Er ließ die Schale sinken, und betrachtete die junge Griechin zum ersten Mal richtig. Sie war drall und hatte ein grobflächiges Gesicht mit einer breiten Nase, aus dem ihn große, feucht glänzende Augen nervös entgegensahen. Kuhaugen. Hübsche sanfte Kuhaugen. Ihr schwarzes Haar war mit einem Tuch streng zurückgebunden.
Unvermittelt streckte er die Hand aus und streifte ihr das Tuch vom Kopf. Sie sah ihn groß an.
"Laß das!"
Er ließ sich nicht stören, lockerte ihr Haar, und strich mit gespreizten Fingern hindurch.
"Aber Severus...", protestierte sie zögerlich, ohne sich seiner Hand zu entziehen.
Ein, schon sehr lange nicht mehr in Erscheinung getretenes, wölfisches Lächeln stahl sich in das Gesicht des Germanen, als er sich langsam an das Mädchen heranbeugte, die Essenschale ohne hinzusehen beiseite stellte, und die Hände um Astraias Schultern legte. Abrupt zog er sie an sich heran und presste seine Lippen auf ihre. Erst wehrte sie sich ein bisschen, dann seufzte sie, kicherte: "Dein Bart kratzt...", und erwiderte schüchtern den Kuss.
Doch urplötzlich quietschte sie auf, und riss sich erschrocken los, als sie mit einem Mal nicht mehr alleine waren. Ein älterer Mann war es, der die Sklavenunterkunft betreten hatte, und missbilligend mit der Zunge schnalzte.
"Ich... muss in die Küche!", stammelte das Mädchen und stürzte hurtig davon.
Der Germane sah ihr einen Augenblick enttäuscht hinterher, dann begannen seine Schultern zu zucken. Er lachte, lachte in sich hinein, ohne sich um die empörten Blicke des Störenfriedes zu kümmern. Astraia hatte in der Eile ihr Kopftuch vergessen, das nahm er an sich, um es ihr bei Gelegenheit zurückzugeben, am besten in einer stillen Stunde an einem einsamen Ort.
Seine Lebensgeister waren neu erwacht. Endlich stand er von seinem Lager auf, ging dann hinaus und holte sich mit einem Eimer Wasser am Brunnen. Er wusch sich von Kopf bis Fuß, schrubbte sich den Fieberschweiß vom Leib und auch die letzten Spuren des Kerkerdrecks. Von einem anderen Sklaven lieh er sich Rasierzeug, und schabte sich den struppigen Bart restlos ab. In dem kleinen Metallspiegel betrachtete er sein Gesicht, die hohlen Wangen, die blutunterlaufenen Augen, in denen ein seltsam unsteter Ausdruck sich festgesetzt hatte, und es schien ihm tatsächlich, als ob jemand ganz anderes ihm da entgegen sähe.
Mit dem Zeigefinger befühlte er die kleine Narbe an der Stirn, da wo der Fluch des Goden Flavius Gracchus ihn getroffen hatte, und er besah sich auch genau den Streifen von Blutergüssen, der sich quer über seinen Hals zog und in einem langsam verblassenden Violett-Gelb prangte, wie ein besonders hässliches Halsband.
Eigentlich, dachte sich der Germane bei diesem Anblick, eigentlich ist es doch unglaublich, dass ich noch mal davongekommen bin.
Und die Trauer und Verzweiflung über das was man ihm genommen hatte, trat in den Hintergrund, war einen Augenblick lang gegenstandslos, angesichts der warmen Freude, noch unter den Lebenden zu weilen.
Sein Haar, das ihm einst die Sklavenhändler geschoren hatte, war gewachsen, und reichte ihm schon wieder bis zu den Schultern. Doch langes Haar war das Vorrecht der Freien. Mit finsterem Gesicht begann er es zu schneiden, biss die Zähne zusammen und kappte Strähne für Strähne, bis es auf der Länge war, die einem Unfreien gerade noch zustand.
Als er das hinter sich gebracht hatte, und die Haare verbrannt hatte, damit niemand damit einen Schadenszauber wirken konnte - und ebenso die abgeschnittenen Fingernägel, um nicht den Bau des Totenschiffes, das dereinst die Wolfszeit bringen würde zu beschleunigen - zog er sich eine frische Tunika über. Es war eine grobe dunkle Arbeitstunika, denn er hatte keine andere. Überhaupt besass er ja nichts mehr auf dieser Welt.
Mit den Fingern strich er sich die Haare zurück, die am Trocknen waren, zog vergeblich an der Tunika herum - sie war für kleinere Menschen gedacht, und ihm mal wieder zu kurz - und machte sich auf den Weg, um in den weitläufigen Innereien der Villa nach Flavius Aquilius zu suchen.