Beiträge von Faustus Decimus Serapio

    Oben auf dem Kamm der Böschung sah ich jetzt einen meiner Verfolger erscheinen. Ganz nah. Sein Umriss zeichnete sich wie ein Scherenschnitt gegen die Sonne in seinem Rücken ab. Ich blinzelte. Er kam direkt auf mich zu.


    Das Dreckwasser neben mir rauschte. Ein welker Blumenstrauß trieb vorbei. Vielleicht wäre es klüger gewesen, beherzt in die Pestbrühe hinein zu zu springen, wie eine Ratte?
    Statt dessen fasste ich meine alte Paenula mit beiden Händen, und warf sie dem Mann im letzten Moment entgegen, schleuderte den löchrigen Stoff verzweifelt in Richtung seines Gesichtes, ein bisschen wie ein Retiarius, der mit dem Netz versucht, den Secutor zu Fall zu bringen...


    Flink duckte ich mich zur Seite, schrappte, bei dem Versuch ihm auszuweichen, mit einem Knie schmerzhaft über den steinigen und von Disteln überwucherten Boden. Verbissen rappelte ich mich auf, wollte weiterrennen, in Richtung einer schmalen Brücke, deren moosiger Stein ein kleines Stück vor uns den Kanal überspannte...

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    Am Minervatempel vorbei erreichte ich, völlig abgehetzt, die Rückseite des Nerva-Forums. Vor mir erstreckte sich nun, in Richtung der Subura, die Straße Argiletum, gesäumt von den Ständen der Buchhändler. Auch hier tummelten sich, an diesem schönen Parilia-Tag, eine Menge Leute.
    Verbissen rannte ich weiter. Der Schweiß rann mir über den Rücken, und das Trampeln meiner Verfolger dröhnte mir in den Ohren.
    Ich schlug Haken, und stürmte zwischen die kleinen Stände; stieß imVorüberhasten einen Auslagetisch voll mit Pergamentrollen um, die aufwirbelten, und zu Boden fielen, wo sie in alle Richtungen davon rollten. Das Fluchen des Händlers war spektakulär.


    Auf einmal endeten die Buden, ich fand mich am Rande der Verkaufsstände wieder, und vor mir senkte sich die Böschung zu einem schmutzigen Kanal. Ich konnte kaum noch bremsen, schlitterte unfreiwillig das abschüssige Ufer hinab, und fing mich gerade noch am Stamm eines kränklich aussehenden Feigenbaumes.
    Einen Moment lang hörte ich nur das Rauschen des Kanals, und meinen eigenen keuchenden Atem. Konnte es sein, dass ich sie abgehängt hatte? Nein, schon drangen wieder ihre Rufe an mein Ohr.


    Ich wühlte in meiner Tasche, griff hastig die beiden Beutel, streckte mich und legte sie hoch in eine Astgabel des Baumes. Dort, verborgen unter dem gilben Blätterwerk, ließ ich meine Beute zurück, und stürmte weiter, auf dem steinernen Rand des offenen Kanals. Direkt neben mir strömte das Abwasser, üble Dünste stiegen in der Hitze auf. Der Schweiß lief mir in die Augen, und die Angst schnürte mir die Kehle zu, als auf einmal wieder ganz nah Schritte hallten....

    Das furchtbare, ganz charakteristische Geräusch, das entsteht wenn die Sohlen von CUlern auf das Pflaster donnern, kam beständig näher. Verdammt, warum hatte ich nicht die Nerven behalten! Panisch stürzte ich durch den großen Torbogen ins Innere des Nerva-Forums. Auch hier waren viele Leute unterwegs, ich rannte eine Frau im Hirtenkostüm um, und da fiel es mir, sinnloserweise, ein, dass heute ja der Tag der Parilia war...


    Nur nicht umblicken! Ich hastete durch den Säulenhof, Leute starrten mich verwundert an oder wichen zur Seite. Als ich die Stufen des kleinen Minervatempels auf der anderen Seite erreichte, war ich ziemlich außer Atem, und musste mir eingestehen, dass ich zur Zeit nicht gerade gut in Form war. Mochte an den Drogen liegen...


    Das Blut pochte in meinen Schläfen, und jeder Atemzug stach mir in die Seite. Ein Bettelweib auf den Stufen blickte auf ; sie sah an mir vorbei, hinter mich, und ihr zahnloser Mund öffnete sich zu einem hämischen Kichern. Mich schauderte, aber natürlich gab ich weiter Fersengeld, drängte mich durch den schmalen Durchgang neben dem Tempel, als wäre der Cerberus hinter mir her...

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    Ruhig bleiben! Ruhig bleiben und nur nicht umdrehen! Mit klopfendem Herzen ging ich weiter, mischte mich wieder in die Menschenmenge.
    Ich gewann zunehmend Abstand, und dachte schon: 'Glück gehabt!' und 'Nein, nicht Glück, das war Können!'.
    Als ich eine Gruppe von lebhaft diskutierenden Leuten zwischen mir und dem kleinen Orientalen wusste, ließ ich den Geldbeutel in die Tasche über meiner Schulter gleiten und wagte einen vorsichtigen Blick zurück. Ich sah, wie die Frau, mit der er sich unterhalten hatte, ihn an den Schultern gepackt hielt, sie schien aufgeregt auf ihn einzureden. Ich sollte jetzt wohl besser zusehen, dass ich Land gewann! Zumal die Reden anscheinend vorbei waren, und sich der Platz jetzt leider zu leeren begann.


    Ich steuerte die Lücke zwischen Curia und Basilica Aemilia an, um den Platz zu verlassen, als ich an einer weiteren Börse vorüberkam, der ich nicht widerstehen konnte. Sie war goldbestickt, und baumelte verlockend lose in den Togafalten eines großgewachsenen Mannes, in dessen Rücken ich mich gerade befand. Wie unvorsichtig.
    Mit einer gemurmelten Entschuldigung drängte ich mich an ihm vorbei, durchtrennte mühelos die hübschen Kordeln, an denen das gute Stück hing, und hatte ihn im Handumdrehen darum erleichtert... Doch in diesem Moment endete meine kleine Glückssträhne.
    "Mein Geldbeutel! Haltet den Dieb!"
    erklang es aus Richtung meines ersten Opfers.


    Ich zuckte zusammen. Das war ein Fehler.
    Der, den ich gerade bestahl, roch den Braten, fasste suchend an seinen Gürtel... einen Herzschlag lang starrte er mich nur perplex an, dann versuchte er mich zu packen!
    Ich sprang erschrocken zurück, drängte mich hastig zwischen den Leuten durch und stürzte kopflos davon. Hände haschten nach mir, Rufe wurden laut. Ich erreichte den Rand des Platzes, setzte geschwind über eine Bank, die im Weg stand - direkt neben einem jungen Mädchen mit rötlichem Haar - und rannte an der Schmalseite der Basilica Aemilia entlang. Gehetzt bog ich um die Ecke des Gebäudes herum, meinte schon, Heerscharen von Verfolgern hinter mir zu hören. Oder war es nur das Blut, dass in meinen Ohren rauschte?


    Nicht umsehen, nur weiter! Ich stürzte auf das Forum Nervae zu, dahinter begann schon bald die Subura, da konnte man leicht Verfolger abschütteln... Mercur steh mir bei! Ich rannte was ich konnte.

    Als ich das Forum erreichte, erschien mir alles, was vorhin auf dem Pons Cestius geschehen war, und auch das Desaster im Alten Tempel, schon ganz unwirklich. Wie ein komischer Traum, der mit mir eigentlich nichts zu tun hatte. Doch, da ich nun mal davon abgesehen hatte mich umzubringen, und ich außerdem Satryus' blutigen Klauen glücklich entwischt war, musste ich mich nun irgendwie anders aus der Affäre ziehen.
    Ich brauchte Geld. VIEL Geld.
    Langsam ließ ich den Blick über die versammelte Menge vor der Rostra schweifen. Es wurde gejubelt, und patriotische Phrasen gedroschen. War heute denn irgendein Fest? Welches Datum hatten wir eigentlich? Ich konnte mich nicht entsinnen...


    Ich war jetzt viel ruhiger. Das lag an dem Hanf, den ich mir in der Zwischenzeit reingezogen hatte, als ich in meinem Unterschlupf in der Subura vorbeigeschaut hatte - heimlich und leise, damit Minax mich nicht bemerkte. Der würde mich doch nur wieder an das nächste "Symposion" verscherbeln wollen. Aber dafür hatte ich keine Zeit. Ich brauchte die Kohle bis heute Abend! Da fiel mir nur eines ein: klauen.
    Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass es dabei vor allem auf Dreistigkeit ankam, und darauf, ruhig zu bleiben. Natürlich würde ich nie die Meisterschaft eines wahren Könners erreichen, der dieses Handwerk von Kindesbeinen an erlernt hatte, doch ich war, für einen Gelegenheitsdieb, durchaus talentiert.


    In eine verwaschene grüne Tunika gekleidet, einen Beutel über der Schulter hängend, mischte ich mich in die Menge vor der Rostra. Verborgen in der Hand trug ich meine kleine Sichelklinge, geschwärzt, keinen Handbreit lang, aber unheimlich scharf, genau richtig um Taschen aufzuschlitzen und Beutelschnüre zu kappen. Eine leichte Paenula, auch schon ziemlich zerschlissen, hing über meinem Arm, um meine Bewegungen zu kaschieren.
    Es waren gute Fischgründe, hier auf dem Forum. Nur die Reichen konnten es sich leisten, hier ihre Tage zu verbringen, und wenn es auf der Rostra hoch her ging, und sie abgelenkt waren, konnte es wirklich einträglich werden. Riskant natürlich auch. Vorne sah ich gleich schon zwei CUler rumstehen.
    Ich hielt mich also ein Stück weiter hinten, tat so, als hätten mich auch die Reden gefesselt, und suchte mir ein erstes Opfer aus: Ein kleiner, orientalisch aussehender Mann, dessen gepflegte Kleidung auf Wohlstand schließen ließ, zudem schien er gerade in ein angeregtes Gespräch mit einer jungen Frau vertieft. Außerdem sah er, wie soll ich sagen, eher harmlos aus. Ich atmete tief ein. Und los!




    Ein auffallend hübscher Jüngling - der allerdings übernächtigt und ziemlich mitgenommen aussah - trieb im Gewühl der Menschenmenge an die Seite des Theodorus von Alexandria. Kurz richtete er die lichtblauen, irgendwie verschleierten Augen auf Sergia Plotina und lächelte ihr etwas scheu zu, dann schien er jemanden oder etwas in der Menge auszumachen, und bewegte sich zielstrebig weiter.
    Dabei streifte er, wohl aus Unachtsamkeit oder wegen des Gedränges, den griechischen Gelehrten - und unter den Falten der Paenula über seinem Arm zerschnitt Faustus' kleines Messer im Vorübergehen glatt, beinahe sanft, die Bänder, die dessen Geldbeutel am Gürtel hielten. Ein kleines Zupfen, und in einer fließenden Bewegung verschwand der Beutel unter dem leichten Manteltuch. Es hatte nur einen Wimpernschlag gedauert. Ruhigen Schrittes ging Faustus weiter, wollte abermals in der Menge verschwinden....


    edit: 2. Link eingefügt

    Aus dem Tagebuch des Faustus Decimus Serapio
    Da stand ich also. Es war ein Dilemma. Unter mir rauschte gefräßig der Tiber, um mich drängelten sich die Leute und gafften mich an als wäre ich ein Kalb mit zwei Köpfen. Hatten die denn noch nie einen Selbstmörder gesehen?! Wo es so was hier in der Stadt doch andauernd gab.
    Und keine Spur von Pietät. Die schienen ja alle nur darauf zu warten, dass ich mir den Garaus machte. Manche schlossen sogar Wetten darauf ab, das war nicht zu überhören, und einer mampfte lautstark einen Apfel.


    Eigentlich hatte ich mir meinen Abgang ja ganz anders vorgestellt, erhabener, irgendwie. Ein paar letzte Verse, voll Wehmut, Verzweiflung und anrührender Schönheit, hätte ich in den Wind flüstern wollen, um dann, in einem Akt, der von radikaler Freiheit und bis zur letzten Grenze getriebener Selbstbestimmung beseelt war, aus einer Welt zu scheiden, die nicht die meine war.
    Jedoch - mein Kopf war wie leergefegt. Verse fielen mir keine ein. Ich hörte die Leute tuscheln, und starrte auf das Wasser, das heftig um die Brückenpfeiler strudelte. Schwindlig werden konnte es einem davon. Und ich war mir gar nicht mehr so sicher, ob das hier wirklich eine gute Idee war. Ertrinken war vielleicht doch schlimmer als abgestochen zu werden… als wahrscheinlich abgestochen zu werden, wohlgemerkt. Und Wasserleichen waren ein ausgesprochen hässlicher Anblick.


    Über die Schulter sah ich zu dem Publikum meines Zwiespaltes. Ihre mir zugewandten, erwartungsvollen Gesichter, waren leere Ovale, die Augen, wie blanke Steine, gierten mich sterben zu sehen. Ich war mir in diesem Augenblick ziemlich sicher, dass ich eigentlich nicht springen wollte.
    Doch unter all diesen Blicken jetzt einfach wieder vom Geländer zu steigen, schien mir auch ganz unmöglich. Es war, als hätten sie mich gebannt, diese Leute und ihre Blicke. Ich wünschte, sie würden fortgehen, und mich in Ruhe lassen. Oder vielleicht würde ja einer von ihnen vortreten, und sagen 'Komm, lass es lieber sein!', und den Bann von mir nehmen… Aber nein, natürlich geschah nichts dergleichen.


    Andererseits - nur ein kleiner Schritt… nur ein kurzer Moment der Entscheidung… und alles wäre mit einem Schlag nichtig, alle Probleme weggefegt, alles Unschöne, Erbärmliche, Unerträgliche meines Daseins würde vergehen, vergehen wie ich selbst…
    Ich schob meine Füße nach vorne, bis die Zehenspitzen den Rand berührten, und sah direkt in den Abgrund hinunter. Die Tränen liefen mir über die Wangen. Sie tropften hinab in die Tiefe, und vereinten sich mit den Wassern, die schäumten und wogten, gurgelten und rauschten, lockten und sangen: Komm, Faustus, komm, noch ein Schritt, nur ein Schritt, zieh es durch, sei nicht feige, alles wird vorbei sein, noch ein Schritt, nur ein Schritt…


    Ich schloss die Augen (ich habe nie behauptet ein Held zu sein) und rang mich durch, hob schon den Fuß zu jenem kleinen, entscheidenden, letzten Schritt - von dem ich nie wissen werde, ob ich ihn wirklich vollführt hätte, denn im selben Augenblick hörte ich jemand rufen:
    "Los spring!"
    Und das irritierte mich maßlos. Was bildete der sich eigentlich ein!? Dies hier war MEIN Abgang, was musste der sich da einmischen? Empört drehte ich mich zu dem Rufer um…




    Der Jüngling fuhr herum, und richtete tränenverschleierte blaue Augen auf den Rufer.
    "Du kannst mich mal! derisor! erraticus! Du hast ja keine Ahnung!"
    Er schniefte, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, und funkelte Tiberius Scato wütend an.
    "Ich habe verdammt noch mal gute Gründe dafür! Und das hier ist verdammt noch mal keine Spectaculum! Ach -"
    Mit einem verächtlichen Abwinken stieg er vom Geländer wieder auf die Brücke zurück, strich sich fahrig das lange Haar zurück und fauchte:
    " - spring doch selbst!"
    Wütend (und zugleich sehr erleichtert) stapfte der verhinderte Selbstmörder davon, bahnte sich den Weg durch die Menge, die, da die Sache so unspektakulär ausgegangen war, schon bald wieder auseinanderlief.
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    edit: letzter Satz, Link

    Ein paar Frauen, die mit großen Wäschekörben am Brunnen einfielen, und laut schwatzend begannen, dort ihre Wäsche zu waschen, vertrieben mich schließlich von diesem Ort. Ich schleppte mich verzagt und vor Angst ganz konfus die Straße entlang, sah, wie aus weiter Ferne, wie um mich herum die Leute geschäftig ihrem Tagewerk nachgingen, und sich an dem schönen, warmen Tag erfreuten…
    Stumpfsinnige Fröhlichkeit der Sorglosen! Heute Abend würde ich in meinem Blute liegen, grausam abgestochen mein Leben aushauchen, aber der Welt was das einfach nur egal! Was hätte ich dafür gegeben, jetzt mit dem Schuster da am Straßenrand zu tauschen, der so heiter Nägel in eine Sohle hineinhämmerte, oder mit einem der schmutzigen Kinder, die am Tiberufer lachend Fangen spielten!


    Ja, ich hatte den Rand des Flusses erreicht, und vor mir erstreckten sich die wuchtigen Bögen der Pons Cestius, die dieses Ufer mit der Tiberinsel verband. Vor dem Äskulaptempel drüben konnte ich die Feuer brennen sehen. Das Wasser des großen schmutzigen Stromes sah heute ganz blau aus, und funkelte im Sonnenschein.
    Auf einmal - als würde mich eine Stimme rufen - wusste ich was zu tun war. Es war doch eigentlich sowieso schon lange fällig. Die Welt war nur ein Haufen Dreck, und ich wollte mit ihr nichts mehr zu tun haben.
    Sie widerte mich an. Ich widerte mich an.
    Und vermissen würde mich sowieso keiner, nicht meine so genannten Freunde in der Subura, und schon gar nicht meine Familie! In diesem elenden Haufen von Helden, einer strahlender als der andere, würde mir gewiss niemand eine Träne nachweinen!
    Entschlossen setzte ich den Fuß auf die Brücke

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    Ein strahlendblauer Himmel wölbte sich über der Stadt. Einige kleine Wölkchen, wie spielerisch mit dem Pinsel hingetupft, segelten, von einer frischen Brise getrieben, rasch durch das Meer von Bläue. Gleißend stand die Sonne über dem allem, kündigte mit der Wärme ihrer Strahlen schon die Gluthitze des Sommers an.


    Es war am frühen Nachmittag, als sich auf dem Pons Cestius ein Menschenauflauf bildete. Ein ganzer Haufen von Leuten drängte sich in der Mitte der Brücke zusammen, sie reckten die Hälse, und sie blockierten den Weg, so daß kaum noch ein Durchkommen war.
    "Was in Plutos Namen ist denn da vorne los?!"
    schimpfte ein älterer Landmann, der mit einem Handkarren, vollbeladen mit gackerndem Hühnervolk auf dem Weg zum Viehmarkt war, und in dem Gedränge steckengeblieben war.
    "Gibts da was umsonst oder was?"


    "Nein"
    belehrte ihn sein fuchsgesichtiger Nebenmann, der in dem Gedränge gerade Ausschau nach leicht zu stehlenden Geldbörsen hielt,
    "Da will sich einer ersäufen. Nen junger Kerl, steht da aufm Geländer und man weiß nicht, tut er’s jetzt, oder tut er’s nicht. Da drüben kannste sogar drauf wetten."


    "Diese Jugend, nur Flausen im Kopf!"
    wetterte der Bauer drauflos.
    "Wollen nicht arbeiten und machen dann Sperenzchen. Und kaum geht mal was nicht wie sie wollen, heißt es gleich Ach und Weh und Heulen und Zähneknirschen. Und denken natürlich nicht dran, dass anständige Leute VIELLEICHT auch mal hier durch müssen! - Heda du Bengel, Finger weg von meinen Hühnern. - Also zu meiner Zeit…"


    Der Dieb nickte unbestimmt, und tauchte ins Gewühl, wo eine Börse winkte. Durch eine Lücke zwischen den Köpfen konnte der Bauer jetzt auch einen Blick auf den Selbstmörder werfen - einen hübschen Jüngling, der, von der Menge erwartungsvoll begafft, leicht schwankend auf dem steinernen Geländer stand, das lange Haar im Winde wehend.
    Verächtlich verzog der Landmann das Gesicht. Genau wie er es sich gedacht hatte, ganz bestimmt. Und dass die Leute alle nicht besseres zu tun hatten! Er fasste die Griffe seines Handkarren fester.


    "Heda, aus dem Weg, ich muss zum Viehmarkt und zwar heute noch!"
    Rabiat bahnte er sich seinen Weg, ohne dieses Beispiel für den Verfall der Jugend, und der Sitten im allgemeinen, noch eines Blickes zu würdigen.

    Der kalte Stahl presste sich fest an meine empfindliche Halsbeuge. Ich hatte das Gefühl jeden Moment umzukippen, und biss mir ganz fest auf die Lippen, um nicht zu schreien… Denn dass er mit der letzten Vermutung recht hatte, erschien mir sehr wahrscheinlich. Ich erinnerte mich jetzt auch vage, wie ich, im Rausch überaus großzügig, rund um mich herum so ein bröckeliges schwarzes Zeug an andere fröhlich Feiernde verteilt hatte… Nein!
    "Fehlt dem Menschen nur der Verstand, wird er zum Tier.", hat mir mein greiser, staubiger Lehrer früher immer eingetrichtert. Und ich war in dem Moment wirklich nicht mehr als ein kleines, verschrecktes Tier, das alles dafür gegeben hätte, sich tief in einer dunklen Erdspalte unter einem Stein zu verkriechen…
    "Ich… ich…"
    "Ja, Kleiner?"
    "Ich war auf so nem Fest…"
    Er spuckte verächtlich aus.
    "Das 'Symposion' bei Fontanus, dem alten Lurch. Sag mir was, was ich noch nicht weiß!"
    Verdammt, diese Leute waren besser informiert als ich selbst!
    "…und da hat es mir einer geklaut!"
    "So so."
    "Ja, so ein Syrer, ein Schwertschlucker…"
    "Hat er das Kästchen verschluckt?"
    "Nein! Aber ich hab mit ihm rumgemacht und dann bin ich eingeschlafen und als ich aufgewacht bin war er weg und meine Tasche mit dem Lotus war auch weg, und…"
    "Flunkerst du uns auch nicht an, hmm...? Ich hab so das Gefühl, kleiner blauäugiger Faustus, du willst uns da gerade was vormachen, kann das sein, hmm...?"


    Ich spürte, wie die Spitze der Klinge noch fester gegen meine Haut drückte, dränge sie nur ein Fingerbreit tiefer, würde ich gleich mein Leben da auf dem dreckigen Fußboden verströmen… Die Tränen quollen mir aus den Augen und strömten mir übers Gesicht. Solche Angst hatte ich in meinem Leben noch nie ausgestanden.
    "Nein!", log ich schluchzend.
    "Aber ich beschaffe euch das Zeug wieder! Ich weiß zu welcher Truppe der Mann gehört, ich werd ihn finden und es ihm wieder abnehmen und es Callistus bringen, ich schwörs!"
    Sie wechselten einen Blick.
    "Gut. Wir werden sehen. Du hast Zeit bis heute Abend. Sonnenuntergang. Ansonsten…"
    - Die flache Seite der Klinge glitt eisig über meinen Hals, langsam, von einem Ohr zum anderen.
    "Also halt dich ran."
    Keine-Panik zwinkerte mir zu, rammte mir dann plötzlich den Knauf der Sica in den Bauch. Gleichzeitig ließ der andere mich los - die beiden waren echt aufeinander eingespielt - und ich landete, mich krümmend und würgend auf dem Boden.


    Als ich wieder etwas um mich herum wahrnahm, waren die beiden verschwunden. Pannychis hockte im Bett, die Decke bis zum Hals hochgezogen, und sah mich mitleidig an, gerade so als läge ich schon in meinem eigenen Blut. Der Dicke richtete sich gerade auf, er sah ziemlich entgeistert aus, blickte von der zerschlagenen Türe zu meiner zerschlagenen Wenigkeit und wieder zurück.
    "RAUS!"
    brüllte er dann.
    "Sofort raus hier, dreckiger ABSCHAUM!"


    Ich rappelte mich auf und machte dass ich davon kam. Mit weichen Knien taumelte ich hinaus, stieg Stufe für Stufe eine düstere Treppe hinunter, und stand dann plötzlich in der prallen Sonne, inmitten der belebten Gasse. Völlig benommen wankte ich da zwischen den Leuten entlang, die mich nur komisch ansahen. Einen rannte ich tränenblind über den Haufen, erntete Verwünschungen dafür, und schließlich ließ ich mich erschöpft auf den Rand eines kleinen Brunnens sinken.
    Ich kühlte mein Gesicht, und dann wurde mir erst so richtig klar: die werden mich umbringen. Ich habs vermasselt, und die werden mir dafür die Kehle aufschlitzen! Denn eine Lieferung Lotus konnte ich, verschuldet und abgewrackt wie ich war, unmöglich bis zum Abend auftreiben!

    "Welche… Drogen…?"
    Ich hatte gerade wirklich keine Ahnung wovon der Mann sprach. Woraufhin eines von Keine-Paniks Augenlidern unruhig zu zucken begann, und Narbengesicht mir übel eine scheuerte.
    "Der Lotus! Auf den Callistus immer noch wartet! Sehr ungehalten, inzwischen, wie du dir sicher denken kannst…"
    Ich sah Sternchen, und ächzte:
    "Ich glaub ihr verwechselt mich…"
    Aber das ließen sie nicht gelten.
    "Hältst du uns für bescheuert?! Willst du vielleicht andeuten mein Freund hier und ich, wir hätten nix im Kopf, willst du das…?",
    zischte Keine-Panik, und der andere schüttelte mich so, dass mir gleich wieder schlecht wurde. Ich beteuerte also, dass das keineswegs meine Absicht gewesen war, und kramte in meinem Kopf verzweifelt nach dem gestrigen Tag.


    Und so langsam dämmerte mir da was. 'Lotus', das war nämlich der Kosename einer Edeldroge, von der man in letzter Zeit immer mal wieder Gerüchte hörte. Es hieß sie sei eine geheime Mischung aus Mandragora, Opium, und irgendwas Indischem, und würde reinhauen wie Ambrosia, oder… Also einfach das absolute Nonplusultra. Und mir war auch so, als hätte ich gestern mal wieder für Orestes eine Lieferung übernehmen sollen… Er bezahlte nun mal nicht schlecht, und die Arbeit für ihn war längst nicht so zermürbend, wie das, mit dem ich mich sonst gerade so über Wasser hielt - oder war es jedenfalls bis heute nicht gewesen.


    "Wo ist das Zeug, kleiner Faustus, hmm….? Orestes hat uns gesungen, dass er’s dir in die Hand gedrückt hat, in nem netten kleinen Kästchen verpackt… wo ist denn dieses Kästchen geblieben, na?"
    Die Sica schmiegte sich eisig an meine Kehle. (Also eigentlich benutzte der Mann ja nicht meinen richtigen Namen, sondern meinen scheußlichen Spitznahmen - aber weil ich den wirklich hasse, bringe ich es nicht über mich, ihn hier niederzuschreiben. Deshalb nehme ich mir die harmlose Freiheit, und ersetze ihn durch 'Faustus'.)
    Sein Augenlid zuckte immer heftiger. Mit hohntriefender Stimme erkundigte er sich:
    "Hast du es unterwegs verloren…? Ist es dir in den Fluß gefallen, vielleicht? Oder hast du dir, da in deinem süßen kleinen Köpfchen drinnen, überlegt, dass ein anderer möglicherweise besser bezahlt? Wolltest dir wohl deine kleine Stupsnase vergolden, kann das sein…? Oder haste dir das Zeug selbst reingezogen, was?"

    Leise tappte ich durch die schäbige Kammer und suchte auf dem Fußboden nach meinen Sachen, fand unter einem zerrupften Festkranz dann schließlich meine Tunika. Ich streifte das weinfleckige Ding über, gürtete es und trat zu einem wackeligen Waschtisch, mit einem angeschlagenen Wasserkrug darauf. Da wusch ich mir erstmal den Mund aus und trank ein paar Schlucke.
    In einem halbblinden kleinen Spiegel besah ich mir mein Gesicht, fand es bleich, nicht gerade vorteilhaft verquollen und bedeckt mit verwischten Überresten der Kosmetika, die in der letzten Nacht noch so dezent meine Augen betont, die Wangen mit einem Hauch frischer Röte versehen und die Lippen noch voller gemacht hatte. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, wusch mir die Farben ab, und band mein Haar mit einem Lederband zurück.


    Nicht mehr ganz so benebelt wie vorher, hielt ich dann in dem ganzen Chaos Ausschau nach, erstens, meinen Soleae und, zweitens, einem kleinen Entgelt für die Dienste, die der Dicke letzte Nacht zweifellos in Anspruch genommen hatte.
    Letzteres fand ich schnell in Form eines gut gefüllten Geldbeutels, er hing an einem überladen verzierten Gürtel, der achtlos einfach auf dem Boden lag. Ich nahm den Beutel an mich - gewiss konnte ich ihn besser brauchen als der Besitzer - und dankte Fortuna für mein Glück. Was extrem voreilig war, wie ich schon ein paar Herzschläge später herausfinden sollte.


    Denn kaum hatte ich meine Sandalen ausfindig gemacht, sie unter dem Bett hervorgezogen, und mich angeschickt, mit den Schuhen in der Hand die Absteige auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, als plötzlich ein lautes Gepolter zu hören war. Jemand trampelte lautstark eine Treppe hinauf, dann wurde auf einmal heftig gegen die Türe gehämmert.
    CUler!, durchfuhr es mich eisig, zugleich sah ich erschrocken zum Bett, wo der Dicke prompt die Augen aufschlug. Er starrte mich an, schien einen Moment ebenso orientierungslos wie ich, doch dann erkannte er wohl den Beutel in meiner Hand, und das ließ ihn schnell die Sprache wiederfinden.
    "Dieb!",
    kreischte er,
    "Räuber! Lutum! Abschaum!"


    Der Schrei dröhnte schmerzhaft zwischen meinen Schläfen. Ich machte einen verzweifelten Satz zum Fenster - Im selben Augenblick barst die Türe in tausend Stücke, eingetreten von einem gewaltigen Stiefel, und zwei hässliche Schläger stürmten in den Raum.
    Der eine, ein Hühne mit einer üblen Narbenfresse, packte mich blitzschnell, der andere, eher dürr, fuchtelte mit einer Sica herum und brüllte:
    "Wer hier ne Waffe anrührt, den mach ich sofort kalt! Keine Panik, wir wollen nur den Jungen!"


    Keine Panik. Der hatte gut reden.
    CUler waren das übrigens nicht. Sie sahen eher wie gehobene Halsabschneider aus.
    Natürlich geriet ich doch in Panik, ich zappelte, trat, schlug und biss um mich, und versuchte verzweifelt mich loszureissen. Doch der Narbige umkrallte mich wie eine Schraubzwinge, und Keine-Panik hielt mir seine Sica unter die Nase.
    "Still jetzt."
    Da hielt ich still wie ein kleines verschrecktes Kaninchen.
    (Im übrigen hätte jeder andere das genauso gemacht. Die beiden waren echt der Albtraum. Auch der Dicke und Pannychis gaben keinen Mucks von sich.)


    Der Sicarius kam ganz nahe an mich heran - ich konnte riechen, dass er Zwiebeln zum Frühstück gehabt hatte - und säuselte:
    "Und nun, mein Junge, wollen wir uns ganz vernünftig unterhalten. Zivilisiert und gediegen… Ich hab nur ne ganz klitzekleine Frage an dich :
    WO. SIND. DIE DROGEN ???!!!!! "

    Wankend erreichte ich das Fenster, stieß es auf, und atmete einen Schwall stickigen Tiberdunstes ein. Ja, die gute römische Luft!
    Die Sonne stand hoch über der Stadt. Ich sah aus dem obersten Stockwerk eines aus groben Brettern zusammengezimmerten Gebäudes hinunter in eine von Abfällen übersäte Gasse, in der ein reges Treiben herrschte.
    Ansonsten war die Aussicht gar nicht schlecht. Ganz in der Nähe gleißte, im Sonnenlicht trügerisch golden, der Tiber, und am anderen Ufer zeichneten sich majestätisch die Hügel und die markanten Bauwerke der Urbs aeterna gegen den wolkenloses Himmel ab. Allerdings hatte ich gerade keinen Sinn dafür. Wenigstens wusste ich jetzt, wo ungefähr ich mich befand - in Trans Tiberim, und es musste nahe der Via portuensis sein.


    Ich stützte mich auf das Fensterbrett und versuchte, trotz der Kopfschmerzen und des noch immer würgenden Ekels, einen klaren Gedanken zu fassen. Was war nur los gewesen, letzte Nacht? Ich war auf einer grandiosen Orgie gewesen, das wusste ich noch, und hatte mich da ganz unglaublich gefühlt, als könnte ich fliegen so gut, einfach unbeschreiblich.
    Doch bloß ein paar verschwommene Erinnerungsfetzen konnte ich noch erhaschen - die mauretanische Akrobatin, gelenkig wie eine Schlange… wilde Flöten… gebratene Schwäne… ein Paar wunderschöne Mandelaugen… und dann dieser umwerfenden Grieche, ein Auriga, glaube ich, und genau der Typ dem ich noch nie widerstehen konnte.


    Kurz, der Abend war - soweit ich mich erinnern konnte - ein exstatischer Traum. Der beste Rausch seit langem. Aber was hatte ich genommen? Ich wusste es nicht mehr. Ebensowenig, wie ich an diesen haarigen Kerl und Pannychis geraten war.
    Und irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, das da noch viel mehr gewesen war, etwas wichtiges… es hatte was mit einem Kästchen zu tun, irgendwie, und mit dem Namen Callistus. Etwas ungutes. Aber ich kam gerade nicht drauf.


    Egal. Erst mal nichts wie weg hier. Ich musste jetzt dringend in meinen Unterschlupf, ein bisschen Hanf wartete da noch auf mich, etwas Opium auch, und beides hatte ich nach diesem Schock jetzt dringend nötig.

    Aus dem Tagebuch des Faustus Decimus Serapio:


    Ich bin völlig am Ende. Wie konnte ich mich nur auf so was Blödes einlassen, und es dann auch noch komplett vermasseln?! Die machen mich kalt, die kennen da nichts, ganz bestimmt machen die mich kalt!
    Alles begann heute Morgen, als ich mal wieder völlig verkatert in einem fremden Bett aufwachte…


    Der Lärm der Straße hatte mich gnadenlos geweckt - Rumpeln, Menschen die durcheinander riefen, schrilles Gänsegeschnatter, und irgendwo jaulte auch ein Hund. Unerträglich tönte der ganze Krach in meinen Ohren, ein Höllenlärm, der mir schier den Schädel sprengte.
    Mit einem Ächzen schlug ich die Augen auf und bereute es gleich bitterlich. Viel zu grelles Licht schien mir ins Gesicht. Bestimmt war es schon Mittag. Mein Kopf hämmerte fürchterlich, und dem Geschmack nach zu urteilen, war in der Nacht in meinem Mund irgendwas pelziges gestorben.


    Nicht, dass ich solche elenden Morgen nicht zu genüge kennen würde. Aber dieser hier war wirklich ausgesprochen scheußlich. Und gleich darauf wurde er noch schlimmer.
    Als ich nämlich, wie gesagt, die Augen öffnete, und mich glasig umsah, schälte sich dicht vor meinem Gesicht ein dicker haariger Arm hervor. Der lag quer über meiner Brust. Und das stete Schnarchen an meiner Seite zeigte mir auch gleich zu wem er gehörte. Ich wandte den Kopf und erblickte einen fetten Kerl neben mir, behaart wie ein Affe. Er schlummerte, mit einem feisten Grinsen im Gesicht, und ließ sich von dem ganzen Radau offenbar nicht stören. Ein schöner Anblick war das nicht. Ich hatte auch keine Ahnung wer das war. Tja, aber auch das passierte mir nicht zum ersten Mal.


    Ganz langsam hob ich den fleischigen Arm ein bisschen an, und kroch, vorsichtig, um den Koloss nicht aufzuwecken, darunter hervor. Dabei bemerkte ich, dass da auf meiner anderen Seite noch jemand lag, eine Brünette die sich tief in die Kissen gewühlt hatte, mit hübschen Kurven und einem ganz verkniffenen Gesicht. Die kannte ich aber. Flüchtig jedenfalls. Pannychis, eine Hure die sich meist beim Frachthafen herumtrieb. Auch sie schlief tief und fest.
    Ich rutschte zum Bettrand, richtete mich auf, und konnte nur einen kurzen Blick auf das schäbige Zimmer werfen - Risse durchzogen den Putz der Wände, alles war dreckig, und auf dem Boden lagen verstreut eine Menge Kleidungsstücke, darunter wohl auch die meinen - dann wurde mir schwindlig und kotzübel dazu.
    Die Fragen 'wo bin ich hier eigentlich?' und 'wie komm ich überhaupt hierher?', traten in den Hintergrund, ich schnappte mir einen Nachttopf und übergab mich in denselben. Einfach hundeelend, dieser Morgen. Mittag, besser gesagt.