Beiträge von Iunia Axilla

    Nein, er hatte es gehört. Und schlimmer noch, er ging darauf ein. Axilla schaute nicht auf, während Ánthimos sprach, sondern ließ den Blick auf den Boden vor ihr gerichtet. Er glaubte, ihr ginge es noch nicht schlecht genug, und daher fehlte ihr der Mut? Wenn er wüsste, was alles passiert war, was sie alles durchgestanden hatte, würde er dann immer noch denken, sie hätte noch nicht genug gelitten? Axilla konnte sich nicht vorstellen, was noch schlimmer sein könnte. Sie hatte niemanden in ihrem ganzen Leben, der ihr Halt gab, und alle, die ihr diesen hätten geben können, wandten sich aus dem einen oder anderen Grund von ihr ab oder distanzierten sich. Auch in die Götter hatte Axilla kein Vertrauen mehr, seitdem ihre Mutter gestorben war. Konnte ein Mensch überhaupt noch einsamer sein als das?
    Seine anderen Worte klangen ja ganz aufmunternd. Sie konnte sich nur nicht vorstellen, dass das klappen würde. Alles, was sie wollte, war Geborgenheit. Was sollte sie denn tun, um diese zu bekommen? Alles, was sie getan hatte, war falsch gewesen. Und noch weiter in diese Richtung zu drängen wäre noch viel falscher. Was sollte sie da denn dann tun, um die Leere aus ihrem Inneren zu vertreiben?
    Axilla litt schon so lange leise und still vor sich hin, dass sie es anders fast gar nicht mehr kannte. 2 Jahre waren für ein sechzehnjähriges Mädchen eine sehr lange Zeit. Anfangs war es auch gar nicht so schlimm gewesen, aber je länger die Zeit wurde, umso schlimmer wurde die Leere, und sie glaubte nicht, dass sie da jemals wieder herauskommen würde.
    Gerne hätte sie es Ánthimos erzählt, sie würde sich gerne jemandem einmal so richtig anvertrauen. Sich alles von der Seele reden. Aber es ging nicht. Auch Ánthimos konnte ihr diesen Halt nicht geben, den sie brauchte, um überhaupt auch nur darüber zu reden. Wenn sie die Gefühle gänzlich zuließ, würde sie daran zerbrechen, davon war Axilla überzeugt. Allein konnte sie das nicht, und es gab niemanden, der sie dann zusammen hielt.
    Eine einzelne Träne ließ sich nicht unterdrücken, und Axilla wandte sich kurz ab, damit Ánthimos es nicht sah. Sie wollte nicht weinen. Wenn sie weinte, hatte sie sich nicht unter Kontrolle, dann sagte sie Dinge, die ihr später weh taten. Und eine Römerin weinte nicht vor anderen. Zornig wischte sie unauffällig die Träne weg und atmete tief durch. Nein, sie wollte und konnte nicht darüber reden.


    Sie tat das, was sie immer tat. Sie wechselte einfach das Thema.
    Wie lange dauert deine Ephebia denn noch? Damit du und Penelope heiraten könnt, meine ich.
    Allerdings drehte sich Axilla noch nicht gleich zu Ánthimos um. Ihre Stimme hatte sie zwar unter Kontrolle, so dass diese fröhlich klang, aber dem Blick ihrer Augen traute sie jetzt nicht.

    Ah, er kannte ihn auch? Und offenbar wusste er schon mehr über seine Lehre als Axilla. Das, was sie bisher gehört hatte, hatte sich anders angehört. Da hatte Marcus mehr von Harmonie gesprochen und dass alles harmonisch zueinander sein sollte. Nungut, auch da hatte er seltsame Sacheng esagt, wie dass es das beste wäre, sich nichts zu wünschen und nichts zu wollen. Aber das auch Gefühle verboten sein sollten?
    Ja, Axilla wusste, dass er Frau und Kind verloren hatte. Das hatte er bei dem Gespräch mit Urgulania im Esszimmer erwähnt. Auch, wie er hinterher mit der Stadtbevölkerung und den feinden umgegangen war. Axilla war zwar als Kind ihrer Zeit nicht zimperlich Gewalt gegenüber, aber das ein oder andere hatte sie schon als stark übertrieben empfunden. Aber deshalb keine Gefühle mehr?
    Was Ánthimos noch sagte, berührte etwas in ihr. Sie hatte sich auch umbringen wollen wegen ihrer Gefühle, hatte es aber nicht gekonnt. Hieß das, dass sie ihren Vater nicht genug geliebt hatte? Sie wurde bei dem Gedanken schon ganz klein.
    [size=7] „ Und wenn einem dazu der Mut fehlt?“[/size]
    Wieder war ihr Mund schneller als ihr Verstand, aber sie hatte es sehr leise gesprochen. Vielleicht hatte Anthi es ja gar nicht gehört. Daher redete sie lieber schnell weiter.
    Ich glaube nicht, dass ich sowas lernen kann. Vielleicht sollte ich wirklich lieber ins Museion. Ich meine, ich kenne zwar schon viele Philosophen, aber man lernt ja nie aus, nicht? Urgulania lernt ja jetzt auch wieder, vielleicht kann ich sie da auch mal fragen, was sie meint.

    Das sah aber nicht so aus, als würde er sich jetzt sonderlich freuen, ihr zu helfen. Aber Axilla war das jetzt egal, sie wollte ja wirklich seinen Rat. Das war ja nicht nur ein Themenwechsel, um das Thema zu wechseln, sie konnte einen guten Rat wirklich gebrauchen.
    Also, ich habe vor einiger Zeit einen Philosophen getroffen. Also, ich glaube, er ist Philosoph. Er ist zwar Grieche, aber eben kein griechischer Philosoph, sondern von einem Land, das Han heißt. Und vor einiger Zeit hab ich diesen Menschen dann gefragt, ob er mir die Philosophie beibringen würde. Damals hat er aber gemeint, das sei keine so gute Idee.
    Soweit zum Start. Axilla hoffte, sie war da jetzt nicht zu schnell und Ánthimos kam noch mit. Sie erinnerte sich an ihr letztes, ausführlicheres Gespräch mit Urgulania, die von ihrer Art wohl ziemlich überfallen war.
    Jetzt hab ich allerdings einen Brief gekriegt von ihm, dass er eine Schule aufgemacht hat. Die ist allerdings in Rhakotis. Und jetzt hat er mich gefragt, ob ich nicht doch seine Schülerin sein will. Aber ich weiß nicht. Weißt du, ich will jetzt wirklich gerne alles richtig machen, und ich weiß nicht, ob das richtig ist.
    Nun, das war bestimmt ein Problem, das Anthi nicht jeden Tag hörte. Aber jetzt war auf alle Fälle belegt, dass Axilla ihn keineswegs für dumm hielt.

    hmmmhmmm. Ja, vielleicht….
    Axilla verstand den Wink sehr wohl, sie war ja nicht dumm. Und vielleicht war es wirklich ungerecht, da mit zweierlei Maß zu messen. Sie selbst hatte auch schon sehr viel Unbedachtes von sich gegeben. Nungut, dieses Ausmaß hatte sie dann doch nie erreicht, aber die ein oder andere unbeabsichtigte Spitze hatte sie auch schon geliefert. Vielleicht sollte sie ihm da wirklich eher verzeihen. Im allgemeinen war sie ja auch nicht besonders nachtragend. In diesem Fall war es vielleicht nur so schlimm, weil sie sich wirklich wie eine lupa auch fühlte und sich das selbst nicht verzeihen konnte. Im Moment mochte Axilla sich selbst nicht wirklich gut leiden.


    Aber sie wollte das Thema eigentlich nicht vertiefen. Also beschloss sie einen erneuten Themenwechsel. Für Ánthimos mochte ihre Wechselhaftigkeit vielleicht überraschend sein, aber Axilla hatte schon lange herausgefunden, dass die meisten Menschen sich da nicht viel dabei dachten und auf alte, unangenehme Themen äußerst selten wieder zu sprechen kamen.
    Ánthimos, kann ich dir eine Frage stellen? Oder, nicht wirklich eine Frage, ich hätte zu einer Sache gerne deine Meinung. Weißt du, meiner eigenen Meinung trau ich im Moment nicht so, da würde ich gerne noch wissen, was andere denken, bevor ich eine Entscheidung treffe?

    Negative Gedanken? Nein. Nun, deinem kleinen Bruder bin ich ehrlich gesagt immer noch böse, aber… ich hab dir ja versprochen, dass ich euch nie in Gefahr bringen würde. Und ich halte meine Versprechen.
    Axilla hegte keinen Groll gegen Timos, weil er sie verlassen hatte. Hätte er es nicht getan, hätte sie es getan. Es war nichts, was jemals etwas hätte werden können, noch nicht einmal Gefühle waren da. Dass sie sich einsam fühlte hatte nichts mit Anthis Bruder zu tun. Von daher nahm sie das doch eher leicht. Verglichen mit ihren sonstigen Problemen war das wirklich das kleinste.

    Ein bisschen hatte Axilla ja schon ein schlechtes Gewissen, Ánthimos in dem Glauben zu lassen, sie hätte Liebeskummer. Aber sie wollte sich ihm nicht wirklich anvertrauen. Erstens kannte sie ihn kaum und zweitens war er Timos Bruder. Sie hatte selber ja keine Geschwister, aber sie konnte sich zumindest vorstellen, dass man unter Geschwistern nicht so viele Geheimnisse hatte. Und sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Gefühle weitergetratscht wurden.
    Ach, das ist nicht schlimm. Ich freue mich für dich, ehrlich. Das mit Timos wäre glaube ich nie gut gegangen. Vielleicht haben wir beide da zu wenig drüber nachgedacht. Ich denk manchmal einfach nicht nach, bevor ich etwas sage oder mache, aber ich versuch, mich da zu bessern.
    Sie konnte ihm kaum auf die Nase binden, dass sie Timos nicht wirklich geliebt hatte, sondern nur nicht einsam sein wollte. Das würde wohl kein ehrbarer Mann – oder auch eine ehrbare Frau – verstehen, das war einfach zu weit weg von Sitte und Moral.

    Liebe auf den ersten Blick, dass es sowas wirklich gab? Axilla sah die Veränderung, die in Ánthimos Gesicht vor sich ging. Sie kannte diesen Ausdruck, das war wirkliche, wahre Liebe. Nicht die heiße Leidenschaft, nicht das frisch verliebte Glänzen der Augen, sondern dieses tiefere Gefühl, das einen wärmte, wenn man sich einsam fühlte. Das, was sie so sehr vermisste. Was sie immer in den Augen ihres Vaters gesehen hatte, wenn er ihre Mutter angeschaut hatte. Das Gefühl, dessen sie sich auch vor langer Zeit sicher sein konnte. So lange war es her…
    Axilla nahm einen tiefen Luftzug, um sich zu fangen. Da Ánthimos es vielleicht falsch auffassen würde, lächelte sie ihm verlegen zu. Vielleicht ging es ja als wehmütiges Seufzen so durch.
    Das klingt beinahe wie aus einem Liebesgedicht.
    Axilla könnte wohl aus dem Stegreif ein halbes Dutzend Gedichte über Liebe auf den ersten Blick rezitieren. Sie selber aber glaubte nicht, dass ihr das auch mal passieren würde. Und erst recht nicht, dass das ein positives Ende haben würde.

    Oh, wirklich? Ich wusste gar nicht, dass sie Musik spielt. Naja, ich hab sie ja auch nur ganz kurz kennen gelernt. Ich hab für sowas ja kein Talent, ich hab da zu grobe Hände, glaub ich.
    Bestimmt sogar hatte Axilla dafür nicht das nötige Feingefühl in ihren Händen. Zuhause hatten sie auch ein paar Instrumente gehabt, aber sie konnte nicht mehr als darauf herumzuklampfen. Sie hatte sich auch nie so richtig dafür interessiert, das zu können, lieber wollte sie gezeigt bekommen, wie man ein Schwert richtig hielt. Und ihr Vater hatte sich sehr schnell erweichen lassen.
    Ich hör nur gerne zu. Mein Lehrer früher, also Iason, der konnte Lyra spielen. Ein paar schöne Gedichte hat er dann immer vorgesungen, aber ich hab immer besser nicht mitgesungen.
    Axilla liebte Gedichte. Vor allem romantische, bei denen man träumen konnte. Die hatte sie schon immer geliebt. Ihre Gedanken wanderten zurück in eine glücklichere Zeit, und sie musste sich kurz räuspern, um sich zu fangen.
    Kennst du… Penelope schon lange? Ihr zwei wart so vertraut, ich dachte, ihr wärt schon lange verheiratet.
    Es brauchte bei Axilla immer einen Moment, bis ihr Namen wieder einfielen. Die meisten vergaß sie ganz, da sie selbst aber die Odyssee sehr gerne gelesen hatte, konnte sie sich diesen Namen merken.

    Natürlich schaute Axilla weg. Mit beinahe kindlichem Eifer kniff sie sogar die Augen fest zu, um nicht in Versuchung zu kommen. Bestimmt sah das unendlich albern aus, aber heute war sie zu planendem Denken wohl einfach nicht imstande. Wenn sie etwas weiter gedacht hätte, hätte sie sonst sicher die Gelegenheit ergriffen, auch ihre Kleidung zu holen und sich schnell etwas mehr anzuziehen.
    Erst, als Ánthimos sich meldete, dass er fertig sei, öffnete Axilla wieder ihre Augen und sah vorsichtig zu ihm herüber. Er setzte sich zu ihr, und Axilla überlegte schon, worüber sie reden könnten. Sie wollte wirklich gerne ein wenig Gesellschaft haben und sich mit jemandem unterhalten. Zumindest, solange das Thema nicht in eine unangenehme Richtung ging. Axilla war da nicht bereit, sich irgendjemandem zu öffnen. Sie hatte einfach niemandem, dem sie da weit genug vertraute, dass er sie halten konnte. Und sie brauchte da zuerst einmal Halt und Sicherheit, bevor sie sich selbst so verletzbar machte.
    Beschämt? Ach du meinst, wegen… Nein, ich…“ Die Verhaspelgefahr stieg wieder rapide, und prompt wechselte Axilla das Thema.
    Wie geht es denn deinen Brüdern?
    Nungut, auf Ilias war sie immer noch böse wegen seiner Bemerkung, auch trotz seiner Entschuldigung, daher interessierte er sie nicht wirklich. Und auf Timos zu sprechen zu kommen war taktisch wohl auch alles andere als klug. Aber auf die Schnelle fiel ihr grade kein besseres Thema ein.

    Einen Moment stand Axilla regungslos da und schaute den Griechen überrascht an. Er wollte sich wirklich noch mit ihr unterhalten? Obwohl sie so ein vorlautes Mundwerk hatte? Obwohl sie ihn grade wahrscheinlich beleidigt hatte? Es brauchte also ein paar Sekunden, bis sie diese Information verdaut hatte, widersprach es doch ihrer eigentlichen Erwartung.
    Ja, gern. Also, wenn du gerne magst.
    Sie fing schon wieder an. Er hätte es wohl nicht vorgeschlagen, wenn er nicht wollte. Bevor sie sich noch weiter verhaspelte, wandte sie sich lieber in Richtung der Stufen und setzte sich schnell hin. Dabei merkte sie, dass ihre Tunika zum Sitzen vielleicht doch etwas kurz war. Zwar verdeckte sie alles wichtige auch so noch, aber nun war es doch recht knapp an den Beinen. Schüchtern ließ Axilla so ihre Beine eng geschlossen und sah ein wenig verlegen zur Seite.

    Sie hatte irgendetwas falsches gesagt. Axilla ließ ihre Worte noch einmal in Gedanken Revue passieren und überlegte, was sie gesagt hatte. Natürlich! Die Anspielung auf die Legionen des Kaisers war vielleicht nicht so gut gewesen. Sie hatte für einen Moment ganz vergessen, dass Ánthimos Grieche war. Und die Alexandriner waren zwar soweit sie beurteilen konnte treue Bürger des römischen Imperiums, aber halt eben doch in erster Linie Alexandriner und erst danach Bürger von Rom. Oder eben Peregrini und keine Bürger, so genau verstand Axilla die genaue Stellung der Polis nun auch wieder nicht. Sie wusste nur, dass es hier eine Sonderstellung gab für Leute, die die Ephebia hatten, aber das war auch schon ihre geballte Kenntnis.
    Sie schrumpfte ein wenig zusammen, und diese Leere drängte sich wieder in ihr Bewusstsein. Vermutlich hatte sie mal wieder alles falsch gemacht und Ánthimos war nun auch böse auf sie. Vielleicht sollte sie einfach nach Hause gehen, das wäre vielleicht wirklich das beste. Sie glaubte nicht, dass Laufen ihr jetzt noch viel helfen würde. Sie war einfach so. Sie war das Chaos, das war sie schon immer gewesen. Genau wie die Eichhörnchen auf den Bäumen dachte sie über ihre Handlungen einfach nicht nach und stürzte sich dabei in Gefahr und alle um sie herum ins Unglück.
    Verlegen kratze sich Axilla am Arm. Sie wollte sich gerne entschuldigen, wusste aber nicht wie. Sie wusste nicht einmal, ob das richtig wäre, oder ob das Anthi noch viel wütender machen würde. Bestimmt würde sie sich wieder verhaspeln und etwas noch viel dümmeres sagen, wenn sie sich eigentlich nur entschuldigen wollte. Sie machte sowas dauernd. „Tutmirleid“, brachte sie schließlich schnell und leise heraus. Mit diesen drei Worten, auch wenn sie so schnell wie eines gesprochen waren, konnte sie wohl nicht viel falsch machen.
    Du willst dann sicher noch viel trainieren?
    Axilla gab Ánthimos jetzt einfach die Chance, sich aus der Affäre zu ziehen, ohne dass einer von beiden noch groß etwas sagen musste. Sie hatte schon genug angerichtet, da wollte sie ihm wenigstens einen anständigen Fluchtweg geben. Wenigstens eine Sache, die sich richtig machen konnte.

    Oh, das war wohl doch etwas schwieriger, als sie angenommen hatte. Wenn da solche Fragen gestellt wurden, war das ja fast schon vergleichbar mit dem Cursus, den Axilla erst gemacht hatte. Über die Parther wusste sie jetzt auch nicht so viel. Das Römische Reich führte in den letzten hundert Jahren immer wieder Krieg gegen das Reich im Osten, es waren Feinde. Da sie nicht römisch waren waren sie natürlich Barbaren, aber Axilla hatte sich trotzdem ein wenig für sie interessiert. Nicht nur, weil sie etwas über den Feind wissen wollte, sondern auch, weil die Städte dort auch schon bei Alexander dem großen eine Macht dargestellt hatten. Soviel sie wusste, gab es dort noch immer viele kleine Könige für jede Provinz, die von einem Großkönig wiederum regiert wurden. Da hatte sich seit dreihundert Jahren nicht viel verändert. Aber vielleicht irrte sie sich ja auch?
    Was wollte er denn über die Parther wissen? Den genauen Aufbau des Feudalsystems, oder über die Vasallenstaaten, oder was?
    Das war schon eine sehr knifflige Frage, und Axilla wüsste da die Antwort wohl auch nicht. Dann fiel ihr aber auf, dass das nicht unbedingt das war, was sie aus Höflichkeit hätte sagen sollen, und sie versuchte, sich zu retten.
    Ich meine, das ist doch ohnehin uninteressant. Alexandria wird ja ganz anders verwaltet, und es untersteht Rom. Sind ja nicht umsonst zwei Legionen vor der Stadt. Da muss man sowas nicht unbedingt wissen, finde ich.
    Und ich bin sicher, beim Sport wird der Gymnasiarchos dann ganz kleinlaut sein. Der wird wohl nicht oft einem Pentathleten die Prüfung abnehmen. Vielleicht kannst du ihn ja überreden, dass er mit dir ringt? Dann kannst du dich zumindest ein bisschen revanchieren. Wobei ich nicht glaube, dass er da mutig genug ist.

    Da sich Axilla für die genaue Politik der Stadt nur am Rande interessierte, musste sie kurz überlegen, wer denn der Gymnasiarchos war und was der so machte. Soweit sie wusste, hatte der doch Urgulania zu ihrem Posten geholfen? Nunja, offenbar war dieser Mann nicht ganz so uneigennützig – was Axilla bei einem Politiker auch nicht unbedingt angenommen hätte. Aber dass er sich an die – Moment, Ánthimos und Penelope waren noch nicht verheiratet und schliefen im selben Bett? Nein, sie durfte da sich kein Urteil darüber erlauben. Jeder andere vielleicht, aber sie ganz sicher nicht.
    Ja, da kann ich verstehen, warum du wütend bist. Wobei ich den Gymnasiarchos dann eher dumm finde, du könntest den doch unangespitzt in den Boden sicher rammen.
    Sich mit einem stärkeren anzulegen war ja irgendwo mutig, aber zwischen Mut und Idiotie befand sich so eine sehr schmale, kaum wahrnehmbare Grenze, die Axilla selber auch gerne überschritt. Und sich mit jemandem wie Anthi wirklich anzulegen, bis dieser wirklich sauer war, zählte sie zumindest eher unter Dummheit denn unter Mut.
    Ich dachte, die Ephebia wär nur ein kleiner Test, ob man schreiben kann und halt Sport?“ Axillas Wissen über griechische Kultur war in etwa so tief wie ihr Wissen über Politik.

    Ach, er dachte, ihr ging es deswegen so schlecht! So langsam fing Axilla an, zu verstehen. Dann war es ja nicht so schlimm. Nun, das mit Timos tat ihr ja schon leid, so war es ja nicht, aber sie hatte seinetwegen nun keinen Liebeskummer. Sie hatte ihn nicht geliebt, sie hatte bei ihm nur ein stückweit Geborgenheit gefunden, als sie diese gebraucht hatte. Und seine grauen Augen hatten sie an eine schönere Zeit erinnert, in der sie sich um so was keine Sorgen machen musste. Aber wenn Anthi glaubte, dass das hier alles wegen Liebeskummer sei, dann war das gut. Dann kamen schon keine weiteren Fragen über ihren Vater.
    Wer sollte sowas denn machen? Du bist doch scriba beim Agoranomos, da muss man schon was im Kopf haben. Der stellt sicher keinen Blödmann ein."
    Und schon wieder. Axilla sollte sich die Zunge am besten gleich abbeißen und nicht nur immer draufbeißen, das wäre vermutlich auf Dauer effektiver. Sie lächelte entschuldigend zu Ánthimos hoch – immerhin ging sie ihm mal grade so eben bis zur Brust.

    Ähm, nein, ich wollte damit natürlich nicht sagen, dass du… oder Milon von Kroton…“ Wer immer das auch sein mochte. Axilla hatte keine Ahnung. „… dumme Arbeiter wärt. Ich wollte nur… also
    Als sie den Blick hob und seinen suchte, damit er die Aufrichtigkeit in ihren Augen sehen konnte, sah sie sein Lächeln und war erstmal beruhigt. Er war ihr offenbar nicht böse, oder zumindest nicht allzu sehr. Aber seine letzten Worte ließen sie doch etwas erschrecken. Sah man es ihr so an, dass sie sich nicht gut fühlte? Sie hielt sich eigentlich für eine bessere Schauspielerin. Die meisten schauten nicht so leicht durch ihre Fröhlichkeit hindurch, sondern hielten sie eher für ein hohles Ding stattdessen.
    Wie kommst du darauf, dass es mir nicht gut geht? Mir geht es doch gut.
    Axilla fühlte sich ganz schrecklich ertappt. Sie wollte nicht, dass jemand einfach so hinter ihre Fassade blickte. Ihre Traurigkeit zu sehen bedeutete, dass man danach fragen würde. Fragen führten zu Erinnerungen, und Erinnerungen führten zu Schmerz. Axilla wollte aber nicht wieder den Schmerz fühlen, und auch nicht die Leere in sich. Daher nahm sie seine sonstigen Worte gar nicht so wirklich wahr. Natürlich würde es ihr mit mehr Sport besser gehen, das war ihr auch klar. Aber so einfach war das nicht.

    Uff, das war aber eine ganze Menge, die er da machen wollte. Axilla konnte sich gar nicht vorstellen, dass ein Ringer auch besonders schnell im Laufen oder besonders gut im Weitsprung war, aber andererseits, wenn sie Ánthimos so ansah… Nein, sie hatte nicht wirklich Zweifel, dass er wohl gut im Sport war und auch das alles schaffte. Bei seinen Worten nach dem Trainingspartner reckte Axilla aber dann stolz den Kopf hoch.
    Traust mir wohl nicht zu, das ich das auch könnte?
    Direkt hinterher biss sie sich auf die vorschnelle Zunge und schaute betreten zu Boden. Sie musste wirklich verdammt viel an sich arbeiten, wenn sie ihren guten Vorsätzen gerecht werden wollte.
    Entschuldige, ist mir so rausgerutscht.“ Abgesehen davon brauchte Ánthimos nicht wissen, was sie in ihrem Leben schon alles angestellt hatte. Auch wenn ihr Vater nie etwas gesagt hatte und ihrer Mutter auch nicht einmal im Ansatz einen Vorwurf gemacht hatte, Axilla wusste, wie gern er einen Jungen gehabt hätte. Sie fühlte sich deshalb nicht weniger geliebt, im Gegenteil. Aber vielleicht war das auch mit ein Grund, warum Axilla nun mal so war, wie sie war. Denn ihr Vater hatte ihr sehr viele der Dinge gezeigt, die eigentlich für den Bruder, den sie nie hatte, bestimmt waren. Sie konnte auf Bäume klettern, konnte reiten, selbst ohne Zügel und Satteldecke, sie war kräftig für ein Mädchen, fand sich im Wald zurecht, wusste, wie man Holz schnitzt und wie man Schwerter richtig hielt und wetzte. Sie wusste, wie man eine Rüstung pflegte und wie man sie anzog, kannte alle Schlachten von Alexander und Caesar. Sicher alles Sachen, die ihr sehr nützlich geworden wären, wäre sie nur ein Junge gewesen. Aber sie war nun mal keiner. Und ohne ihren Vater fehlte ihr so ein ganzer Teil ihres Lebens, und das nun schon seit Jahren.


    Ähm, nein, ich mache keinen Sport. Für Mädchen gehört sich das ja auch nicht, wie ein schwitzender Arbeiter durch die Gegend zu hetzen.
    Axillas Blick blieb bei diesen Worten gesenkt. Es war nicht wirklich die Wahrheit, und sie war eine miserable Lügnerin. Zuhause in Tarraco war sie viel gelaufen, geklettert, bevor sie ihr Pferd hatte verkaufen müssen wegen der Schulden auch geritten. Aber das hier war nicht mehr ihre Welt, und in dieser Welt trieben gute, römische Mädchen nicht so viel Sport wie griechische Olympioniken.

    Im ersten Moment sah Axilla Ánthimos einfach nur an. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er auch nur im Ansatz verstand, wovor sie alles weglief und wie weit sie laufen müsste, um wirklich davon weg zu kommen. Aber seine Worte drückten genau das aus, was sie so sehr fühlte. Wenn ihre Muskeln schmerzten und brannten waren die anderen Probleme für einen Augenblick einfach weg und ihr Kopf war frei und klar und sie konnte einfach denken, ohne dabei diese Leere zu fühlen, die alles in ihr so niederdrückte. Als würde der körperliche Schmerz, den sie dann durchaus fühlte, für ein paar Momente die Leere einfach ausfüllen und somit verschwinden lassen.
    Zumindest für eine Weile“, stimmte sie ihm so unbedacht zu, ehe sie merkte, dass ihr Mund mal wieder vorschnell war.
    Zum Glück hatte er auch ein anderes Thema angesprochen, bei dem sich Axilla zwar nur sehr oberflächlich auskannte, aber es war ein sehr willkommener Themenwechsel.
    Für die Olympischen Spiele? Waren die nicht erst? Für welche Sachen trainierst du dann denn?
    Das Zielschießen?, das ihr auf der Zunge lag, verkniff sie sich. Es wäre zwar vielleicht lustig gewesen, aber vielleicht auch nicht. Und Axilla hatte vorhin schon unbedacht daher geredet. Da wollte sie jetzt lieber Ánthimos erzählen lassen und ihm einfach zuhören.

    Ärger abtrainieren, das konnte Axilla verstehen. Das war zwar nicht ganz dasselbe, was sie machte, aber sie kannte es, wenn man sich ärgerte und am liebsten nur noch schreien oder auf irgendwas einschlagen wollte. Dieses Gefühl hatte sie selbst bisweilen, aber meistens fraß sie es dann einfach in sich hinein, bis dann so ein Tag wie heute kam, wo das alles ihren Kopf zum Platzen zu bringen schien.
    Nein, ich hab hier noch nie trainiert. Weißt du, das… ist vielleicht auch nicht so schicklich. Und …ich sollte vielleicht ein bisschen mehr darauf achten, was ich so mache, weißt du? Für meine Familie.
    Sie hatte keine Ahnung, ob Ánthimos sie da verstand. Sie verstand es ja selbst bisweilen nicht so wirklich. Nun fehlte nur die Erklärung, warum sie heute trotzdem hier war. Axilla wurde ein wenig verlegen und hätte am liebsten das Thema gewechselt. Da sie aber kein wirkliches Thema hatten, ging das nicht so einfach.
    Nur heute hatte ich mal das Bedürfnis, zu laufen. Habe ich als Kind viel gemacht, und… naja, war vielleicht auch keine so gute Idee.
    Obwohl sie es eindeutig für die einzig brauchbare Idee des Tages nach wie vor hielt. Noch immer war ihr Kopf nicht so frei, wie Axilla es sich wünschte, aber jetzt hatte sie Gesellschaft und einen Gesprächspartner, was sie ablenkte. Jetzt konnte sie ihre Fröhlichkeit wieder spielen und ein paar Augenblicke unbekümmert sein. Das war auch gut.
    Und du trainierst hier oft?
    Das war zwar eine dumme Frage, hatte er ihr genau das eben doch erzählt, aber irgendwie musste Axilla das Gespräch ja am Laufen halten und das Thema weg von ihr und mehr hin zu ihm bewegen.

    Die Götter seien gepriesen, er zog sich etwas an. Naja, zumindest so halb, auf jeden Fall war er nicht mehr nackt. Axilla konnte also wieder normal schauen und musste nicht immer sich wieder abwenden, um ja nichts falsch zu schauen. Sie tat, was er ihr empfohlen hatte, und hob die Hände über den Kopf. Sie kam sich dabei zwar reichlich albern vor, aber es half tatsächlich. Als ob die Streckung ihrer Seitenmuskeln ihr beim Atmen helfen würde. So nach und nach ging es besser.
    Axilla sah zu Ánthimos herüber und hatte das Bedürfnis, sich zu erklären. So wie sie es beurteilte, war sie die einzige Römerin in der ganzen Stadt, die jemals das Gymnasion von Innen gesehen hatte. Und sie wollte doch ab jetzt alles richtig machen und die Ehre der Familie pflegen. Aber andererseits wollte sie jetzt hier auch nicht wie ein Schwächling dastehen, der keinen Sport machte.
    Danke, das ist… besser, ein bisschen. Ich hab mich… nur erschreckt, als… der Diskus so plötzlich angeflogen kam.
    Der Schmerz ließ soweit nach, dass Axilla ihre Arme auch wieder runternahm. Es war zwar noch nicht das brennen in den Muskeln, das sie sich gewünscht hatte, aber trotzdem fühlten sich ihre Glieder schon reichlich schwer an.
    Bin wohl ein bisschen außer Form. Hatte noch nie so Seitenstechen.
    Das stimmte auch. Zumindest könnte sich Axilla an Seitenstechen nicht erinnern. An Muskelkater und vom Reiten wunde Schenkel, ja, alles, aber Seitenstechen war neu.

    Ánthimos schloss zu ihr auf. Hätte er sich vorher nichts anziehen können? Axilla versuchte, nicht hinzusehen und schloss auch sicherheitshalber einfach die Augen. Das war zwar albern und sah auch bestimmt so aus, aber eine bessere Lösung fiel ihr grade nicht ein, und um Anthi alles zu erklären, fehlte ihr grade ein bisschen die Luft.
    Sie nickte also nur und gab etwas wie „Mmmhmmh“ von sich, ehe sie sich aufrichtete. Ihre Hand ruhte noch immer an ihrer Seite, wo es so zog und ziepte. Ihr Atem ging immer noch nicht ruhig und gleichmäßig. Sie hätte öfter trainieren sollen, sie kam sich im Moment so schwächlich vor.
    Alles… gut… nur… Atmen… der Diskus…“ Axilla machte eine Handbewegung vor ihrem Körper, um es dem Griechen zu erklären. Sie hatte für viele Worte einfach grade keine Luft. Aber das Ding war vor ihr Vorbeigeflogen und hatte sie nicht verletzt. „nur… erschreckt und…Luft…
    Oh, stehenbleiben war ganz schlimm, Axilla lief lieber wieder ein paar Schritte, dann ging es mit dem Atmen doch besser.