Varus sinnierte einen Moment über Livias Worte nach. Er fühlte sich alt und faltig, nicht von dieser Welt und einfach nur müde. Vielleicht brauchte er mal Urlaub, überlegte er. Doch alles Denken ließen Livias Worte nicht weniger herzlich oder gar unwahr erscheinen. Nein, im Gegenteil, Livia kannte Varus als seine Schwester nur zu gut. Und das war der Vorteil, wenn sie miteinander redeten: sie kannten sich sehr gut und wussten, was der andere dachte und fühlte. Und sollten sie es einmal nicht wissen, so konnten sie es zumindest erahnen. Varus seufzte tief, das Bild Alessas vor Augen.
"Du hast Recht, Livia. Wie immer, wenn es um dergleichen Dinge geht, hast du Recht. Es ist nur ein komisches Gefühl, weißt du... Alessa ist ja nun wirklich nicht die erste, die in Frage käme, seit ich Sabina verloren habe. Und trotzdem strahlt sie - selbst wenn sie schweigt - etwas aus, dass mich einfach nur glücklich macht. Ich kann es nicht beschreiben, aber es ist genauso wie bei ihr damals. Bei Sabina."
Varus hob den Blick wieder und sah Livia an, die nun fortfuhr. Als sie geendet hatte, nickte er und schüttelte zugleich den Kopf. Er fuhr sich wieder einmal mit der Hand über die Augen und sagte:
"Das ist es nicht. Ich weiß ganz genau, was ich für Alessa empfinde. Und bei den Göttern, ja, es ist mehr als nur Freundschaft. Allerdings wirst du den Namen Decima schon oft gehört haben - es ist eine sehr einflussreiche und ehrvolle Gens, der sie entstammt. Was wird ihr Pater Gentis dazu sagen? Ich mache mir Sorgen, dass ich als einfacher Postbeamter nicht gut genug bin", sagte er.
"Und dann ist da noch Arria. Sie sagte mir bereits, dass sie Alessa auf keinen Fall als ihre Stiefmutter ansehen kann, ist sie doch älter als Alessa. Das macht nichts, aber für sie muss es doch ein Vertrauensbruch sein, dass die Mutter im gleichen Alter ist, meinst du nicht? Und was Alessa angeht...ich kenne sie gut genug um zu wissen, dass sie zu Arria eher eine freundschaftliche Beziehung aufbauen würde als eine mütterliche. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass Arria es mir sehr, sehr übel nimmt oder nehmen wird, wenn ich mich weiterhin mit Alessa treffe und sie sogar zu heiraten gedenke..."
Varus seufzte tief und legte den Kopf in den Nacken und damit auf die Lehne des Sessels. Er schloss die Augen und wollte in diesem Moment nichts anderes, als nicht mehr denken zu müssen. Wein... Er sah auf und sah sich um, entdeckte die Weinkaraffe auf einem Schränkchen und stand auf, um den Weinkrug, zwei Becher und Wasser zum Verdünnen auf den kleinen Tisch zwischen Livia und sich zu stellen. Fragend sah er Livia an, ob sie auch etwas wolle. Sich selbst goss er puren Wein ein. Es war zwar erst kurz nach Mittag, aber Varus wollte seine Gedanken trotzdem jetzt schon lähmen, denn sie raubten ihm den letzten Nerv.
"Es ist einfach zuviel in letzter Zeit", begann er leise, nachdem er einen halben Becher in einem Zug leergetrunken hatte.
"Zuerst die neue Stelle, in der ich weit mehr Verantwortung habe als früher. Dann der Umzug nach Tarraco, Arrias bevorstehende Sponsalia und der Umschwung ihres Verahltens, Miriam, die mir und jedem anderen auf der Nase herumtanzt, Cinna, der plötzlich auftaucht und die alten Streitereien wieder ausgräbt... Und dann muss ich in Kürze nach Rom. Ich muss endlich einen Verwalter für die Taverna finden...."