Der Aquädukt über den Vardo

  • Die Reise von Rom nach Ostia, genauer zum Portus Ostiensis Augusti, verlief ohne Zwischenfälle, was nicht weiter verwunderlich war. Doch auch die Überfahrt von Ostia nach Massilia war erstaunlich angenehm gewesen. Dass ich einen eigenen Bereich für Stilo, Terpander, mich und unsere Pferde gemietet hatte, war dem Komfort sicher nicht abträglich gewesen. Doch vor allem die für diese Jahreszeit erstaunlich ruhige See hatte die Fahrt angenehm gemacht.


    So, wie ich es Mercurius versprochen hatte, zeigte ich mich in Massilia sowohl ihm als auch Neptunus gegenüber großzügig. Jedem ließ ich zwei Schweine opfern. Nach einem Tag in Massilia ritten wir weiter, bis wir schließlich in Nemausus ankamen. Das war zwar ein leichter Umweg, aber in der Nähe befand sich ein Ziel, das ich einfach sehen musste. Ich hatte bereits von dem Aquädukt über den Vardo fluvius gelesen, der wohl die gewagteste Konstruktion dieser Art war. Doch wollte ich das Bauwerk mit eigenen Augen sehen. Und so machten wir einen Tagesausflug von Nemausus zum Aquädukt.


    Nach einem längeren Ritt kamen wir am Tal des Vardo fluvius an. Tief hatte sich der Fluss in den Fels geschnitten und floss gute 35 passi unter uns. Und dann kam der Aquädukt in unser Blickfeld. Ich beschloss, den Blick vom Fluss aus zu genießen und führte mein Pferd den Hang hinunter, bis ich schließlich im Flussbett ankam. Dort stieg ich wieder in den Sattel und folgte dem Fluss, bis ich einen Blick auf das gesamte Bauwerk hatte. Stolz erhob sich der Aquädukt hinauf bis zur Talhöhe. Auf fünf Pfeilern, die sechs Bögen trugen, bestand die untere Reihe. Die Bögen schätzte ich auf eine Höhe von 13 oder 14 passi und die Pfeiler standen etwa vier passi auseinander. Darüber fand sich eine weitere Reihe von Bögen, die ich ebenfalls auf gut 13 passi Höhe schätzte. Diese waren etwa 4 2/3 passi breit. Diese zweite Ebene bestand aus elf Bögen. Darüber schließlich erhob sich noch eine dritte Bogenreihe, die die Wasserleitung trug. Diese dritte Reihe bestand aus 35 Bögen, die jeweils zwei passi breit waren und rein mathematisch etwa viereinhalb passi hoch sein mussten.


    Ich machte mir Notizen auf einer Wachstafel, was im Sattel gar nicht so einfach war. Doch inzwischen war ich genug geritten, um etwas sicherer im Sattel zu sitzen, wenngleich mir jeden Abend Beine und Rücken schmerzten. Ich bestand immer darauf, durchzureiten und nur dann eine Pause zu machen, wenn die Pferde eine benötigten. Doch für das Folgende traute ich mir nicht zu, im Sattel sitzen zu bleiben. So stieg ich ab, nahm eine unbeschriebene Wachstafel und begann, im Wachs den Aquädukt zu skizzieren. Ich machte mir so viele Notizen, wie irgend möglich. Schließlich wandte ich mich an meine Begleiter.


    "Ist das nicht großartig? Drei Bogenreihen, um eine stabile Querung des Flusses zu gewährleisten. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, dass dies der einzige Aquaeductus ist, der auf drei Ebenen ruht. Ob wohl noch einer der Baumeister lebt? Zu gerne würde ich mich mit denen unterhalten."


    Meine Begeisterung verbarg ich nicht. Wieso sollte ich auch.


    "Vergesst die Tempel und die Theater, das hier," ich deutete auf den Aquädukt, "DAS ist die wahre zivilisatorische Leistung Roms! Frisches, sauberes Wasser. In jeder Stadt. Keine Seuchen, weil das Wasser schlecht ist. Gesundes, klares Wasser!"

  • "Das stimmt." Gesundes Wasser stärkte das Volk und nach Terpanders Meinung benötigte sowieso niemand Theater. Dummheit und Dekadenz ballten sich dort stärker als andernorts. Leider schützte die Anwesenheit eines Aquädukts den einzelnen Bürger nicht vor Barbarei. Auch ein Römer konnte sich wie ein Barbar aufführen und sogar ein Grieche. Angewidert dachte er an das vielgepriesene Athen.


    So ergänzte er: "Zivilisation beginnt im Kopf. Bevor der Auqädukt erfunden wurde, gab es einen Mann, der seine Zeit nicht in Theatern verschwendete oder in den Tempeln dafür betete, dass die Götter seine Probleme lösen mögen, sondern sich Tage und Nächte am Reißbrett Gedanken um das Gemeinwohl machte. Tatsächlich halte ich es für offensichtlich, dass Unterhaltung der Volksverblödung dient. Ich bin froh, dass ihr beide keine Theater besucht. Das würde eurem jungen Hirn schaden und dass das lange Sitzen auf den Steinstufen staut den Blutfluss der Beine und des Beckenbodens. Merke: Gute Theatergäste sind schlechte Liebhaber." Zwar war er nicht der Paedagogus der beiden, doch das hielt ihn nicht davon ab, sie zu belehren.

  • Das musste ich kommentieren und philosophisch einsortieren.


    "Du hast völlig Recht, dass ein Bauwerk nicht aus dem Nichts kommt, sondern zunächst eine Person die idéa des Bauwerks erkennen und durchdringen, bevor diese zu Papier gebracht wird und hierdurch zum eídos wird, welches dann in eine physikalische Form, eben das Bauwerk, gebracht wird. Es bedarf hierzu eines Menschen, der zu hoher Erkenntnis befähigt wird. Das mag ein Philosoph sein, aber auch ein philosophisch gebildeter Baumeister, der seinen Geist gut geschult hat, vermag dieses. Wichtig ist es, den Geist zu schulen und Wesentliches von Unwesentlichem und Wahres von Falschem zu trennen. Wobei Falsches auch jene Dinge umfasst, die zwar real sind, aber falsch wahrgenommen werden. Das heißt, Trugbilder der wahren Beschaffenheit. Allzu oft nehmen wir nur Trugbilder wahr, deren wahre Form erst nach philosophischer Erörterung erkannt wird. Deshalb ist es richtig, den Verstand nicht abzulenken. Und hiermit kommen wir zum Theater. Die meisten Stücke sind bloße Unterhaltung und damit Ablenkung. Doch auch jene, die einen bildenden Zweck verfolgen, sind oftmals nicht von reiner Erkenntnis geprägt. Nicht ohne Grund verwirft Platon in seiner Politeia die Dramen und Epen, weil sie eben oft nicht die gewünschte Moral oder Bildung vermitteln. Insofern hast du auch darin Recht, dass Theaterbesuche der Erkenntnis nicht förderlich, mithin sogar schädlich sind. Was allerdings den Hinweis auf die Fähigkeiten als Liebhaber anbetrifft, so sei angemerkt, dass auch dieses eine Ablenkung des Geistes ist, die man möglichst vermeiden sollte."


    Kurz dachte ich nach, bevor ich ergänzte:


    "Andererseits muss natürlich auch berücksichtigt werden, dass ohne sexuellen Kontakt mit dem anderen Geschlecht wir Menschen zwangsläufig zum Untergang verdammt wären. Folglich ist es notwendig, dass Kinder gezeugt werden, vorzugsweise von jenen Menschen, die zur höheren und höchsten Erkenntnis befähigt sind. Womit wir nun zu einem Paradoxon gelangen: Jene, die zur höchsten Erkenntnis befähigt sind, sollten sich nicht ablenken lassen, auch nicht durch Sexualität. Andererseits sollten genau diese Menschen sich vermehren. Man hat also die Wahl zwischen höchster Erkenntnis und Fortbestand und Verbesserung der Menschheit. Jedoch lässt sich dieses Paradoxon auflösen, indem man in der einen Lebensphase enthaltsam lebt und in einer anderen eine Familie gründet. Die Frage ist nur, welche Phase zuerst sein sollte."


    Hier wusste ich in der Tat - noch - keine Antwort.

  • "Gut, dass wir uns einig sind, was die Schädlichkeit von Theaterbesuchen betrifft." Er hoffte, dass auch Stilo sich dieser Einschätzung anschloss. Andererseits konnte Terpander es nicht ändern, falls dem nicht so sein sollte. Auch in Mogontiacum gab es reichlich Unterhaltungsmöglichkeiten, die junge Leute in all ihrer Formbarkeit lockten und gezielt verdarben. Terpander missbilligte sie allesamt und fand, die Jugend sollte stattdessen Sport treiben.


    "Es ist auch gut, dass dein Geist sich nicht von irgendeinem körperlichen Verlangen beeinträchtigen lässt. Einen Kampf gewinnt man zu drei Vierteln im Kopf. Aber warum sollte es eine Ablenkung sein, seine Rolle als Liebhaber zu erfüllen? Nur, damit wir uns richtig verstehen: Ich spreche hier nicht von dekadenten Ausschweifungen, von irgendwelchen Orgien, die einen genau so verblöden wie ein Theaterbesuch. Die einen dumm, hässlich und krank machen. Sondern vom Liebhaber im eigentlichen Wortsinn."

  • Ich dachte einen Moment lang nach, musste mir aber eingestehen, dass ich Terpander nicht verstand.


    "Möglicherweise haben wir hier ein Definitionsproblem und meinen unterschiedliche Dinge. Ich sehe starke Emotionen generell kritisch, weil sie unsere Urteilsfähigkeit stark beeinträchtigen. Liebe gehört dazu, so dass ein Liebhaber, rein grammatisch gesehen, ein Mensch ist, der von Liebe geleitet wird. Entsprechend sehe ich hierin eine Gefährdung des effizienten Erkenntnisgewinns. Dabei ist es auch unerheblich, ob man Liebhaber einer Person oder einer Sache ist. Als Ausnahme muss hier die Philosophie als Liebe zur Weisheit gelten, ist doch diese Liebe nicht emotional zu sehen, sondern als eine Liebe, die unmittelbar von der Vernunft ausgeht und nicht von den eher tierischen Instinkten, die uns ebenfalls innewohnen. Natürlich haben die Instinkte auch ihre Berechtigung, sichern sie doch unser Überleben. Insofern ist die Existenz der Instinkte durchaus vernünftig, jedoch sind es instinktgetriebene Handlungen nicht."

  • Die Schiffsreise verlief gut und innerlich bedankte Stilo sich bei Neptun, dass die Winde zu ihren Gunsten standen. Dass Tacitus unbedingt zu einem Bauwerk gehen wollte, verwunderte Stilo nicht, schließlich wusste Tacitus, was sich lohnen würde und was nicht. Er freute sich bereits darauf und kaute gemütlich auf ein Stück Trockenfleisch herum, als Sie schließlich ankamen.


    Die Sonnenstrahlen brachen zwischen den Bögen durch und Stilo konnte seine Bewunderung kaum verbergen. Ein imposantes Meisterwerk menschlicher Baukunst und perfekt in die Landschaft eingebettet - sowas zeigte die wahre Stärke unseres Volkes.


    Ohne einen Blick vom Aquädukt zu wenden, folgte er dem Gespräch und gab dann letztendlich zu, ab und zu mal auch gerne ins Theater zu gehen.


    "Ich muss widersprechen, Terpander. Ich finde, ein Theater kann auch gute Aspekte haben. Natürlich wird vieles gezeigt, was zur allgemeinen Verdummung beitragen kann. Oder auch zur Ablenkung für gewissen Bedrohungen oder Problemen. Bei allen Besuchen, in denen ich im Theater war, ging es viel mehr um die Kultur. Nicht die Tragödien, Komödien, Pantomimen und Satiren, nein, die Inszenierung von epischen Geschichten und historischen Ereignissen ist das, was bei vielen Menschen die Zugehörigkeit zu Rom stärken. Und vor allem, es muss alles im Gleichgewicht bleiben. Nur Spaß ist nicht gut, es muss, wie soll ich sagen, alles im Leben zusammenpassen."


    Bezüglich der Frage, welche Phase als Erstes eintreten sollte, konnte Stilo nicht helfen, da er sich noch nie darüber Gedanken gemacht hat. Außerdem hätte er in der kommenden Zukunft vorerst auch keine Zeit, sich über sowas Gedanken zu machen.




  • Die Worte von Tacitus musste Terpander durchdenken - auch, weil das Wort "Liebe" ihn in dem Zusammenhang schockte. Hielt Tacitus ihn wirklich für einen romantischen Träumer? Dann musste er an sich arbeiten. Er selbst sah sich als Realist und auch als Opportunist, doch wer wusste schon, wie er mittlerweile wirkte? Er hatte zu bequem gelebt, darum ging es ihm auch so elend.


    "Kann es sein, dass wir von verschiedenen Dingen sprechen?", versuchte er die Dinge zu ordnen. "Erstens meinte ich mit 'Liebhaber' keinen 'Geliebten'. Das sind für mich zwei paar Schuhe. Den Geliebten liebt man, mit dem Liebhaber hat man Spaß. Wenn man sich nur als Liebhaber sieht, muss man keine Gefühle haben, es genügt Sympathie. Und zweitens muss der Beischlaf auch nicht an das Zeugen von Nachkommen gebunden sein. Weder Liebe noch Zeugungsabsichten sind also für guten Beischlaf notwendig. Wenn du es so betrachtest, findest du dann immer noch, dass er einen vom Erkenntnisgewinn abhält?"


    Auf die Antwort war Terpander gespannt, da er von Philosophie keine Ahnung hatte. Er hielt sie - wie so vieles andere - für Zeitverschwendung, aber das würde er Tacitus nicht sagen, denn die Philosophie schien ihm auf einer persönlichen Ebene wichtig zu sein.


    Dann aber schlug Stilo genau in die Kerbe des Theaters. Terpander verzog keine Miene, doch entgegen seiner üblichen Art wischte er die Meinung des Jüngeren nicht einfach mit einer rüden Floskel beiseite, sondern dachte darüber nach. "Theater zur Bildung und Pflege von Kultur", wiederholte er langsam. "Gibt es so was denn? Alles, was ich miterleben musste, als ich meinen jungen Herrn Scato ins Theater begleitete, war massentauglich aufbereitet." Oder Scato hatte schlichtweg bloß dumme Theaterstücken besucht. "Auch in Mogontiacum gibt es ein Theater. Falls mal eine solche Aufführung stattfindet, wie du sie beschreibst, könntest du mich mitnehmen", schlug Terpander großmütig vor. "Dann kann ich dir hinterher aus Sicht des Paedagogus sagen, was ich davon halte."

  • Terpanders Antwort zeigte in eine andere Richtung, als ich es erwartet hatte. Doch besser machte es das nicht.


    "Nun, Terpander, um noch einmal auf den Liebhaber zurückzukommen, so bin ich überzeugt, dass wir hiermit unterschiedliches gemeint haben. Allerdings muss ich dich in einigen Dingen korrigieren, zumindest was die Sicht eines Philosophen anbetrifft. Der Beischlaf sollte ausschließlich der Zeugung von Nachkommen dienen, unabhängig davon, ob hierbei Spaß entsteht oder nicht. Spaß jedoch ist etwas, das einem echten Philosophen fremd sein sollte. Ein Philosoph sollte nach Zufriedenheit streben und nach Harmonie in sich selbst, aber auch mit der Welt. Das rechte Maß ist Grundlage jedweder die Erkenntnis fördernder Philosophie."


    Womit ich etlichen philosophische Schulen ihre Eignung zum Erkenntnisgewinn absprach. Das war mir natürlich klar, entsprach aber auch meiner Meinung.


    "Entsprechend gilt, dass Zufriedenheit ein erstrebenswerter Zustand ist, Spaß hingegen als Übermaß an Vergnügen abzulehnen ist. Man sollte stets bedenken, dass jedes Übermaß schädlich ist. Zufriedenheit ist daher vor allem durch Genügsamkeit zu erreichen. Womit, lieber Stilo, wir auch schon bei deiner Bemerkung sind. Denn hier liegst du zumindest teilweise richtig, dass alles im Gleichgewicht sein muss. Jedoch muss ich sagen, dass ich der Inszenierung von epischen Geschichten und historischen Ereignissen stets skeptisch gegenüber stehe, findet diese doch aus der Sicht des Autors eines Bühnenstückes statt, so dass eine subjektive Verzerrung inhärent ist."


    Während wir sprachen, stellte ich meine Skizze des Aquädukts fertig. So schweifte mein Blick über das Flussbett des Vardo. Mir fielen einige größere Steine auf, die auf allen Seiten rund zu sein schienen. Das deutete darauf hin, dass ein Hochwasser solche Steine transportieren konnte. Aus der Größe dieser Steine könnte man sicher die Kraft des Wassers berechnen und daraus wiederum die nötige Widerstandskraft der Pfeiler.

  • Terpander beobachtete, wie Tacitus mit geübten Strichen den Aquädukt skizzierte. Das Motiv war komplex, die perspektivische Verzerrung in Freihand vermutlich nicht leicht umzusetzen. "Hast du das Zeichnen auch in Alexandria gelernt? Und wo kam eigentlich der Kerl her, der sich diese Philosophie der Enthaltsamkeit ausgedacht hat? Kam er nicht aus Athen?" Die Wahrscheinlichkeit dafür war hoch. So was dachte sich kein normaler Mensch aus. "Wenn kurzfristiger Spaß langfristige Zufriedenheit bewirkt, ist er dann gut oder trotzdem schlecht?" Terpander fühlte sich nach dem Beischlaf immer zufrieden und war für seine Mitmenschen erträglicher als üblich. "Dieser Philosoph lehnte dann wohl auch das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis der hellenischen Welt ab."


    Vielleicht war sein eigener Erastes abstoßend gewesen, so dass er das Konzept als Ganzes infrage stellte. Terpander war aufgefallen, dass die Statuen der berühmten Philosophen oft unansehnlich bis hässlich waren. Wenn man bedachte, dass Statuen üblicherweise geschönt waren, konnte man sich ausmalen, wie die Männer wirklich ausgesehen haben mussten. Für jemanden, der so mit Hässlichkeit geschlagen war, war es natürlich verlockend, seine romantischen Misserfolge mit irgendwas anderem als dem eigenen Aussehen zu begründen, zum Beispiel Erkenntnisgewinn, und sie zur Philosophie zu erheben. Das klang weniger erniedrigend.


    Aber auf Tacitus traf das nicht zu, er war kein wandelnder Thersites. Irgendwer hatte ihm in Alexandria völlig unnötig einen gewaltigen Haufen ins Hirn gesetzt.

  • "Ja, am Museion lernte ich zeichnen. Man kann kein brauchbarer Naturphilosoph werden, ohne zeichnen zu können. Man benötigt es zur Veranschaulichung von Geometrie und Versuchsaufbauten. Abgesehen davon hilft es, Eindrücke für längere Zeit zu konservieren."


    Wobei ich meine Zeichnungen möglichst präzise erstellte und somit der Begriff des Eindrucks von allem Abstrakten befreit war. Die weiteren Fragen Terpanders ließen mich an seiner Bildung zweifeln, nicht aber an seinem Verstand. Jedoch ließ ich mir davon nichts anmerken. Als ernsthaften Beitrag nahm ich sie dennoch an.


    "Zwei der Philosophen, aus deren Lehren ich meine Erkenntnis zog, lehrten zumindest in Athen, wobei der erste wohl auch dort geboren war, der andere jedoch auf Chalkidiki. Schlechte Lehrer waren sie nicht, wurde doch der zweite vom ersten Philosophen unterrichtet und war selbst wiederum der Lehrer Alexanders des Großen, der besser etwas enthaltsamer gelebt hätte. Dann wäre er wohl auch nicht so früh verstorben."


    Ob Terpander nun wusste, welche Philosophen das waren? Doch fiel mir etwas auf...


    "Welch interessanter Sachverhalt, dass ich in Sichtweite Alexanders studierte. So schließt sich der Kreis. Das ist mir noch nie aufgefallen. Doch kommen wir zum dritten Philosophen, dessen Lehren mich beeinflusst haben. Dieser stammt aus dem fernen Indien und ich habe kein direktes Werk von ihm gelesen, wohl aber Werke über dessen Philosophie. Er hieß wohl Siddharta oder so ähnlich. Und die Schule der Stoa ist ebenfalls prägend gewesen. Allen gemein ist, dass Begehren als schädlich für Eudaimonía betrachtet wird. Eudaimonía aber hängt stark mit Erkenntnisgewinn zusammen, denn ohne diese kann man sich jenem nicht widmen. Der Inder ist am strengsten in dieser Hinsicht, jedoch warnt er zugleich davor, vom einen Extrem ins andere zu fallen. Völlige Enthaltsamkeit ist also auch nicht richtig. Jedoch stelle ich fest, dass etwas, das große Freude bewirkt, zu Begehren führen kann. Dies gilt es aber zu vermeiden. Wie auch immer... ich denke, dass wir vielleicht auch eine unterschiedliche Definition von Zufriedenheit haben könnten. Doch denke ich, dass wir nun erst einmal genug philosophiert haben, denn die Sonne ist schon über den Zenit hinaus gelaufen und wir müssen noch zurück nach Nemausus. Allerdings werde ich über deine Frage weiter nachdenken, denn ich habe noch keine Antwort."


    So packte ich die Schreibutensilien weg und signalisierte, dass es Zeit zum Aufbruch war. Jedoch hoffte ich, dass wir bei anderer Gelegenheit wieder Zeit für einen philosophischen Austausch finden würden. Die andere Lebenswirklichkeit Terpanders eröffnete mir durch dessen Meinung und Fragen neue Sichtweisen, was wiederum zu neuen Erkenntnissen führen konnte.

  • Was Philosophie betraf, so besaß Terpander in der Tat eine Bildungslücke. Sie war Teil der langen Liste von Tätigkeiten, die in Sparta als "nutzlos" oder "dekadent" betrachtet wurden. Um seine angebliche Herkunft aus Athen glaubwürdig zu machen, hätte Terpander sich damit befassen müssen, doch verbot ihm das seine Erziehung. Er konnte kein philosophisches Werk zur Hand nehmen, ohne in Selbstverachtung zu versinken, und er wollte es auch nicht. Trotzdem fand er das Gespräch mit Tacitus lehrreich, denn es zeigte ihn, wie der Mensch Tacitus dachte und fühlte (beziehungsweise nicht fühlte). Und gegen diese Art des Erkenntnisgewinns sprach nichts.


    "Alexander war ein großer Mann", sagte Terpander nachdenklich. "An seinem frühen Tod kann ich nichts Schlechtes sehen, denn er starb in vorderster Schlachtlinie für sein Volk. Alte Feiglinge gibt es genug. Was eine Nation braucht, sind junge Helden." Und dann war es wohl gut, dass Tacitus das Gespräch für beendet erklärte, denn in dem Moment, als Terpander von "alten Feiglingen" sprach, versank er wieder in Bitterkeit. Es gab Dinge, über die er nicht nachdenken sollte.


    "Wenn dir eine Antwort einfällt, lasse es mich wissen."

  • "Wer zu kurz lebt, hinterlässt nur einen großen Namen, aber kein Erbe. Eine Nation, die nur aus jungen Helden besteht, stirbt auf dem Schlachtfeld. Doch geht es einer Nation, die nur aus Feiglingen besteht, auch nicht besser. Odysseus erscheint mir da schon besser als Held geeignet zu sein, jedoch hatte er seine gesamte Mannschaft verloren. Das macht ihn zu einem schlechten Anführer. Divus Augustus hingegen hat alles. Gerissenheit, politischen Instinkt, gute Führungsqualitäten und militärisches Können. Und Glück, denn ohne das überlebt man nicht die Wirren eines Bürgerkriegs."


    Ich ließ mein Pferd langsam auf den Hang zutraben. Von dort aus ging es wieder nach Nemausus. Am nächsten Tag würde die Reise nach Mogontiacum weitergehen.

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