Manchmal konnte man sich wirklich fragen, ob Licinus nicht ein wenig zu blauäugig für den Posten eines primus pilus war. Ein weiteres Beispiel für diese Schwäche des Offiziers ereignete sich an einem der ersten Marschabende nach dem Aufbruch der ersten Legion in Mantua. Relativ spät am Abend war ein Schreiber aus dem Stabe des praefectus castrorum bei ihm erschienen. Der Mann war für die Verteilung der Feldpost zuständig und hatte einen Brief bei dem obersten centurio abzugeben.
Licinus hatte an der Handschrift des Absenders jenen schon nach der Adressierung als seinen alten Freund und Waffengefährten Faustus erkannt und sich gefreut, dass es diesem wieder einmal gelungen war zu schreiben, nachdem sie lange, lange Zeit nichts voneinander gehört hatten.
Mit Vorfreude hatte er ihn in eine Ecke des Feldschreibtisches unter einen Kiesel gelegt, der als Briefbeschwerer diente. Noch einen Moment hatte er sich der Pflicht gewidmet. Gut, das war nicht wirklich viel, die Stärkemeldungen wurden abgezeichnet, auf den ersten Marschtagen gab es naturgemäß noch keine Ausfälle, die Losung war ausgegeben worden und die Subalternen der centuria in die Nacht entlassen worden.
Endlich, die Nacht war schon lange über seinem Zelt hereingebrochen, konnte er sich für einen kurzen Moment entspannen. Er füllte noch einen Becher mit posca und widmete sich dann dem Brief.
Der erste Abschnitt des Briefes war auch nicht dazu geneigt, seine Freude zu trüben, nach einer etwas verworrenen Einleitung - Licinus erinnerte sich allerdings noch an die Einladung zu einer Amphore - schüttelte er kurz den Kopf - ein eigenes Gespann, Faustus, du bist also immer noch ein Draufgänger vor den Göttern - dann sprach er über seine Cousinen, was Licinus Augenbraue unwillkürlich einen knappen digitus in die Höhe wandern ließ - wunderhübsche junge Cousinen? Passender Ehemann? Faustus, Faustus, du denkst doch wohl nicht etwas..., nein ich bin als Junggeselle genauso zufrieden wie du. Ganz davon abgesehen, was sollte ich mit so nem jungen Ding auch anfangen? - genüsslich nahm er einen Schluck posca und nicht mal dem sauren Geschmack eben dieser gelang es, das Grinsen von seinem Gesicht zu wischen. Ja, Esquilina, wie es ihr wohl gerade in cremona ging, sie würden knapp daran vorbei kommen. Einen Moment überlegte Licinus, ob er sich für einige Stunden absentieren sollte, aber schon im gleichen Moment wischte er den Gedanken mit einer entsprechenden Handbewegung beiseite. Das war vollkommen unmöglich, die legio jetzt zu verlassen. Voll-kommen un-mög-lich. - Ha, und da war sie. Schlag dir das aus dem Kopf, mein Freund. Kennenlernen werd ich die beiden Cousinen vielleicht, warum auch nicht? Aber damit auch Schluss. Er grinßte noch immer bei dem Gedanken an jenes eventuelle Treffen.
Und dann kam jener Teil des Briefes, der ihm die Laune gründlich verdarb und seine ganze Blauäugigkeit offenbarte. Natürlich Faustus hatte Karriere gemacht. Wie war er auf den Gedanken gekommen, dass er Zeit hatte gerade jetzt Briefe an alte Freunde zu schreiben.
Schlimmer noch, er war praefectus der Praetorianergarde. Er stand auf der anderen Seite, der Brief sagte es ganz deutlich. Licinus ballte den Hand, die den Brief hielt, zur Faust und zerknitterte dabei das Pergament, auf dem er geschrieben war. Beinahe gegen seinen eigenen Willen las er weiter. Was hier geschrieben stand war zu ungeheuerlich um nicht gelesen zu werden, löste gleichzeitig zu sehr die Faszination des Unfassbaren aus.
Sollten sie tatsächlich alle getäuscht worden sein, nicht nur er. Sein legatus, dessen Verwandter, die Offiziere der prima, wie jene der beiden Germanien? Sehr detailliert hatte sein alter Kamerad berichtet, sowohl was seine Ermittlungen anging, als auch den Tathergang des Regizids. Mit wirklich allen Mitteln. Licinus konnte sich denken, was das hieß, war er doch selbst auf dem Feldzug gegen Parthia bei einer Befragung dabei gewesen. Eine Erfahrung bei deren Gedenken es ihm noch immer kalt herunterlief. Was war nur aus seinem Gefährten geworden, dass er sich auf solche Spielchen einließ.
Und gleichzeitig war der Brief so eindringlich geschrieben, so klar, so überzeugt, dass Licinus nicht anders konnte, als die Namen der Verschwörer zu lesen. Tiberius. Die Frau seines patrons war auch eine Tiberia. Oh ihr Götter, hieß das etwa, dass sein patronus...? Nein, das war doch völlig unmöglich, fragte sich Licinus und antworte sich sogleich selbst.
Wem konnte er nur trauen und wer versuchte ihn zu benutzen. Keiner und beide, so schien ihm müsse die Antwort lauten. Aber auch das konnte nicht sein, denn schließlich berichteten sie verschiedenes.
Er legte den Brief auf den Tisch, stand auf und fing an im Zelt umherzugehen. Viel Platz dazu war nicht. Drei Schritte hin, drei Schritte zurück. Kleine Schritte. Er nahm den Brief wieder und legte ihn sofort wieder hin. Er legte die Rüstung ab. Den Brief steckte er unter seine tunica, bevor er sich auf sein Feldbett legte. Schlafen musste er, so oder so.
Aber er konnte seine Gedanken nicht abstellen, sie kreisten weiter um die Frage, was er tun sollte. Wem er trauen konnte. Kurz: Was die Wahrheit und das Richtige war. Lange nach Beginn der dritten Nachtwache war es soweit, dass er in einen reichlich unruhigen Schlaf sank.