Seit Massalia hatte ich kein Wort mehr, was nicht unbedingt notwendig gewesen wäre, mit Sermo gewechselt. Auch versuchte ich ihm, wo immer es ging, aus dem Weg zu gehen. Dadurch hatte ich wenigstens auch nachts meine Ruhe. Dass es das nicht allein war, was Sermo dazu bewegte, mich einfach in Frieden zu lassen, konnte ich nicht ahnen. Hätte ich gewusst, dass er Schiss vor meiner Rache hatte, hätte ich mich wahrscheinlich anders verhalten.
Die Reise nach Germanien war eh schon schlimm genug. Die Eiseskälte und dann noch ein Schneesturm hatten schon einige dahingerafft. Ich hatte immer darauf geachtet, dass ich warm angezogen war, damit ich mich nicht erkältete und so elend verreckte, wie einer der Kutscher. Außerdem wusste ich noch genau, was ich Aretas an unserem letzten Abend versprochen hatte. Dass ich nach dem Abend in Massalia am liebsten tot gewesen wäre, hatte ich schon wieder verdrängt. Das Kind! Das war es, was mich anspornte, nicht aufzugeben.
Irgendwann hatten wir eine Gegend erreicht, die mir seltsam vertraut schien. Die hügelige Landschaft und die dichten Wälder, die Felder, die zwar jetzt mit Schnee bedeckt waren, die ich aber auch grüne saftige Flächen kannte.
In Cabillonum, wo ich schon früher mal mit meiner Mutter gewesen war, verzweigten sich die Straßen. Eine führte nach Augusta Raurica im Osten, die, die gen Westen führte am Ufer der Ligara entlang nach Portus Namnetus und die anderen beiden führten nach Lutetia oder nach Diviodunum, je nachdem ob man die linke oder die rechte Straße gen Norden nahm.
Als die Wagen die Straße nach Lutetia einschlugen, hielt ich meine Klappe, obwohl ich wusste, dass es die falsche Route war. Vielleicht lag es ja wirklich dran, dass die Männer letzten Abend gesoffen hatten, wie die Löcher und jetzt eben noch nicht so richtig nüchtern waren. Auf diese Weise würde ich wenigstens einen Blick auf meine Heimatstadt werfen können. Und überhaupt war es mir so was von egal, ob wir in Lutetia landeten oder in Diviodunum oder auch in Argentorate. Als ich dann endlich Augugstodunum von weitem sah, war ich ganz von der Rolle, auch wenn man´s mir nicht unbedingt ansah. Wenn ich jetzt vom Wagen sprang, und mich dann in der Stadt in einem von meinen alten Verstecken verkrümelte, dann… Ach, ich war nicht vom Wagen gesprungen. Ich hatte zu viel Schiss! Stattdessen wischte ich mir ´ne Träne von der Backe. Mannomann, was war nur mit mir los? Schade, irgendwann hatten´s auch die Fuhrmänner gemerkt, dass wir die falsche Straße genommen hatten und drehten wieder um.
Verdammt nochmal! Warum bin ich nicht gesprungen, ich blöde Kuh! Das war doch die Chance! Sozusagen ein Wink mit dem Zaunpfahl oder meinetwegen auch einer der Götter. Und ich bin einfach sitzen geblieben! Ich konnte es immer noch nicht glauben und machte mir jetzt richtige Vorwürfe, als ich mich auf die scheißschwere Kiste von Sermo gesetzt hatte, um mich auszuruhen. Komisch, irgendwie wurde das Ding immer schwerer!
Ich war so vertieft, dass ich gar nicht mitgekriegt hatte, dass nur noch Sermo im Zimmer war. Der andere Sklave, der mir geholfen hatte, das Ding zu schleppen, war längst weg. Ich schreckte richtig auf, als ich Sermo meinen Namen rufen hörte. In Nullkommanix war ich aufgestanden, sonst behauptete er wieder, ich sei faul und würde mich die ganze Zeit nur überall herumdrücken.
Überhaupt hatte Sermo mal wieder ein besonderes Händchen bei der Auswahl der Unterkunft bewiesen. Mal abgesehen, dass es nicht so zugig war, wie in Massalia, war das Zimmer ziemlich schäbig. Und natürlich gab´s auch wieder nur ein Bett. Gleich beim reinkommen, hatte ich mir schon meine Ecke für heute Nacht ausgesucht. Hinter Sermos Bett, da wo er mich nicht gleich sehen konnte.
Jetzt aber war ich in seinen Fokus geraten. Er laberte irgendwas. Hä, ein Gedicht? Ich? Was war denn mit dem los? Hatte Sermo schon wieder gesoffen, oder was? Ich guckte ihn an, als sei er nicht von dieser Welt. Allerdings kannte ich tatsächlich so was, wie ein Gedicht. Das hatte ich damals auswendig gelernt, als ich vor Jahren in der Villa Aurelia lesen und schreiben geübt hatte und ich mir Bücher aus der Bibliothek ausleihen durfte. Ich konnte es immer noch.
"Ein Gedicht?" Meine Stimme klam ziemlich verunsichert. Der wollte mich doch sicher nur veralbern, um sich danach auf mich zu stürzen. "Ich weiß nicht, ob das ein Gedicht ist, aber ich find es schön:
Lass uns leben, mein Mädchen, und uns lieben,
Und der mürrischen Alten üble Reden
Auch nicht höher als einen Pfennig achten.
Sieh, die Sonne, sie geht und kehret wieder:
Wir nur, geht uns das kurze Licht des Lebens
Unter, schlafen dort eine lange Nacht durch.
Gib mir tausend und hunderttausend Küsse,
Noch ein Tausend und noch ein Hunderttausend,
Wieder tausend und aber hunderttausend!
Sind viel tausend geküsst, dann mischen wir sie
Durcheinander, dass keins die Zahl mehr wisse
Und kein Neider ein böses Stück uns spiele,
Wenn er weiß, wie der Küsse gar so viel sind."
Von wem das Gedicht war, hatte ich längst vergessen. Was damit eigentlich gemeint war, darüber hatte ich mir nie einen Kopf gemacht. Das war mir auch unwichtig. Wichtig waren nur diese zusammengewürfelten Worte, die mich von Anfang an irgendwie berührt hatten.