Aus dem Tagebuch des Faustus Decimus Serapio
Da stand ich also. Es war ein Dilemma. Unter mir rauschte gefräßig der Tiber, um mich drängelten sich die Leute und gafften mich an als wäre ich ein Kalb mit zwei Köpfen. Hatten die denn noch nie einen Selbstmörder gesehen?! Wo es so was hier in der Stadt doch andauernd gab.
Und keine Spur von Pietät. Die schienen ja alle nur darauf zu warten, dass ich mir den Garaus machte. Manche schlossen sogar Wetten darauf ab, das war nicht zu überhören, und einer mampfte lautstark einen Apfel.
Eigentlich hatte ich mir meinen Abgang ja ganz anders vorgestellt, erhabener, irgendwie. Ein paar letzte Verse, voll Wehmut, Verzweiflung und anrührender Schönheit, hätte ich in den Wind flüstern wollen, um dann, in einem Akt, der von radikaler Freiheit und bis zur letzten Grenze getriebener Selbstbestimmung beseelt war, aus einer Welt zu scheiden, die nicht die meine war.
Jedoch - mein Kopf war wie leergefegt. Verse fielen mir keine ein. Ich hörte die Leute tuscheln, und starrte auf das Wasser, das heftig um die Brückenpfeiler strudelte. Schwindlig werden konnte es einem davon. Und ich war mir gar nicht mehr so sicher, ob das hier wirklich eine gute Idee war. Ertrinken war vielleicht doch schlimmer als abgestochen zu werden… als wahrscheinlich abgestochen zu werden, wohlgemerkt. Und Wasserleichen waren ein ausgesprochen hässlicher Anblick.
Über die Schulter sah ich zu dem Publikum meines Zwiespaltes. Ihre mir zugewandten, erwartungsvollen Gesichter, waren leere Ovale, die Augen, wie blanke Steine, gierten mich sterben zu sehen. Ich war mir in diesem Augenblick ziemlich sicher, dass ich eigentlich nicht springen wollte.
Doch unter all diesen Blicken jetzt einfach wieder vom Geländer zu steigen, schien mir auch ganz unmöglich. Es war, als hätten sie mich gebannt, diese Leute und ihre Blicke. Ich wünschte, sie würden fortgehen, und mich in Ruhe lassen. Oder vielleicht würde ja einer von ihnen vortreten, und sagen 'Komm, lass es lieber sein!', und den Bann von mir nehmen… Aber nein, natürlich geschah nichts dergleichen.
Andererseits - nur ein kleiner Schritt… nur ein kurzer Moment der Entscheidung… und alles wäre mit einem Schlag nichtig, alle Probleme weggefegt, alles Unschöne, Erbärmliche, Unerträgliche meines Daseins würde vergehen, vergehen wie ich selbst…
Ich schob meine Füße nach vorne, bis die Zehenspitzen den Rand berührten, und sah direkt in den Abgrund hinunter. Die Tränen liefen mir über die Wangen. Sie tropften hinab in die Tiefe, und vereinten sich mit den Wassern, die schäumten und wogten, gurgelten und rauschten, lockten und sangen: Komm, Faustus, komm, noch ein Schritt, nur ein Schritt, zieh es durch, sei nicht feige, alles wird vorbei sein, noch ein Schritt, nur ein Schritt…
Ich schloss die Augen (ich habe nie behauptet ein Held zu sein) und rang mich durch, hob schon den Fuß zu jenem kleinen, entscheidenden, letzten Schritt - von dem ich nie wissen werde, ob ich ihn wirklich vollführt hätte, denn im selben Augenblick hörte ich jemand rufen:
"Los spring!"
Und das irritierte mich maßlos. Was bildete der sich eigentlich ein!? Dies hier war MEIN Abgang, was musste der sich da einmischen? Empört drehte ich mich zu dem Rufer um…
Der Jüngling fuhr herum, und richtete tränenverschleierte blaue Augen auf den Rufer.
"Du kannst mich mal! derisor! erraticus! Du hast ja keine Ahnung!"
Er schniefte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, und funkelte Tiberius Scato wütend an.
"Ich habe verdammt noch mal gute Gründe dafür! Und das hier ist verdammt noch mal keine Spectaculum! Ach -"
Mit einem verächtlichen Abwinken stieg er vom Geländer wieder auf die Brücke zurück, strich sich fahrig das lange Haar zurück und fauchte:
" - spring doch selbst!"
Wütend (und zugleich sehr erleichtert) stapfte der verhinderte Selbstmörder davon, bahnte sich den Weg durch die Menge, die, da die Sache so unspektakulär ausgegangen war, schon bald wieder auseinanderlief.
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edit: letzter Satz, Link