Axilla hatte doch keine Ahnung, wer wann was gesagt hatte. Sie hatte ein paar Dinge, die sie sich gut merken konnte, einige Dinge, die sie sich so halb merken konnte und einen riesigen Batzen an Wissen, den sie fröhlich durcheinanderwürfelte oder nie wirklich gewusst hatte. Aber auch mit gefährlichem Halbwissen ließ sich noch aus vollster Überzeugung argumentieren, wenn man jung war und nicht darüber nachdachte. Und natürlich war Axilla naiv, sie war 17 und ihre Erziehung war nur sporadisch erfolgt. Der Vater war als Soldat die meiste Zeit außer Haus, und wenn er daheim war, setzte er seiner Tochter Flausen in den Kopf, wie Axillas Mutter es so schön nannte. Diese war schwer krank gewesen und hatte dem energiegeladenen Kind nichts entgegenzusetzen gehabt. Der einzige, der etwas zu ihrer Erziehung kontinuierlich beigetragen hatte, war der griechische Sklave Iason gewesen, der versucht hatte, ihr etwas Bildung beizubringen. Natürlich war so ihr Kopf voll von Ideen und Idealen, die sie aus vollstem Herzen verteidigte, und sie verstand im Gegenzug nicht, wie Vala nur so daherreden konnte. Sie wollte es vor allem nicht glauben, da sie ihn nicht so sehen konnte, wie er sich selbst gerade darstellte. Sie konnte von ihm nicht einen Moment lang denken als einen Mann, für den Ehre nur eine hohle Phrase war. Natürlich beeindruckte sie der starke Wille, der aus ihm sprach, und wie er die Tat über gedankliche Konstrukte stellte. Aber das machte es noch viel schwieriger für Axilla, denn wie konnte sie sich zu ihm so hingezogen fühlen, wenn er keinerlei Ehre besaß oder auch nur besitzen wollte? Er stellte sie damit vor ein ernsthaftes Problem, zu dem sie keine Lösung hatte.
Allerdings schaffte er es auch ziemlich schnell, sie dieses Problem vergessen zu lassen, als er sie anging. Wer sie glaubte, das sie sei? Oh, das war ganz sicher die falsche Frage, die er ihr nicht stellen sollte. Und als er sie dann auch noch halb anschrie, was für ein Idiot Arminius gewesen sei – wo Axilla ihm eigentlich noch nichtmal widersprochen hätte – da wurde sie wirklich sauer und starrte ihn an wie eine Katze wohl eine entkommene Maus anstarren würde.
“Ich bin Axilla aus dem Geschlecht der Iunier, die den Etruskerkönig Tarquinius Superbus aus Rom vertrieben, die Republik gegründet und den ersten Konsul, den Rom je hatte, gestellt haben“, knurrte sie ihm als erste Erwiderung entgegen. Auf ihre Abstammung war Axilla stolz, und da ließ sie auch absolut nichts darauf kommen. Es war ein ehrenvoller Name, wenngleich ihm die frühere Macht wohl fehlte. Dennoch sollte Vala ja nicht versuchen, dagegen zu argumentieren. “Und vielleicht war Arminius ein Idiot. Ja, bestimmt war er das sogar, wenn er dachte, aus Germania Rom machen zu können, in nichtmal zwanzig Jahren.“ Axilla hatte keine Ahnung, wie lange es tatsächlich gedauert hatte, bis Arminius gestorben war, mit Daten hatte sie es noch weniger wie mit Namen und Zitaten. “Aber das heißt nicht, dass er es nicht aus ehrenhaften Motiven getan hat. Meinst du denn wirklich, ein Mann wäre so verrückt, zu glauben, Rom an jedem beliebigen Ort der Welt entstehen lassen zu können?“ Axilla schnaubte einmal, allein die Vorstellung war lächerlich. Vielleicht war das römische Arroganz, die mehr als einmal von verschiedensten Philosophen und Denkern angeprangert worden war, und eigentlich war Axilla ein sehr toleranter Mensch und bei weitem nicht so engstirnig, wie sie sich gerade gab, aber Vala ärgerte sie, und was ihr an Argumenten fehlte, musste sie durch Heftigkeit wettmachen. Sie hätte vielleicht selber besser das Buch lesen sollen, das sie ihm geschenkt hatte, aber im Moment war sie einfach nur ziemlich böse auf ihn, da war ihr Ruhe und Gelassenheit, ganz zu schweigen von Logik herzlich egal.
“Und du willst doch nicht sagen, dass ein Soldat, der mit Mars' Segen in die Schlacht zieht, nichts weiter ist als ein Mörder, weil er einen Feind erschlägt?“
Axilla war sich ihrer Argumentation selber nicht ganz sicher, denn mit den Sühneopfern hatte Vala ja recht, ebenso wie es Opfer zu Beginn eines Krieges gab. Und natürlich zählte die Tat letztendlich als solches. Im römischen Recht gab es schließlich auch nur wenig Würdigung für die Gründe einer Tat, wenn es sie denn überhaupt gab. Nur in sehr wenigen Fällen brachten solche Gründe eine Milderung des Urteils. Daher blieb ihr nicht viel, als eine mehr rhetorische Frage zu stellen, denn sie hatte kein wirkliches Argument. Allerdings wollte sie ihn keinesfalls gewinnen lassen. Unter gar keinen Umständen!
“Und natürlich schützt einen das Recht nur so lange, wie man sich selbst zu schützen und zu wehren weiß. Und wenn jemand mit dem Schwert daherkommt, ist es leichtfertig, zu glauben, dass man ihn damit aufhält, wenn man ihm sagt, dass er das nicht darf. Wenn er der Stärkere ist, hat er das Recht des Stärkeren. Ein Grund, warum Rom über die Welt herrscht, ist, weil Rom die stärkste Macht der Welt ist. Ich bin nicht dämlich, also halte mich nicht dafür!
Aber ein Mann kann nicht erwarten, dass die Menschen es lieben, ihm zu folgen, wenn er gegen die Ehre handelt. Und Recht hin oder her, Macht hin oder her, Alexander hätte das Angebot aus Gründen der Ehre nie annehmen können, weil ihn das sein Gesicht vor seinen Männern gekostet hätte. Die sind ihm gefolgt, weil sie an ihn geglaubt haben, weil sie zu ihm aufgeschaut haben, weil er an ihrer Seite gekämpft hat und nicht irgendwo aus den hinteren Reihen nur Befehle erteilt hat. Hätten sie wohl noch zu ihm aufgesehen, wenn er sich auf solche politischen Ränke eingelassen hätte und mit so einer ehrlosen Person einen Handel eingegangen wäre?
Dass er versäumt hat, gleich einen würdigen Nachfolger auszuwählen, kann man ihm vorhalten. Hätte er länger gelebt, wäre sein Sohn vielleicht so ein Nachfolger geworden, anstatt ermordet zu werden von Kassandros. Dass seine Freunde wie Hyänen übereinander hergefallen sind und sich zerstritten haben, weil jeder das größte Stück der Beute abhaben wollte, und sich damit allesamt ehrlos verhalten haben, das aber nicht.“
Axilla wusste, dass ihre Argumentation sehr dünn war, aber das hieß nicht, dass sie sie nicht beherzt vorbrachte. Sie wollte nicht, dass Vala recht hatte, also argumentierte sie eben, so gut sie konnte. Vielleicht hätte sie Nikolaos besser zuhören sollen, wenn dieser seine Kurse vor den griechischen Jugendlichen gehalten hatte zum Thema Rhetorik, aber das hatte sie nunmal nicht. Folglich blieb ihr nichts weiter übrig, als eben so heftig wie möglich zu reagieren und zu hoffen, dass Vala es gut sein lassen würde. Verdammtnocheins, ihr hatte noch nie ein Mann ernsthaft widersprochen! Nach den ersten heftigen Widerworten war noch jeder eingelenkt und hatte klein beigegeben, sich in Ausflüchte begeben oder das Thema gewechselt! Vala war der erste Mann überhaupt, der – ganz Kerl – seinen Kopf gegen sie durchsetzen wollte. Und das war Axilla nicht gewohnt – auch wenn sie zugeben musste, dass es nicht nur ihre Wut auf ihn anstachelte.
“In was für einer traurigen Welt lebst du, wenn du wirklich glaubst, dass es keine Ehre gibt? Wenn das so ist, sind doch alle Menschen nur Feinde, auf nichts ist verlass und auf niemanden. Nichtmal auf die eigene Familie. So kann doch niemand leben? Das kannst du nicht meinen?
Und natürlich wird die Geschichte von Siegern geschrieben! Da wird dann auch gerne die Ehre so hingedreht, wie es dem Geschichtsschreiber passt, und Taten, die eigentlich Unrecht sind, werden als glanzvoll dargestellt. Aber das Ehrgefühl sagt uns doch, ob es richtig oder falsch ist.
Natürlich bestimmt der Sieger, was später als ehrenvoll gehalten wird. Vielleicht würde die Geschichte anders über Iunius Brutus denken, wenn er bei Philippi... ich....“
Ertappt machte Axilla schnell den Mund zu. In ihrer heftigen Tirade hatte sie nicht gemerkt, in welch gefährliches Gewässer sie sich begeben hatte. Die Tat ihres Verwandten, den Mord an Caesar, als etwas anderes zu sehen als eine schändliche Tat, konnte böswillig auch als Angriff auf das Kaisertum und der Versuch, die Republik wiederzuerwecken, gelten. Das war eines der wenigen Dinge, die ihr Lehrer ihr doch beigebracht hatte, über diese Dinge sollte sie nicht debattieren, egal, wie sie darüber dachte und welche Meinung sie dazu hatte. Aber jetzt war die Hälfte des Satzes ihr einfach herausgerutscht, und außer zu schweigen und beiseite zu schauen, blieb Axilla nicht viel übrig, und sie hoffte, dass Vala es einfach überhören oder niederdiskutieren würde wie gerade eben.