Nach dem Gespräch mit Octavena verließ Tariq das Haus. Noch immer war die Sonne nur andeutungsweise hinter weißen Wolkenschleiern zu erkennen – so als habe sie beschlossen, dass es während des germanischen Winters nicht angemessen sei, ordentlich zu scheinen. Sehr viel Wärme spendete sie auch nicht, Tariq war froh um den Wollumhang, den er sich eng um den Leib zog. Aber die Sonne war trotz allem da, ihre Silhouette war hinter der milchig-weißen Wand zu erkennen. Tariq musste nach der relativen Dunkelheit des Hauses ein wenig die Augen zusammenkneifen. Er ließ das Haus linker Hand liegen und ging zielstrebig Richtung Fluss, der ihn faszinierte, seitdem er ihn heute Morgen von seinem Zimmerfenster aus erblickt hatte. Wie ein silbriges Band wandte er sich durch das platte Gras, und je näher Tariq kam, desto besser hörte er ein leises murmelndes Rauschen, das fast so klang als würden Stimmen leise flüstern. Es war nicht schwer, sich die Flussgeister vorzustellen, die Octavena eben erwähnt hatte. Auch, wenn sie ja gar nicht germanisch waren.
Hadamar hatte ihm erzählt, dass Flüsse und Seen in Germanien im Winter zufrieren konnten, dann schlief das Wasser unter der Eisschicht. Dieser Zeitpunkt war aber offenbar noch nicht erreicht, denn der Fluss murmelte und bahnte sich einen Weg über Steine, die man auf dem Grund erkennen konnte. Tariq hockte sich hin und versuchte einen der Steine aus dem Wasser zu greifen, aber die Augen schienen ihm einen Streich zu spielen. Von seiner Perspektive sah der Stein nah aus, und doch erreichte seine Hand ihn nicht. Er neigte sich weiter herunter, erreichte den Stein aber immer noch nicht. Frustriert zog Tariq die Hand zurück. Sie war eiskalt und der Ärmel seiner Tunika leicht durchnässt. Er erhob sich, steckte die Hand unter seinen zweiten Arm, um sie wieder aufzuwärmen und betrachtete das sich bewegende Wasser mit gerunzelter Stirn. „Euch scheint die List auch zu liegen, was?“ meinte er leise, nun in seiner Mutmaßung gestärkt, dass etwas in dem Fluss hausen musste, das Illusionen wob und die Sinne verwirrte.
Nachdem er eine Weile dagestanden und dem Wasser gelauscht hatte, wandte er sich um. Er fand es schade, dass er beispielsweise Soufian nicht von diesem Fluss erzählen konnte. Der Händler würde das genauso faszinierend finden wie er, dessen war Tariq sich sicher. Vielleicht könnte er ihm schreiben, aber seine Schreibfähigkeiten waren rudimentär und er würde es niemals schaffen, etwas so aufzuschreiben, wie er es erzählen könnte.
Er kehrte zum Haus zurück und beschritt den Weg, der ihn zum Eingangstor zurückbrachte. Nachdem er den Fluss gesehen hatte, wollte er auch den Hunden einen Besuch abstatten – obwohl das weniger aus Faszination geschah, denn aus einer seltsamen Form von Pflichtbewusst heraus. Octavena hatte gesagt, dass sie wahrscheinlich in der Nähe des Tors zu finden waren, also ging er dort zuerst hin. Und blickte sich dabei aufmerksam um. Er wollte garantiert nicht von den Wachhunden überrascht werden.