Dass er seinen Vater und seine Mutter das erste Mal erwähnt hatte, fiel ihr stärker auf als die Tatsache, dass der Regen um sie herum abflaute und aus dem beständigen Prasseln langsam aber sicher ein Plätschern wurde. Dass ihm die Ansichten und Meinungen seines Großvaters wichtig waren, hatte sie in den zurückliegenden Gesprächen immer wieder erfahren können, er zitierte ihn sehr oft, aber der Name seines Vaters war bis zu diesem Zeitpunkt kein einziges Mal gefallen. Verbarg sich dahinter eine geheime Schande, etwas, das ihm peinlich war oder vielleicht verschwiegen werden musste, weil es die Ehre gebot? Aber sie wollte ihn nicht drängen, denn es hätte weder zu ihm, noch zu ihr oder auch nur ansatzweise zu der vertrauten, ruhigen Stimmung dieses Momentes gepasst, hätte sie ihn jetzt bestürmt, ihr weitere Einzelheiten zu verraten. Sie glaubte zu wissen, dass er ihr von sich aus zum richtigen Zeitpunkt etwas erzählen würde, wenn er es für richtig hielt. Insgeheim hoffte sie, dass es irgendwann der Fall sein würde, nicht zuletzt, weil der Mensch Quintus, bar aller Masken, Uniformen, gesellschaftlicher Zwänge und seiner Erziehung, sie einfach interessierte, wie er war.
Sein Lächeln blieb nicht unbemerkt, und sie erwiederte es offen, ohne Vorbehalte, es stand ihm so gut, dass er befreit lächeln konnte, die starre, beherrschende Miene des Soldaten einem weicheren, fast zärtlichen Ausdruck weichen konnte. Es gab zu viele Männer, die es vergessen hatten, den Moment zu genießen und sie war sehr froh darüber, dass er nicht zu ihnen zählte. Auch wenn das Sehnen in ihrem Körper von Moment zu Moment deutlicher zu spüren war, konnte sie doch die Nähe Quintus' auch innerlich genießen, ohne sich dem Diktat ihrer Sehnsüchte unterwerfen zu müssen. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich ihn nicht so brennend, so sinnlos begehre wie Victor, dachte sie und schüttelte innerlich über sich den Kopf. So lange war sie nun Witwe und plötzlich lag sie im Arm eines fast fremden Mannes und ließ sich küssen, ohne sich dafür zu schämen. Vielleicht gibt es nichts daran, wofür man sich schämen sollte. Dafür, dass man empfindet, sollte man sich nicht schämen müssen. Eher dafür, sich sinnlos einem Rausch zu ergeben, ohne sich dessen vollkommen sicher zu sein.
Sanft berührten ihre Lippen die seinen in jenem Kuss, dann ließ sie ein tiefes, genießendes Seufzen hören. Was würde das werden, was sie hier teilten? Sie konnte ihn nicht anders sehen als einen Freund, einen Begleiter, der ihr etwas Besonderes geschenkt hatte und dem sie dafür etwas Besonderes zurück geben konnte. Vielleicht würden sie sich niemals wieder so nahe kommen, denn wenn sie die Klippe verließen, würde er wieder der Patrizier sein, und sie wieder die Plebejerin, getrennt durch Stand und Ansehen. "Ja, die haben wir," flüsterte sie leise und fasste mit ihren Lippen sanft nach den seinen. Es sollte noch nicht zu Ende sein, noch nicht jetzt. Zumindest nicht für diesen Augenblick.