Zu gern nur ließ ich Siv gewähren, ich mochte ihre Eigeninitiative, wenn wir allein waren, und der Kuss schmeckte umso süßer in dem Wissen, dass ich ihr mit dem Buch tatsächlich eine Freude gemacht hatte. Ich hob eine Hand an das verwunderte Gesicht und strich mit dem Daumen über die pfirsichzarte Wange. „Das war mein Lieblingsbuch. Naja, zumindest bis ich rechnen gelernt hatte“, witzelte ich und kräuselte in selbstspottendem Amusement die Lippen. „Es hat einmal meinem Vater gehört. Er hat es in seiner Zeit in Griechenland irgendwo aufgetrieben und später dann mir geschenkt. Jetzt weißt du, woher mein Interesse an Sternbildern und damit verbundenen Geschichten stammt“, erzählte ich ihr, während der rechte Zeigefinger langsam eine Haarsträhne eindrehte. Kurz wirkte ich nachdenklich, doch ein Blinzeln später lächelte ich Siv erwartungsvoll an. „Naja. Ein schäbiges altes Buch erschien mir zu…plump.“ Ich zwinkerte ihr zu und stand dann auf, um ihr die Hand zu reichen. „Komm“, forderte ich Siv leise auf und wartete, bis sie die Seite markiert und mir ihre Hand gereicht hatte.
Ihre schmale Hand in meiner haltend, ging ich voran durch die villa. Mir war angenehm warm, nicht nur bedingt durch den Wein, und dementsprechend wohltemperiert war auch meine Hand. Sicherlich erkannte Siv bald, wohin ich wollte. Allerdings standen wir kurz darauf nicht vor der Tür zu meinen Gemächern, sondern vor ihrer Kammer. Auf dem Weg hierher war uns niemand begegnet. Ich blieb stehen und legte die freie Hand auf die Klinke, drückte sie jedoch nicht. „Schließ die Augen“, sagte ich zu Siv gewandt und lächelte. „Und nicht schummeln.“ Als sie getan hatte wie ich ihr geheißen, öffnete ich die Tür zu ihrem Zimmer und trat einen Schritt zurück. Behutsam legte ich ihr die Hände auf die Schultern und führte sie in den Raum hinein. Beschienen vom Licht des fast vollen Mondes stand dort unter dem Fenster ein Konstrukt aus dunklem Holz. Man konnte das harzige Aroma riechen. Die Öllampen, die ich zuvor entzündet hatte, schienen die hölzernen Formen mit Honig zu überziehen. Ich führte Siv vor das neue Möbelstück hin und legte ihre Hände auf die Seite. „Du darfst schauen“, erlaubte ich ihr dann leise und trat beiseite, um ihr Platz für eine Reaktion zu bieten. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte ich nun also an der Tür, die zu meinem Schlafgemach führte, und betrachtete Siv, wie sie ihre erste Bekanntschaft mit der Wiege machte, die ihr zweites Saturnaliengeschenk darstellte. Sie war außergewöhnlich, darauf hatte ich Wert gelegt. Der Tischler hatte den Kopf in Form eines Pferdes ebenso gekonnt umgesetzt wie die kleinen Schnitzereien an den Seiten. Auffällig waren auch die fein herausgearbeiteten, angelegten Flügel an den Seiten der hölzernen Wiege. Sivs Kind würde behütet schlafen, beschützt durch einen pegasos selbst und ruhend auf einem weichen, mit blutrotem Stoff bezogenen Bettchen. In diesem Moment wurde mir klar, wie ungeduldig ich auf die Geburt wartete.