ZitatOriginal von Decimus Duccius Verus
[...] Er strich sich mit einer Hand über seinen Bart und schaute rüber zu seinem Vetter. "Beachtlich, dass das Volk Mogontiacums kein Mitleid mit den Gefangenen zeigt." Vor vielen Jahren wäre das sicher noch anders gewesen, aber die Menschen hatten es gut in Mogontiacum, waren glücklich und zufrieden. Sie hatten sich angepasst, sie waren romanisiert.
Die Bestrafung viel hart für die Seherin aus, sodass Verus kurz seine Augenbrauen hob. Ob der hohen Anzahl der Peitschenhiebe war er durchaus überrascht. Der Centurio gab wirklich alles, um für Rom dieses Exempel zu statuieren. Die Worte die er wählte waren hingegen das Standart-Programm, also nichts Besonderes.
Was hingegen besonders war, war die Standhaftigkeit dieser Seherin. Sie nahm die Strafe hin und wurde nicht ohnmächtig, wie es so viele bei den extremen Schmerzen durch die schnellenden Peitschenhiebe wurden. Gerade wollte Verus seinen Vetter anstoßen, da merkte er, wie sich einige in der Menge hinknieten. Es war fast schon eine Gruppendynamik, die von einem Punkt in der Menge ausging. Der Flamen ließ seine Blicke streifen, wo war seine Tochter? Nach einigen Momenten hatte ihr Vater sie gefunden, sie kniete ebenfalls. Am liebsten wäre Verus die Kinnlade runtergefallen, aber er hielt sich zurück und nahm es hin, immerhin stand er hier zusammen mit anderen Würdenträgern. Das konnte doch wohl nicht ihr Ernst sein? Nachdem sie seinen Klienten Helvetius Curio geheiratet hatte, war es relativ ruhig um ihre Beziehung zu den germanischen Göttern geworden, sie hatte sich nach und nach ihrer Rolle als römische Ehefrau und Hausherrin angepasst. Doch jetzt zeigte sie wieder alte Tendenzen. Als Tochter des Flamen Divi Augusti und Frau eines angehenden Pontifex konnte sie sich doch nicht wirklich für diese germanische Hexe hinknien! Verus behielt die Fassung, das würde aber ein Nachspiel haben...
Witjon hatte die Rückkehr der Strafexpedition mit stoischer Ruhe beobachtet. Natürlich war auch er aufgeregt gewesen angesichts der großen Mannstärke, mit der die Einheiten aus Mogontiacum ausgerückt waren. Er hatte zunächst die Befürchtung gehabt, dass ein größer angelegter Überfall der Chatten stattgefunden hatte, weshalb er täglich auf Berichte wartete, nach denen auch kaiserliche Landgüter gebrandschatzt worden seien. Als Procurator Rationis Privatae wäre er dann auch beruflich persönlich involviert gewesen. Solche Berichte hatten ihn jedoch nicht erreicht und letztlich stellte sich heraus, dass es sich bei dem Überfall auf einen Beobachtungsposten am Limes wohl eher um ein bedeutungsloses Scharmützel gehandelt hatte.
Dennoch hatte sich am Tag der Rückkehr der Soldaten eine beachtliche Menschenmenge auf dem Forum versammelt. Die Stimmung war seltsam aufgeheizt. Die Leute pöbelten herum, schimpften zunächst auf die Gefangenen. Dann jedoch wurde die Seherin zur Bestrafung geführt und die Stimmung kippte. Stirnrunzelnd verfolgte Witjon die Auspeitschung der Frau. Ein mulmiges Gefühl erfüllte dabei seine Magengegend. War es richtig, eine Seherin derart zu bestrafen? Wenn es denn stimmte, dass sie eine Seherin war. Der Centurio jedenfalls kannte keine Gnade.
"Allerdings", entgegnete Witjon auf den Kommentar seinen Vetters. "Sie scheinen zu vergessen, dass die Stämme jenseits des Limes nicht selten auch aus der Not heraus Raubzüge auf die linke Rhenusseite führen. Der vergangene Winter war hart..."
Und dann stockte Witjon kurzzeitig der Atem. Einige Leute knieten plötzlich nieder, unter ihnen auch Runa. Ungläubig beobachtete er die Szenerie. Was sollte das nun werden? "Was tut Runa da unten?", fragte Witjon seinen Vetter ungläubig. "Hat sie immer noch nichts gelernt?" Pfeifend sauste die Peitsche durch die Luft, dann endlich wurde es still, als der letzte Schlag ausgeführt worden war. Die Bestrafung hatte ein Ende gefunden, das Martyrium der Seherin allerdings nicht. Der Centurio brandmarkte die Frau nun auch noch. Witjon verzog angewidert das Gesicht. Derart öffentlich zur Schau gestellte Menschenfeindlichkeit widerte ihn an. Er akzeptierte zwar harte Bestrafungen von Straftätern zur Abschreckung anderer. Aber dies hier war eine Strafe ohne Richterspruch, ohne erkennbare rechtliche Grundlage.
Erleichtert atmete er auf, als die Seherin - nunmehr Sklavin des Centurios - weggeschleift wurde und der Legatus Iuridicus das Schicksal der anderen Gefangenen verkündete. "Bedauernswerte Kerle", raunte Witjon seinem Vetter zu. Er wollte nicht mit den Männern tauschen, die nunmehr ihres sicheren Todes harrten.