machte dann noch einen Schlenker bei dem Zimmer vorbei, in dem Iring saß und arbeitete. Kurz überlegte sie, einfach unhöflich die Tür aufzureißen, unterließ das aber dann doch und klopfte stattdessen an. „Iring! Komm mal raus! Hadamar ist eben angekommen.“

  • "Feuer? Wirklich?" Farold runzelte die Stirn und sah Tariq einen Moment lang prüfend an, konnte aber keine Anzeichen dafür erkennen, dass Tariq ihn veralberte oder belog. "Das klingt komisch." Die Idee, eine Geschichte aus diesem Land, das so merkwürdig klang, erzählt zu bekommen vertrieb seine kurze Skepsis direkt wieder und stattdessen strahlte er Tariq direkt wieder begeistert an. Neugierig wie Farold war hatte er ohnehin einen Hang zu guten Geschichten und das letzte Mal, dass ihn jemand eine vollkommen neue Geschichte erzählt hatte, war inzwischen schon wieder eine Weile her. "Versprochen?"


    "Weit weg, irgendwo im Süden", gab er zurück, als Tariq dann noch Hispania fragte, und zuckte mit den Achseln. "Ist heiß da sagt meine Mutter. Viel heißer als hier selbst im Sommer wird." Octavenas Heimat hatte für ihn nie besonders spannend geklungen, einerseits weil er mit zumindest vereinzelten Geschichten darüber schon immer aufgewachsen war und andererseits weil das, was seine Mutter so erzählte, auch nicht so unglaublich spektakulär klang. Hispania hatte heiße Sommer und es war sehr römisch. Der erste Teil interessierte Farold ohnehin nicht und der zweite Teil war insofern langweilig als dass auch Mogontiacum ein letztlich römischer Ort war. Dass es da noch weitere Gemeinsamkeiten und Unterschiede geben konnte, kam ihm da nicht großartig in den Sinn, auch weil seine Mutter insgesamt nicht sonderlich oft Geschichten über den Ort erzählte, an dem sie geboren und aufgewachsen war. Ganz davon zu schweigen, dass Farold ohnehin fand, dass Octavena eine mittelmäßige Geschichtenerzählerin war, auch wenn er es besser wusste als ihr das zu deutlich unter die Nase zu reiben. Das war eher etwas, das seine Schwester tat und die stritt sich für solche Frechheiten regelmäßig mit ihrer Mutter.


    Die Gruppe verzog sich von Hauseingang ins Kaminzimmer und Farold merkte gerade einen Moment zu spät, dass er damit auch eine Chance verpasst hatte, sich doch noch erfolgreich zu verdrücken bevor seine Mutter wieder an die Leimflecken auf seiner Kleidung dachte. Stattdessen positionierte er sich deshalb neben Dagny - bei der war es allgemein und im Moment im Speziellen wohl am unwahrscheinlichsten, dass sie sich mit seiner Mutter bei deren Erziehungsmethoden verbündete. Als Dagny die Anwesenden nacheinander vorstellte und Farold ebenfalls seinen Namen hörte, grinste er breit und sah zu ihr auf, als sie ihm über den Kopf strich. "Tariq hat gesagt, dass er mir eine Geschichte aus Cappadocia erzählt!", verkündete er dabei so begeistert, dass Octavena, die sich bisher bewusst im Hintergrund gehalten hatte, ein paar Schritte entfernt leise lachen musste und sich damit zum ersten Mal wieder in das Gespräch einmischte.


    "Ist das so?", fragte sie in erster Linie an ihren Sohn gerichtet, wobei sie anders als die anderen auch weiterhin bei Latein blieb, und brachte sich mit Mühe gerade so noch dazu, Farold ernst anzusehen, während eigentlich längst ein amüsiertes Lächeln um ihre Mundwinkel zuckte. "Aber denk dran, immer erst zu fragen, ob er gerade auch Lust dazu hat. Verstanden?" Sie wandte sich nun tatsächlich lächelnd Tariq selbst zu, um nun doch vorsichtshalber ein wenig zu intervenieren bevor Farold ihn vor Begeisterung und Neugier doch noch komplett überfuhr. Wenn Hadamar den jungen Mann als Familie ansah, dann würde der zwar auch ohnehin schon schnell begreifen, dass Farold manchmal ausgebremst werden musste, aber das bedeutete nicht, dass er das auf die harte Tour lernen musste. "Schön dich kennenzulernen, Tariq. Du hast ganz offensichtlich in meinem Sohn direkt einen Bewunderer gefunden. Aber fühl dich nicht verpflichtet, dich endlos von ihm löchern zu lassen. Er ist gerade in dem Alter, in dem er alles wissen will und tausend Fragen hat."


    Farold dagegen setzte bei dieser Zusammenfassung kurz zu Protest an, merkte dann aber, dass Dagny inzwischen verschwunden war und dass damit seine Idee von eben, sich in ihrer Nähe zu halten und so unauffällig außerhalb der Reichweite seiner Mutter zu bleiben, nicht mehr aufging und entschied sich dann dagegen, unnötig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er schielte zu Rhaban hinüber - bei Dagmar ging er davon aus, dass die Gefahr im Vergleich deutlich größer war, dass sie sich am Ende auf die Seite seiner Mutter schlagen würde - und begann dann damit, möglichst beiläufig in den Schatten seines Onkels zu verschwinden. Der allgemeine Trubel erschien ihm nach wie vor viel zu interessant, um doch vollständig die Flucht zu ergreifen, und dafür erschien ihm Rhaban gerade wie die richtige Deckung, um zuzuhören, was die Erwachsenen sagten, und gleichzeitig weiter eine sichere Distanz zu seiner Mutter und ihren Kleidungsplänen für ihn zu wahren.

  • „Was!“ brummelte Iring genervt, als es an seiner Tür klopfte. War ja nur eine Frage der Zeit gewesen, bis da jemand kam und ihn holte, nachdem er gehört hatte, dass offenbar irgendjemand gekommen war, der für etwas Aufregung sorgte. Hatte ihn nicht interessiert, er hatte genug zu tun, auf seinem Schreibtisch lagen noch ein paar Verträge, die er durchgehen musste und überarbeiten musste. Und den ein oder anderen wahrscheinlich neu schreiben, wenn es blöd lief. Das war immer das Problem: ließ man andere so was entwerfen, sparte man sich selbst natürlich erst mal Arbeit. Aber oft passte es dann halt nicht, und dann saß man doch da und machte es selbst.


    Als er dann aber Dagnys Stimme hörte, genauer das, was sie sagte, sah er doch ruckartig von seiner Arbeit auf. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“ Mit wenigen Schritten war er bei der Tür und machte sie auf. „Hadamar? Sollte der nicht in Cappadocia sein?“ Vom anderen Ende des Reichs kam man nicht einfach so auf einen Verwandtenbesuch vorbei.

  • Tariq musste schmunzeln, als er Farolds offensichtliche Begeisterung sah. Das erinnerte ihn ein wenig an sein eigenes kindliches Ich, das auch keine Geschichte hatte links liegen lassen können. „Versprochen“, erwiderte er und legte die Hand aufs Herz. Eigentlich freute er sich sogar darüber, dass die Geschichten seiner Heimat, mit denen er aufgewachsen war und die ihn durch manche dunkle Stunde getragen hatten, an einem so weit entfernten Ort einen Zuhörer fanden. Die Beschreibung von Hispania war hingegen etwas dürftig, was Tariqs Meinung daran lag, dass Farold den Ausführungen seiner Mutter nicht sonderlich aufmerksam gelauscht hatte. Oder sie hatte, aus welchen Gründen auch immer, nicht viel erzählt. Dennoch fand er die vage Beschreibung „Ist heiß da …“ in Anbetracht des hiesigen Wetters sogar recht verlockend.


    Im Inneren bot Dagny an, etwas zu essen und zu trinken zu organisieren, worüber Tariq dankbar war. Essen und Trinken hielten einen wach. Ihrer Aufforderung, es sich bequem zu machen, kam er hingegen nicht nach, weil er Angst hatte, dass er, wenn er sich hinsetzte, sofort einschlafen würde. Beim Austausch zwischen Farold und seiner Mutter lächelte er ein weiteres Mal und schüttelte dann an Octavena gewandt den Kopf. „Das ist nicht schlimm. Farold ist ein netter Junge. Ich finde es gut, dass er fragt … und bei mir zu Hause erzählt man gern Geschichten.“ Manch einem Bewohner Kappadokiens sagte man sogar nach, dass es gar keiner Frage bedurfte, um ihn zum Reden zu animieren – man musste sich nur daneben setzen und zuhören. Aber abgesehen davon fand Tariq am unverfälschten Interesse eines Kindes nichts Schlimmes. Ihm hatte es in dieser konkreten Situation sogar geholfen, die ersten Momente des Fremdfühlens leichter zu überwinden.


    „Dein Sohn sagte, dass du aus Hispania stammst. Wie lange bist du schon hier, wenn ich fragen darf?“



  • Dagny wartete, ob dem unwilligen Gebrummel von drinnen weitere Worte folgen würden, und streckte die Finger aus, um die Tür doch aufzureißen. Nur, um dann zusammenzuzucken, als diese plötzlich aufging und Iring genau vor ihr stand. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie sich wieder gefangen hatte, dann lächelte sie unschuldig. „Natürlich will ich dich auf den Arm nehmen, ich dachte, du könntest mal eine Pause gebrauchen.“ Sie ließ den Satz kurz zwischen ihnen stehen, dann wandelte sich ihr Lächeln in ein schelmisches Grinsen, das man auch auf Rhabans Gesicht des Öfteren sah und das die Ähnlichkeit der Geschwister unterstrich. „Nein, ernsthaft! Hadamar ist hier.“ Sie griff nach seinem Arm und versuchte ihn sanft in Richtung Halle zu bugsieren. „Er ist eben angekommen aus Cappadocia. Er ist versetzt worden zur XXII-ten und musste wohl schnell aufbrechen, deshalb hat er vorher nicht geschrieben.“ Ob das stimmte oder nicht, sei mal dahingestellt, aber es war ja auch gleichgültig im Grunde. „Er hat einen Jungen aus Cappadocia mitgebracht, Tariq.“

  • Hadamar bemerkte, dass Tariq neben ihm spätestens jetzt nervös wurde, wo er ihn einer größeren Runde noch mal explizit vorstellte. Aber es half nix, da musste er durch – immerhin musste er ja auch allein hier bleiben bei seinen Verwandten. Aber er würde schon merken, dass ihn hier keiner fressen würde, selbst wenn vielleicht – was Hadamar aber nicht hoffte – der ein oder andere skeptisch war. Dagny allerdings sprang gleich schon in die Bresche und begrüßte Tariq, was Hadamar mit einem dankbaren Lächeln quittierte, und führte damit fort, was Farold schon begonnen hatte und ohne Umstände auch weiter machte: ein Empfang, der seinem Begleiter die Ankunft hier hoffentlich leichter machte. Er grinste, als der Junge davon sprach eine Geschichte versprochen bekommen zu haben, während Dagny kurz verschwand. „Eine Geschichte?“ Er ließ sich in einen der Sessel fallen und freute sich darauf, kurz was essen und trinken zu können, bevor er weiter zur Legio musste. „Tariq kennt Dutzende, eine toller als die nächste.“ Er machte eine verschwörerische Miene und zwinkerte Farold kurz zu, nur um dann halb ertappt, halb angemessen schuldbewusst drein zu gucken, als dessen Mutter darauf hinwies, dass Farold erst fragen sollte – und Tariq, dass er nicht alle Wünsche des Kleinen sofort erfüllen musste, der wiederum die Gelegenheit ergriff und mit Octavena versuchte ins Gespräch zu kommen.

  • Im Inneren bot Dagny an, etwas zu essen und zu trinken zu organisieren, worüber Tariq dankbar war. Essen und Trinken hielten einen wach. Ihrer Aufforderung, es sich bequem zu machen, kam er hingegen nicht nach, weil er Angst hatte, dass er, wenn er sich hinsetzte, sofort einschlafen würde. Beim Austausch zwischen Farold und seiner Mutter lächelte er ein weiteres Mal und schüttelte dann an Octavena gewandt den Kopf. „Das ist nicht schlimm. Farold ist ein netter Junge. Ich finde es gut, dass er fragt … und bei mir zu Hause erzählt man gern Geschichten.“ Manch einem Bewohner Kappadokiens sagte man sogar nach, dass es gar keiner Frage bedurfte, um ihn zum Reden zu animieren – man musste sich nur daneben setzen und zuhören. Aber abgesehen davon fand Tariq am unverfälschten Interesse eines Kindes nichts Schlimmes. Ihm hatte es in dieser konkreten Situation sogar geholfen, die ersten Momente des Fremdfühlens leichter zu überwinden.


    „Dein Sohn sagte, dass du aus Hispania stammst. Wie lange bist du schon hier, wenn ich fragen darf?“


    "Ich bin als junge Frau hierhergekommen", erwiderte Octavena auf Tariqs Frage, wie lange sie schon in Germanien war, und amüsierte sich innerlich ein wenig darüber, dass Farold ihm direkt erzählt hatte, woher sie kam. Tariq musste ihren Sohn wirklich auf genau dem richtigen Fuß erwischt haben, wenn er direkt ins Plaudern gekommen war. "Das ist jetzt …" Sie hielt kurz inne. Waren es wirklich schon fünfzehn Jahre? Oder doch noch etwas weniger? Ja, es waren noch nicht ganz fünfzehn. In jedem Fall kam sie sich älter vor als sie war, wenn sie darüber nachdachte, wie viel Zeit zwischen damals und jetzt eigentlich lag. Und wie endlos fern ihr Tarraco und alles, was sie dort zurückgelassen hatte, eigentlich vorkamen. "… fast fünfzehn Jahre her." Sie lächelte und schob das merkwürdige Gefühl von Unglauben bei Seite, das sie immer etwas erfasste, wenn sie daran denken musste, wie viel Zeit seit ihrer Ankunft in Mogontiacum vergangen war. Ein paar Jahre noch und sie würde länger hier leben als sie je in Hispania gelebt hatte. "Meine Familie kommt zum größten Teil aus Tarraco, aber einen Vetter meines Vaters hatte es irgendwann nach Mogontiacum verschlagen. Mein Vater hat mich damals zu diesem Vetter geschickt und ich habe dann hier meinen verstorbenen Mann geheiratet und bin so geblieben."

  • Tariq grinste kurz, als Hadamar sagte, er würde viele tolle Geschichten kennen. „Fünfzehn Jahre“, erwiderte er dann beeindruckt an Octavena gewandt. „Das ist viel.“ Grob umfasste das fast seine gesamte Lebensspanne. Er fragte sich zum ersten Mal, wie lange er wohl hierbleiben würde. Wirklich die fünfundzwanzig Jahre, die Hadamar ihm als Dienstjahre bei der Ala angekündigt hatte? Irgendwie fiel es ihm schwer, sich so lange Zeitspannen vorzustellen. Zumal, wie er selbst jetzt am besten wusste, der Lebensweg selten so gradlinig verlief wie man es sich ausmalen mochte.


    Nebenbei begann plötzlich die Frage in ihm zu dämmern, ob er sich mit seinen Worten negativ zu Octavenas Alter geäußert hatte. Er wusste von den älteren Männern, dass allein die Andeutung, eine Frau könne alt sein, sehr schlecht war. Das hatte Tariq natürlich nicht sagen wollen! Er hatte nur sagen wollen, dass sie damit schon lange hier war und sich dann bestimmt gut auskannte und überhaupt. Aber vielleicht verstand sie es ja falsch. Und auch, wenn sie nicht so aussah, als würde sie zur Ohrfeigenfraktion gehören – schon gar nicht hier und in diesem Rahmen – wollte er lieber vorbauen: „Ich meine, das sieht man dir gar nicht an.“ Das war kein leeres Kompliment, das sah man ihr tatsächlich nicht an. „Vermisst du deine Heimat manchmal? Oder fühlst du dich mittlerweile heimisch hier?“


    Octavena fasste zusammen, wie sie letztendlich hier gelandet war, und als sie ihren verstorbenen Mann erwähnte, fiel Tariq ein, dass das wohl das Familienoberhaupt gewesen sein musste, von dem Hadamar ihm erzählt hatte. „Das mit deinem Mann tut mir leid“, meinte er ehrlich, war sich aber gleichzeitig bewusst, dass sie das kaum trösten würde. Aber nichts dazu zu sagen, wäre noch unhöflicher gewesen.

  • Obwohl er seine Schwester kannte, fiel er trotzdem hin und wieder auf sie herein, und das gerade war so ein Moment. Die Botschaft, dass Hadamar wieder da war, war allerdings auch eher auf der unwahrscheinlichen Seite. Sie hätten doch eine Nachricht von ihm bekommen, wenn er versetzt worden wäre, oder nicht? Also stand Iring da, für einen Moment, und glaubte Dagny, als sie sagte sie wolle ihn auf den Arm nehmen. „Ich hab grad wirklich was Besseres zu tun“, grummelte er und wollte schon wieder in seinem Arbeitszimmer verschwinden, als Dagny zu grinsen begann. „Was jetzt? Er ist da, er ist nicht da?“ Er hielt es immer noch für wahrscheinlicher, dass er eben nicht da war, aber Dagny griff ihn jetzt beim Arm und schob ihn los, und das wiederum war für einen Scherz... naja gut, wenn sie glaubte er könnte eine Pause gebrauchen, dann vielleicht. „Einen Jungen hat er mitgebracht“, wiederholte er. Das schien jetzt ein bisschen zu detailreich, aber Dagny war auch ziemlich fantasiebegabt. So oder so wollte sie ihn in diesem Moment aber scheinbar von seiner Arbeit weghaben, was auch immer nun der tatsächliche Grund war, und Iring gab schließlich nach und ließ sich mitziehen. Eine Pause konnte wirklich nicht schaden.


    Tatsächlich blieb er skeptisch und konnte nicht so recht glauben, dass sein ältester Bruder wirklich wieder da war... bis sie das Kaminzimmer erreichten und er ihn mit eigenen Augen sah. Ein leichtes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Hadamar!“ Iring durchquerte den Raum mit wenigen Schritten und umarmte seinen Bruder, der ganz offensichtlich noch keine Umwege über irgendein Balneum oder so gemacht hatte nach seiner Reise. „Schön dich zu sehen. Du bleibst hier, hab ich gehört?“

  • Octavena schmunzelte wieder ein wenig, als Tariq sich beeilte klarzustellen, dass sie nicht alt aussah. Es war nett, wie offensichtlich er sich darum bemühte, von Hadamars Familie gemocht zu werden und niemanden vor den Kopf zu stoßen, auch wenn Octavena ihm die offenbar unbeabsichtigte Andeutung, sie wäre alt, auch nicht übel genommen hätte. Tariq sah so aus als wäre er noch in einem Alter, in dem ihm wahrscheinlich alle Leute, die mehr als zehn Jahre älter als er waren, auf die eine oder andere Weise alt vorkamen. Und Octavena war da genug mit sich selbst im Reinen, um das wiederum mit Humor nehmen zu können statt beleidigt zu sein. "Nein", gab sie stattdessen ehrlich auf Tariqs Frage zurück, ob sie Hispania noch vermisste. "Mein Zuhause ist schon lange hier." Ein schiefes Grinsen zuckte um ihre Mundwinkel. "Die germanischen Winter sind zwar fürchterlich, aber die Leute hier können einem schnell ans Herz wachsen. Außerdem gäbe es in Hispania inzwischen ohnehin kaum noch etwas, das mich dahin zurück ziehen könnte. Dafür bin ich auch einfach schon zu lange weg."


    "Danke. Es ist nett, dass du das sagst." Ehe sie es verhindern konnte huschte bei der Beileidsbekundung ein trauriger Schatten über Octavenas Gesicht und nur für einen kurzen Moment fühlte sich ihr Herz wieder etwas schwerer an, wie immer, wenn jemand ihr sein Mitgefühl aussprach. Diese Bemerkungen waren immer gut gemeint und Octavena wusste das auch durchaus zu schätzen, aber gleichzeitig … gleichzeitig hasste sie auch immer ein wenig, wofür sie standen und was sie ein weiteres Mal unterstrichen. Dass ihr Mann nun einmal tot war. Bei der Erwähnung seines Vaters wagte sich jetzt auch Farold wieder aus dem Hintergrund an die Seite seiner Mutter und sah kurz ungewöhnlich still zu ihr hoch. Octavena dagegen lächelte warm zu ihm hinunter und strich ihm dabei einmal liebevoll über den Kopf. Sie war sich nie sicher, ob ihr Sohn in solchen Situationen ihre Nähe suchte, weil er selbst Witjon vermisste oder weil er spürte, dass sie es tat. In jedem Fall hatte es auch für sie immer etwas Tröstliches. Trotzdem wollte sie nicht die Stimmung drücken und nutzte stattdessen die Gelegenheit, Farold wieder in ihrer Reichweite zu haben, um zu ihrem Anliegen von vorhin zurückzukommen und so das Thema wieder zu wechseln. "Du, junger Mann, musst dich übrigens immer noch umziehen", sagte sie in einem Tonfall sanfter, aber dennoch eindeutiger mütterlicher Autorität und sah ihn auffordernd an.

    "Aber-"

    "Kein aber. Wenn du dich umgezogen hast, kannst du wiederkommen", widersprach Octavena und schob ihn ein wenig in Richtung Tür. "Ab mit dir."

    Farold grummelte noch leise protestierend etwas vor sich hin, gehorchte aber, wenn auch nicht ohne zum Abschied nochmal Tariq zuzuwinken ehe er verschwand. Auf dem Weg nach draußen schlug er noch einen Haken um Iring, der ihm entgegenkam, blieb aber nicht stehen. Währenddessen spürte Octavena ein wenig Erleichterung in sich darüber aufsteigen, dass sie mit Irings Erscheinen und der Begrüßung der Brüder eine Gelegenheit bekam, sich für den Moment wieder ein wenig aus dem Fokus des Gesprächs zu ziehen, bevor sie noch einmal daran vorbeischrammen konnten, über Witjon oder einen anderen wunden Punkt zu reden, der die Stimmung im ungünstigsten Fall zum Kippen hätte bringen können. Nichts davon gehörte gerade hierher und dass es ihr nach wie vor nicht immer gelang, diese Gedanken und Gefühle, so konsequent bei Seite zu schieben wie sie das gerne gehabt hätte, war niemandes Schuld. Und sie würde ganz sicher nicht dieses Wiedersehen hier damit überschatten.

  • Tariq lächelte, als Octavena die fürchterlichen germanischen Winter erwähnte. Nun, da konnte er ihr nicht widersprechen. Er wusste immer noch nicht so ganz genau, wo Hispania genau lag, aber laut Farolds Beschreibung war es dort warm. Wenn sie sich hier einleben konnte, konnte er das vielleicht auch! Ihm selbst erschienen die Menschen im Moment noch sehr fremd, aber er war ja auch gerade erst angekommen. Sein anfänglicher Enthusiasmus über die Reise in fremde Gefilde, die ihn ergriffen hatte trotz der Strapazen unterwegs, begann nunmehr der Erkenntnis zu weichen, dass er hier … ja fremd war. Vieles war sehr anders als in der Heimat, von der er nie geglaubt hatte, dass er sie einmal vermissen würde.


    Farold gesellte sich wieder zu seiner Mutter, nachdem er sich zunächst hinter Hadamars Bruder versteckt hatte. Offensichtlich spürte er ihre Trauer, die sich auch kurz auf ihrem Gesicht manifestiert hatte. Wieder wusste er nicht so recht, wie er damit umgehen sollte. In seiner Heimat reagierten die meisten Bewohner entweder mit Tränen oder brüsker Abweisung. Zumindest in Tariqs – zugegebenermaßen beschränktem – Erfahrungshorizont war melancholische Trauer des gemeinen Kappadokiers Sache nicht. „Es freut mich zu hören, dass du dich hier gut eingelebt hast. Das gibt mir Hoffnung für die Zukunft. Die Winter sind wirklich gewöhnungsbedürftig.“ Tariq grinste leicht, auch in der Hoffnung, sie wieder ein bisschen aufzuheitern, und winkte Farold hinterher, der verschwand, um sich umzuziehen. Tariq verstand nicht genau wieso, denn seiner bescheidenen Meinung nach war mit der Kleidung des Jungen alles in bester Ordnung, aber er wusste es besser, als der Mutter da zu widersprechen.


    Kurz nach Farolds Verschwinden tauchte ein weiterer Mann auf, der Hadamar herzlich begrüßte. Vermutlich der andere Bruder. Die Wärme des Feuers begann ihm angenehm in die Glieder zu kriechen und er spürte, wie er immer müder wurde. Am liebsten hätte er sich einfach auf dem Steinboden zusammengerollt.

  • Dagny schob Iring, immer noch leicht grinsend, in Richtung der anderen. Sie freute sich, als sich sein Gesicht bei Hadamars Anblick aufhellte. Sie gesellte sich zu Octavena. Farold war ihr eben entgegen gekommen, Dagny war sich nicht ganz sicher, warum er weggeschickt worden war, aber sie war so beschäftigt damit gewesen, Iring hierher zu bringen, dass sie ihn nicht angehalten und gefragt hatte. Kurz nach den beiden Geschwistern kam auch Ilda mit einem Tablett voller Becher zurück, die sie unter den Anwesenden verteilte. Auch etwas Essen aus der Küche wurde dargereicht. Dagny nahm sich eines der Gefäße, wartete bis alle anderen auch eines hatten und hob den Becher. „Auf die gesunde Rückkehr von Hadamar und auf unseren Gast aus Cappadocia ...“ Ihr Blick streifte Tariq, der so aussah, als würde er gleich umfallen. „... der nebenbei bemerkt so aussieht, als könne er in naher Zukunft ein Bett vertragen.“

  • Hadamar freute sich, dass Tariq relativ schnell ins Gespräch kam, mit Farold, mit Octavena. Natürlich war ihm von Anfang an klar gewesen, dass der Junge da durch musste, und zwar allein, weil er halt einfach bleiben konnte um es leichter zu machen. Und grundsätzlich nahm er das pragmatisch: es war halt so. Würde schon werden, irgendwie, und wenn es für Tariq schwer wurde, dann war halt auch das so. Aber dass da jetzt schon das erste Eis gebrochen war, beruhigte Hadamar auf eine Art, die ihm klar machte, dass er das halt doch nicht nur pragmatisch gesehen hatte. Dass er sich doch... wenn schon nicht Sorgen, dann wenigstens Gedanken gemacht hatte, ob Tariq sich hier auch wohl fühlen würde.


    Er sah gerade Farold hinterher, der von seiner Mutter nun weggeschickt worden war um sich umzuziehen, da kam Dagny zurück – mit Iring im Schlepptau. Im Gegensatz zu dem Grinsen seines Bruders war das seine breit, als er jetzt auch den letzten seiner Geschwister in die Arme zog und mit einer kräftigen Umarmung begrüßte. Dagny, Rhaban, Iring und er. Fehlte nur Eldrid. Der Gedanke versetzte ihm einen kleinen Stich, aber er vergrub ihn sofort. „Bin zur XXII versetzt“, bestätigte er, „ich bleib also.“ Noch während sie sich begrüßten, wurde jetzt Essen und Trinken gebracht, das Dagny organisiert hatte, und Hadamar nutzte die Chance und griff zu. Wenn er erst mal bei der Legio war, würde es wieder eine Weile dauern bis er die Gelegenheit bekommen würde was zu essen – wahrscheinlich erst am Abend irgendwann. Dagnys Kommentar allerdings ließ ihn zu Tariq sehen, und sie hatte Recht: er sah wirklich müde aus. Hadamar schluckte und räusperte sich kurz. „Ich kann sowieso nicht mehr lange bleiben, ich muss mich heute noch bei der Legio melden, und da wird’s dann auch einiges zu tun geben. Octavena, Dagmar, könntet ihr Tariq bitte ein Gästezimmer geben, und ihm die wichtigsten Sachen hier zeigen? Und wenn von euch einer Lust hat“, das war jetzt auch gleichermaßen an seine Geschwister gerichtet, „kann ihm jemand in den nächsten Tagen vielleicht die Stadt zeigen.“

  • Octavena erwiderte Tariqs Grinsen mit einem kleinen Lächeln, in erster Linie, weil sie merkte, dass er gerade versuchte, nett zu sein, weil es so offensichtlich war, dass der Tod ihres Mannes noch immer kein ganz einfaches Thema für sie war. "Ich bin mir sicher, du wirst dich auch schnell genug daran gewöhnen. Und wenn nicht, kommt immer irgendwann der Frühling." So war es ja auch Octavena immer gegangen. Den halben Winter schimpfte sie über die Kälte und die Dunkelheit, aber umso schöner kam ihr dann jedes Jahr der Frühling vor.


    Mit Dagny und Iring kam auch Ilda mit Essen und Getränken zurück und damit kamen nun auch die Art von simplen, organisatorischen Fragen auf, die jetzt auch wieder Octavenas Neugier weckten. Ihr Blick glitt kurz suchend zu Dagmar, um sie nicht aus purer Gewohnheit zu übergehen, dann ergriff sie aber doch zuerst das Wort. "Natürlich, das mit dem Zimmer ist unsere leichteste Übung", erwiderte sie auf den Teil von Hadamars Bitte, der ganz eindeutig an sie und Dagmar gegangen war, und sah dann fragend zwischen Tariq und Hadamar hin und her, achtete aber darauf, nicht ablehnend oder missbilligend zu klingen, wenn sie im Grunde nur dabei war, die Puzzleteile dieser Überraschung in ihrem Kopf zusammenzusetzen. Bisher hatte es so gewirkt, als ob Tariq bleiben sollte, aber das Stichwort "Gästezimmer" klang nicht danach als ob die Villa gerade einen neuen Bewohner gewonnen hatte. "Wie haben denn bisher überhaupt eure Pläne ausgesehen? Soll Tariq länger hier bleiben?"

  • Als Essen und Met gereicht wurden, bemerkte Tariq erst, wie hungrig und durstig er eigentlich war. Er wartete dennoch, bis Hadamar sich etwas genommen hatte, ehe er zugriff. Das Essen schmeckte fremdartig, aber trotzdem sehr lecker – wobei er zugegebenermaßen im Moment alles lecker gefunden hätte. Der Met schmeckte besser als die Variante, die Hadamar ihm in Cappadocia angeboten hatte, aber diesen Gedanken äußerte er lieber nicht laut. Wahrscheinlich war es dort schwieriger gewesen, die passenden Zutaten zu bekommen …


    Hadamar sagte, dass er sich gleich bei der Legio melden müsse und er, Tariq, ein Gästezimmer bekommen solle. Leichte Panik stieg in Tariq auf. Zwar hatte Hadamar ihm schon auf der Reise gesagt, dass dies der Plan war, aber jetzt begriff Tariq zum ersten Mal wirklich, dass Hadamar gleich gehen und ihn allein zurücklassen würde. Er hatte keine Angst vor Hadamars Familie, alle hatten ihn sehr freundlich empfangen, was er nicht unbedingt erwartet hätte. Gerade Farold und seine Mutter fand er sympathisch und er hatte keinen Zweifel, dass er hier gut aufgehoben sein würde. Aber genau wie damals in Kappadokien wurde ihm klar, wie sehr er sich an Hadamars Gegenwart gewöhnt hatte. Und wie sehr er gelernt hatte, sich auf ihn zu verlassen. Und wie verlassen er sich fühlte, wenn er wegging.


    Er stellte den Teller beiseite, dessen Inhalt er nun doch nicht ganz aufgegessen hatte. Der gröbste Hunger war gestillt und Appetit hatte er plötzlich keinen mehr. Er war fast froh, als Octavena nach ihren Plänen fragte, weil er sich dann nicht mit seiner aufkeimenden und irgendwie irrationalen Furcht beschäftigen musste. „Ich möchte mein Glück bei der Ala versuchen. Hadamar hat gesagt, dass ich dort auch Soldat werden kann“, antwortete er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme ein klein wenig stolz klang.

  • Hadamar bemerkte, wie Tariq bei Octavenas Frage seinen Teller plötzlich beiseite schob, dem er sich davor noch mit jener zielstrebigen Konzentration gewidmet hatte, die nur hungrige junge Leute im Wachstum für Essen aufbringen konnten. Und er konnte sich denken, woran das lag... war ja wohl kein Zufall, dass das genau dann passierte, als er zur Sprache brachte, dass er bald weg musste. Aber da musste der Junge durch... da konnte er ihm leider nicht helfen. Außer den Übergang in die Obhut seiner Familie so gut wie möglich zu gestalten, und da war der Anfang ja schon gemacht.


    Ohne darüber nachzudenken, wechselte Hadamar nun auch zu Latein, das nun sowohl Octavena als auch Tariq nutzten. Er nickte bei dessen Worten und grinste ihm kurz aufmunternd zu. „Wie er gesagt hat. Tariq möchte zur Ala, deshalb braucht er kein Zimmer für länger hier.“ Vielleicht war das auch nur der Soldat, der in ihm da durchkam, aber Hadamar erschloss sich einfach der Sinn nicht, Tariq ein eigenes, festes Zimmer zuzuweisen, wenn er sowieso nicht wirklich hier leben, sondern höchstens mal zu Besuch kommen würde, wenn er die Ausbildung erst mal hinter sich hatte. Dass das eine Möglichkeit war, dem Junge dadurch vielleicht noch mal mehr ein Gefühl des Willkommens zu geben, daran dachte er nicht mal. „Aber von der Reise erholen und ein bisschen die Gegend kennenlernen, das kann nicht schaden, bevor er sich meldet. Ich hab ihm jedenfalls gesagt, dass er sich die Zeit nehmen soll.“ Ein weiteres Grinsen zu Tariq folgte.

  • Dagny nippte an ihrem Becher. Als Hadamar erwähnte, dass er noch heute zur Legio aufbrechen wollte, hob sie kurz die Braue. Heute schon? Er war doch gerade erst angekommen! Aber die Formulierung „ich muss mich heute melden“ klang nicht so, als ob er groß die Wahl hätte. Ebenso wie Octavena wunderte sie sich über das Wort Gästezimmer in Bezug auf Tariq, weil sie ebenso angenommen hatte, dass der Junge bei ihnen bleiben sollte – zumindest hatte das so geklungen als Hadamar ihn als neues Familienmitglied vorgestellt hatte.


    Aber er wollte zur Ala und Dagny wunderte sich, warum so viele junge Männer so erpicht darauf waren, sich dem Exercitus anzuschließen. Gut, das war einer, wenn nicht der Pfeiler, auf dem das römische Reich mit seinem gigantischen Einfluss stand, aber irgendwie … Früher hatte sie stets die Soldaten in ihren schmucken Uniformen betrachtet, wenn sie diese in Mogontiacum und Umgebung sah. Sie tat es immer noch, aber es war trotzdem etwas anderes, wenn sie in dem Zusammenhang an Personen dachte, die ihr etwas bedeuteten. Denn sie wusste, dass die Soldaten nicht ohne Grund in der Castra hockten und trainierten, es konnte jederzeit zu Kampfhandlungen kommen, was wiederum Gefahr für Leib und Leben bedeutete. Vielleicht hatte sie zu viel Zeit mit ihrer Mutter verbracht – und als sie gemeinsam um Eldrid getrauert hatten, hatte sie Dagny das eine oder andere von ihrem Vater erzählt. Einen Vater, den Dagny eigentlich nie kennengelernt hatte, weil er bereits gefallen war, als sie noch Kleinkind gewesen war.


    Aber sie wusste es besser, als Tariq das jetzt ausreden zu wollen, zumal es in seinem Fall vielleicht gar nicht schlecht war, ein eigenes soziales Umfeld zu haben und nicht nur von Hadamars Familie abhängig zu sein. Zudem kannte sie ihn einfach nicht gut genug, um das Recht zu haben, sich in sein Leben einzumischen. Octavena versprach, sich um das Zimmer zu kümmern und bei der Stadtführung nickte sie Hadamar zu. „Natürlich, das kriegen wir schon hin.“ Das wäre vielleicht was für Rhaban.


    Sie leerten noch gemeinsam ihre Becher, dann überließ es Dagny Octavena, Tariq sein Zimmer zu zeigen und verabschiedete sich herzlich von Hadamar. Vielleicht umarmte sie ihn ein bisschen länger, als es nötig gewesen wäre, denn sie war schon ein bisschen traurig, dass er schon wieder ging. Immerhin rang sie ihm noch das Versprechen ab, sich nicht in der Castra zu verkriechen, sondern gemeinsam ihre Mutter zu begrüßen.


    Sim-Off:

    Ich hoffe, es ist ok, wenn ich das Thema jetzt habe ausklingen lassen. Falls noch wer was schreiben mag, kann er/sie das natürlich gerne tun. :D

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