Am dritten Tag, nachdem wir Cháng'ān verlassen hatten und dem Wèi Hé gefolgt waren, kamen wir an der Mündung des Wèi Hé in den Huáng Hé an. Der Wèi Hè kam von Westen und der Huáng Hé von Norden. Genau an der Mündung machte der Huáng Hé eine Biegung um 90 Grad nach Osten, um einen Felsen herum. Das weite Tal, durch das wir gekommen waren, verengte sich auch merklich. Zwar war das Tal an seiner Sohle immer noch deutlich breiter als der Huáng Hé, doch war es zugleich deutlich schmaler, als das Tal des Wèi Hé. In dem kleinen Ort an der Mündung machten wir Rast und würden hier auch übernachten. Die Bewohner behandelten uns mit äußerstem Respekt und niemand wagte es, zu fragen, woher wir kamen, was wir transportierten, oder wohin wir gingen. Ich überließ die Organisation, wie schon in den letzten beiden Tagen, Wú Liàng und seinen Soldaten und nutzte die Zeit, um ans Ufer zu reiten.
War der Wèi Hé eher von der Mächtigkeit des Tiber, so war der Huáng Hé am ehesten mit dem Rhenus zu vergleichen. Und doch völlig anders. Der Huáng Hé war von ockergelber Farbe, was ihm wohl auch seinen Namen einbrachte. Gelber Fluss. Es gab einen Hauptarm und viele Nebenarme, die sich durch Sandbänke der gleichen Farbe schlängelten. Das Ufer direkt am Fluss fiel steil einige passi ab und auch die Bäche, die dem großen, gelben Strom zuflossen, hatten sich tief ins Sediment gefressen. Die ebene Talsohle, die entsprechend höher als der Fluss lag, war über und über mit Feldern bepflanzt, auf denen Getreide und Gemüse wuchsen. Der Boden hatte die gleiche Farbe wie der Fluss und schien sehr fruchtbar zu sein. Zum Süden hin stieg das Tal zu einem Gebirge auf, das auch den Wèi Hé entlang in unserem Süden war. Wie auch zuvor, waren an den unteren Hängen Terrassen angelegt. Und auch auf dem gegenüberliegenden Ufer waren bewirtschaftete Terrassen zu sehen. Weiter oben waren die Hänge dicht bewaldet. Stromabwärts konnte ich hin und wieder bewaldete Hügel sehen, die bis an den Fluss reichten. Und immer wieder konnte ich Dörfer und Höfe erkennen. Insgesamt war es ein sehr schöner, harmonischer Anblick, der Natur und Zivilisation meiner Meinung nach perfekt verband.
Ich ritt zurück in den Ort und ging in das Haus der Dorfvorstehers, der mich mit einer tiefen Verbeugung begrüßte, was ich mit einer leichten Verneigung quittierte. Von diesem forderte ich, mir Tisch und Bambusmatte in Ufernähe aufzustellen, so dass ich das Tal des Huáng Hé malen konnte. Er sah zwar etwas fragend aus, wagte es aber nicht, meinen Wunsch in Frage zu stellen. Zu hoch war mein Beamtenrang für ihn. So wurde mir die Stelle eingerichtet und ich malte mit Tusche auf Papier, was ich sah. So, wie es den hiesigen Malereien zu eigen war, fing ich eher die Stimmung ein, als das exakte Abbild. Ich ließ mir Zeit, bis die Sonne anfing, sich zunehmend orange zu färben, um in meinem Rücken den Weg hinter den Horizont anzutreten. Das Bild schien mir perfekt zu sein, wenngleich den Anblick des in orange-goldenen Schein getauchten Tals des Huáng Hé nicht einzufangen vermochte. Ich ließ die Schönheit des Moments auf mich wirken. Das glitzernde gelbe Wasser gab dem Ganzen den Anschein, als würde hier ein Fluss aus Gold durch Felder und Wälder fließen. Es war für mich fast, als hätte ich den schönsten Ort der Erde gefunden.
Als es schon fast dunkel war, bemerkte ich, dass jemand ein paar Schritte hinter mir stand. Ich wusste nicht, wie lange die Person bereits da stand, doch war es mir ein Bedürfnis, mich zu erheben und zu der Person umzudrehen. Es war Arpan. Er war allein. "Tacitus, das Essen ist schon seit einer Stunde fertig." Er sprach mit mir auf Latein. Diese Sprache hatte ich schon lange nicht mehr gehört.
"Danke, mein Freund. Und du stehst bereits die ganze Zeit hier und sagst nichts?" Auch ich sprach nun Latein.
Er schüttelte den Kopf. "Es sah so aus, als wärst du eins mit der Gegend. Das wollte ich nicht kaputt machen."
Ich verneigte leicht mein Haupt. "Auch hierfür danke ich dir. Es ist ein wirklich schöner Ort, meinst du nicht? Vor allem mit dem Licht der Dämmerung." Dabei lächelte ich glücklich.
"Ja, das ist es." Arpan trat neben mich und blickte auf mein Bild. "Noch in Transoxanien hätte ich es nie für möglich gehalten, dass du einmal die Welt mit dem Herzen siehst und nicht mit dem Verstand. Deine Diskussionsabende haben dir gut getan. Deine ganze Zeit hier hat die gut getan."
"Damit hast du wohl recht, mein lieber Arpan," erwiderte ich, "und wenn ich keine Familie hätte, würde ich wohl hier bleiben. Doch auch das habe ich hier gelernt. Als Sohn sollte ich mich um meine Mutter und um meine Schwester kümmern." Ich sah ihn an, während er nachdenklich nickte. "Doch auch dir scheint die Reise gut getan zu haben."
"Die Lehren des Buddha helfen mir. Ich kann die Gladiatoren, die ich getötet habe, nicht mehr lebendig machen. Aber ich kann mich meiner Schuld stellen und sie verarbeiten, damit ich im nächsten Leben nicht mehr davon verfolgt werde."
Nun nickte ich nachdenklich. "Ich kann nicht sagen, dass ich dich verstehe. Denn dazu müsste ich erlebt haben, was du erlebt hast. Aber ich kann sagen, dass ich mich freue, dass du deinen Frieden zu finden scheinst."
Arpan lächelte und wir standen noch schweigend da und sahen auf den Fluss und sein Tal, bis Bewohner des Dorfes kamen, um den Tisch und die Bambusmatte wieder zurück zu holen. Ich packte mein Bild und meine Malutensilien ein und wir gingen schließlich alle gemeinsam ins Dorf zurück. Das Essen war inzwischen kalt, doch bestand ich darauf, es so zu essen. Andernfalls hätte man mir frisches Essen zubereitet. Arpan hingegen aß nicht mehr zu Abend.
Wie üblich, besprach ich mich am Abend mit Wú Liàng unter vier Augen über die Etappe des nächsten Tages. Die Straße war sehr gut und stand einer römischen Straße kaum nach, so dass wir weiterhin zügig vorankommen würden. Wir lagen gut in der Zeit und würden, wenn es so weiter ginge, in fünf Tagen Luòyáng erreichen.
Flumen Flavum = Der Gelbe Fluss (Huáng Hé)