"Auch einen Happen?" fragte spöttisch der Jüngling, und wies einladend auf das makabere Mahl. "Oder etwas Lektüre gefällig? Du bist mal wieder in den Schlagzeilen..."
Irgendwie war es dazu gekommen, dass ich mich ebenfalls auf einer der Klinen befand und eine brandneue Ausgabe der Acta Diura in den Händen hielt.
IM BETT MIT EINEM KAISERMÖRDER - SKANDALÖSE ENTHÜLLUNG
lautete die Überschrift des Leitartikels.
"WIE ICH EINEN JAHRHUNDERTMORD AUFKLÄRTE UND DEM HAUPTSCHLDIGEN VERFIEL" - DECIMUS BRICHT SEIN SCHWEIGEN!
Fassungslos ließ ich das Blatt sinken, und tatsächlich war mein erster Gedanke, dass die Acta seit den Zeiten, als meine Tante Lucilla und später meiner Schwester am Ruder gestanden hatten, doch gewaltig an Niveau verloren hatte. Dann erst wurde ich wütend.
So ein Quatsch!" schimpfte ich, "Manius ist keineswegs der Hauptschuldige! Er ist... er war nur... dabei, als sie.... Er ist da so reingeraten... von den Ereignissen überrollt worden..."
Der impertinente Jüngling jedoch lachte mich aus.
"Hahaha," prustete er, "du Heuchler!"
Dieser Nichtnutz! "Na warte!" schnaubte ich, und packte ihn grob bei den Schultern, schüttelte ihn, dass ihm der Kranz schief in die grinsende Visage rutschte. "Was weist du denn schon vom Leben?!"
"Ich weiß, dass diese blasierte Gesellschaft mich einfach nur anwidert!" versetzte er hitzig, "Das alles ist so hohl und leer und ich fasse es nicht, dass du bei dem ganzen Zirkus ernsthaft mitmachst! Was zählt da denn?! Doch nur Macht und Geld und Prestige, in einem Regime, das auf Unterdrückung basiert, und Krieg, und banalen Spektakeln für die dummgehaltenen Massen!!"
Jetzt, jetzt erst, dämmerte mir die Erkenntnis.
"Flosculus?" fragte ich schwach. Doch er war mir schon wieder entwischt, wie ein Nebelschweif, und in meiner Hand blieb nur der Mohnblütenkranz zurück.
Aus der Ferne schon, hörte ich ihn noch über mich lachen, und ein Raunen wie ein Echo seiner...meiner?... Stimme lag in der Höhle:
"Klio lässt dir sagen, du lebst noch immer von gestundeter Zeit. Sieh genau hin."
Dann war er unwiderbringlich fort.
Rot wie Purpur und vergossenes Blut leuchteten die Blüten in meiner Hand. Ich sah genau hin. Mein Blick war eigentümlich geschärft. Durch die ungeheure Intensität der Farben sah ich hindurch, und erkannte, dass verschlungene Stränge ihr Wesen waren, und noch tiefer ging mein Blick, und ich sah, dass diese Stränge aus unzähligen kleinen Buchstaben bestanden, so zahlreich wie die Sterne am Firmament, die umeinander wuselten wie Käfer und sich zu immer neuen Worten und Sätzen formten, und zuletzt lösten sich sogar die Lettern in noch kleinere Teilchen auf, wurden zu einer Unendlichkeit kleiner aufrechtstehender Striche und ovaler Kreise, rätselhafte Kolonnen, die schwindelerregende Bahnen zogen. Und nicht nur die Mohnblüten bestanden aus diesem mysteriösen Stoff, je schärfer mein Blick wurde, um so mehr breitete sich das Phänomen aus, griff auf meine Finger über, meine Arme, zog sich durch mich hindurch, durch alles...
Etwas rief nach mir, etwas von der anderen Seite, forderte mich auf mich selbst zu erkennen... doch in heillosem Schrecken vor der Auflösung, die da von mir... von allem!... Besitz ergriffen hatte, wandte ich mich ab und ergriff die Flucht.
Da nahte unversehens Hilfe – es waren die gesottenen Skorpione, die mir beistanden. Sie formierten sich in einer prächtigen Phalanx auf dem Tisch und reckten kämpferisch die Stachelschwänze, dazu stimmten sie schmetternd ein Lied an – und zwar das Chorlied aus Medea:
"Wo heftige Liebe den Mann /
Vom Gleise reißt, dem kann sie nicht /
Würde verleihen noch Ruhm."
So deckten sie todesmutig meinen Rückzug. Sogar die schon halb aufgegessenen hatten sich eingereiht, versehrte Invaliden...
Zwei Öffnungen in der Höhlenwand taten sich vor mir auf, die eine mit einem roten Vorhang verhängt, die andere mit einem blauen... Auf diesen hastete ich zu, stürzte mich in das Lichtblau, das mich kühl und wohltuend umfing...
Ich erwachte auf meinem Widderfell, davon dass die Tempeltüren rituell geöffnet wurden, und das Sonnenlicht hell auf das Standbild des Ewigen fiel. Gähnend und mich streckend versuchte ich, der Träume der Nacht wieder habhaft zu werden, doch sie waren schlichtweg fort, wie weggeblasen.
Stutzig rieb ich mir den Nacken, doch es war wie es war. Erstaunlicherweise fühlte ich mich trotz des unbequemen Lagers herrlich ausgeschlafen und erfrischt. Nach der Morgenzeremonie hatte ich dann meinen Termin zur Traumdeutung bei meinem alten Mentor Anastasius. Ich hatte mir ja auch einen Hinweis darauf erhofft, ob es wirklich das Richtige war, um Iulia zu freien, doch leider gab es nichts zu deuten, weil nicht mal ein vager Hauch der Erinnerung haften geblieben war. Anastasius meinte ungerührt, auch dies habe gewiss seinen Sinn, und gerade dem Verborgenen sei die größte Wirkungsmacht inne.
Aha? Nun gut.
Ich verabschiedete mich und schlug, gefolgt von meinem Leibwächter, den Heimweg durch das erwachende Rom ein. Es war ein herrlicher Morgen, ganz klar, die Stadt unter einem lichtblauen Himmel wie frisch gemalt, die Farben satt und leuchtend.
Auf dem Weg kaufte ich mir (und auch meinem Sklaven) von einem Straßenhändler eine köstlich duftende Teigtasche. Sie war außen schön knusprig, innen mit gut gewürztem Fleisch (wie gut dass ich kein Serapis-Myste war) und Ziegenkäse gefüllt. Kauend, jeden Bissen genießend, spazierte ich weiter durch die Stadt Richtung Caelimontium, und tagträumte dabei ein wenig von einem umwerfenden Satyren mit eiserner Maske... Außerdem entschied mich mich spontan dafür, dieses Jahr aber nun wirklich mal wieder beim Equus october mitzufahren. Es war noch genug Zeit fürs Training und es würde gewiss ein großer Spaß werden.