Beiträge von Iunia Axilla

    Axilla hatte das Gefühl, zu ersticken. Von der Anstrengung her schwitzte sie und brauchte viel Luft, aber wenn sie zu tief einatmete, stach es ihr so tief in die Seite, dass sie die Luft sofort wieder ausstieß. Sie lief ein paar Schritte, in der Hoffnung, dass es besser werden würde, das wurde es aber nicht. Sie hörte jemanden ankommen. Vielleicht derjenige, dem das Geschoss gehörte?
    Sie hob leicht den Kopf, erkannte Timos Bruder. Der sanfteste von den dreien, und der stärkste. Es brauchte einen Moment, bis Axilla der Name wieder einfiel. Und just in diesem Moment fiel ihr auch auf, dass Ánthimos nackt war. Schnell senkte sie ihren Blick zum Boden, bevor schon wieder eine Situation entstand, die so nicht sein durfte.
    Axilla wusste natürlich, dass die Griechen nackt trainierten, aber sie konnte ja nicht ahnen, auf jemanden zu treffen, den sie kannte. Und schon gar nicht auf Timos’ Bruder. Ein kleines Stimmchen warf ein gutaussehend noch in ihren Gedankengang zwischen „Timos“ und „Bruder“, aber Axilla ignorierte es eisern. Abgesehen davon, dass sie sowieso von den Männern erstmal nichts mehr wissen wollte und sich fest vorgenommen hatte, ihrer Familie keine weitere Schande mehr zu machen, nur weil sie sich einsam fühlte und diese fünf Minuten Kuscheln hinterher mehr schätzte als alles andere. Anthi war ja auch verheiratet mit dieser grauäugigen Frau, mit der sie sich kurz im Zimmer unterhalten hatte, als Ánthimos mit seinen beiden Brüdern noch einmal ins Gebet ging. Axilla war nur gerade der Name entfallen.
    Sie hob kurz in seine Richtung ihre Hand, um ihm zu signalisieren, dass sie ihn erkannt hatte, aber zu einer ordentlichen Begrüßung fehlte ihr noch der Atem. Noch immer stach ihre Seite bei jedem einzelnen Atemzug.

    Wie genau Axilla auf die Idee gekommen war, wusste sie nicht mehr. Vielleicht, weil sie daran gedacht hatte, wie sie früher immer in den Wald gelaufen war. Aber hier in Alexandria gab es keinen Wald, und durch die Straßen konnte sie nicht rennen. Aber sie hatte das dringende Bedürfnis danach. Seit sie sich nun vor drei Tagen von Timos getrennt hatte (oder er sich von ihr oder sie beide sich voneinander, wie man es auch sehen wollte), war sie nur wie halbtot herumgeschlichen und hatte nichts Bestimmtes gemacht. Sie hatte einfach versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber je mehr Zeit sie allein verbracht hatte, umso mehr hatte sie das Gefühl, als müsse ihr Kopf gleich platzen. Und es gab ja auch keine wirkliche Besserung. Urgulania musste arbeiten, und sonst war niemand da. Sie war ganz allein in diesem schrecklich großen Haus.
    Heute morgen war dann ein Brief von Marcus Achilleos gekommen, ob sie sein Schülerin sein wollte. Aber er wohnte in Rhakotis. Axilla wollte so sehr endlich das richtige machen und keine falschen Entscheidungen aus ihrem Gefühl heraus treffen. Aber sie hatte noch nie anders als aus dem Bauch heraus entschieden. Und mit dieser Leere in ihr, die sämtliches Denken aufzufressen schien, konnte sie auch nicht nachdenken.


    Also hatte sie sich eine einfache, kurze Tunika angezogen und darüber für den Weg einfach eine dünne, lange. So war sie zum Gymnasion gegangen. Sie wusste, dort durften auch Frauen trainieren. Zwar machten die das normalerweise nackt, aber soviel Römerin war selbst in Axilla, dass sie sich nicht einfach irgendwo auszog und nackt herumrannte.
    Sie legte ihre lange Tunika sorgsam zusammen und legte sie beiseite, ehe sie sich ans Laufen machte. Aufwärmen vorher tat sie sich nicht, ihr ging es ja auch nicht um irgendwelche Leistungen. Sie wollte einfach nur weglaufen vor all dem, was ihren Kopf gleich zum Platzen bringen würde. Sie kümmerte sich nicht darum, ob ihre Tunika denn nun auch schicklich war oder nicht. Für die richtigen Athleten war es wahrscheinlich eine Beleidigung, dass sie überhaupt eine trug, und für die Römer war sie wahrscheinlich zu kurz, da sie nichtmal bis ganz zum Knie ging. Sie kümmerte sich auch nicht darum, ob ihr jemand auf die nackten Beine starren würde oder ihren locker zusammengebundenen Pferdeschwanz kritisieren würde. Ob sie überhaupt bemerkt wurde. Sie wollte nur laufen, laufen, laufen, bis ihre Lunge brennen würde, bis ihre Beine zitterten und der Schmerz in ihren Muskeln sie vom Schmerz in ihrem Inneren ablenken würde. Mehr wollte sie nicht.


    Sie lief, eine Runde, noch eine Runde, und noch eine. Sie zählte nicht mit. Noch hatte sie das Gefühl, dass sie so sehr herbeisehnte, nicht erreicht, also lief sie einfach weiter, einfach stur im Kreis. So war es zwar kein richtiges davonlaufen, wie es zuhause gewesen war im Wald, aber es kam dem zumindest ein wenig nahe.
    Sie hörte nichts mehr außer ihrem immer schwerer werdenden Atem und dem Blutrauschen in den Ohren, und sehen tat sie schon lange nichts mehr außer der Bahn vor ihr. Langsam bekam sie Seitenstechen, aber noch immer fühlte sie sich so leer, also lief sie weiter. Und dann kam etwas von der Seite angeflogen, landete einige passus von ihr entfernt im Sand des Gymnasions. Aber da blieb es nicht liegen, sondern prallte ab wie ein Stein auf der Wasseroberfläche und flog weiter, direkt in Axillas Laufbahn. Sie bemerkte es aus den Augenwinkeln und bremste gerade noch rechtzeitig scharf ab, als der Diskus kurz vor ihr vorbeihüpfte. Vor Schreck hatte sie die Luft scharf eingezogen und nun hatte sie wirklich Seitenstechen davon bekommen. Sie hielt sich die stark schmerzende Seite und versuchte, ruhig zu atmen. Aber aufgrund der Anstrengung von eben war das einfacher gesagt als getan, also stand sie nur leicht vornüber gebeugt und hielt sich die Seite.

    Axilla lag die ganze Nacht einfach nur in ihrem Bett. Wirklich denken oder fühlen konnte sie nicht, auch schlafen konnte sie nicht. Sie fühlte sich wie eine leere Hülle, die nur da war und atmete. Ihr Herz pumpte zwar, aber es war kein Leben in ihr. Sie fühlte sich so unendlich tot, so leer und allein. In diesem Moment tat es ihr leid. Alles. Dass sie Timos so hatte gehen lassen tat ihr leid. Dass sie Silanus nach Rom so hatte gehen lassen tat ihr leid. Dass sie jetzt hier lag tat ihr leid. Aber auch, dass sie nicht die Kraft hatte, es ehrenvoll zu beenden und sich zu töten, tat ihr leid. Dass sie überhaupt sich mit Timos eingelassen hatte. Dass sie Silanus verführt hatte. Dass sie nicht stärker war.
    Axilla machte sich Vorwürfe. Sie hätte nach Vaters Tod stärker sein müssen. Sie hätte sich noch mehr um Mutter kümmern müssen, und auch auf Iason hören müssen. Ihr guter Lehrer, wie oft hatte er versucht, ihr dennoch alles beizubringen, wozu die kranke Mutter nicht mehr in der Lage war. Er hatte es wirklich gut gemacht, er hatte es wirklich versucht. Sie hätte nur auf ihn hören müssen. Aber sie hatte keinen Kopf gehabt für Philosophie und die schönen Dinge. Sie hatte sich so sehr um Mutter gekümmert, was ja auch richtig war. Aber sie hätte nicht versuchen sollen, das Haus allein zu verwalten, wie es Vater getan hatte. Vielleicht hätte sie einen Nachbarn um Hilfe bitten sollen, oder schon früher mit ihrer Familie Kontakt aufnehmen sollen. Und sie hätte nicht so oft weglaufen sollen in den nahen Wald. Wie oft war sie einfach dorthin gelaufen, gelaufen und immer weiter gelaufen, bis ihr Kopf ganz leer war und ihre Muskeln gebrannt hatten wie Feuer. Bis sie keine Luft mehr bekommen hatte und einfach auf den nächsten Baum geklettert war, ganz wie ein Eichhörnchen. Manchmal war sie einen ganzen Tag auf einem Baum gewesen, kurz nach Morgengrauen von zuhause losgelaufen, dann dort gesessen und erst mit dem Einbrechen der Dämmerung heimgekehrt. Und doch hatte es sich damals richtig angefühlt, weil sie auch damals schon diese Leere gefühlt hatte. Und durch das Laufen, durch das brennen der Muskeln, war es einfacher gewesen, es zu ertragen.
    Aber hier ging das nicht so einfach. Es gab hier keinen Wald in den sie gehen konnte, keinen Ort, an den sie sich zurückziehen konnte. Sie konnte sich nur in sich selbst zurückziehen. Und dann war sie allein. Allein mit ihren Gedanken, allein mit den Erinnerungen, allein mit der Schuld. Allein mit sich. Und im Moment konnte Axilla sich selbst nicht besonders gut leiden.


    Irgendwann ging die Sonne auf. Axilla merkte es eigentlich nur dadurch, dass es heller wurde an dem Fleck, auf den sie wie in Trance starrte. Ob sie geschlafen hatte oder nicht, wusste sie nicht. Sie fühlte sich krank und elend, unendlich schwach. Sie setzte sich auf, und ihr war schwindelig. Vielleicht war sie ja wirklich ein bisschen krank?
    Noch bevor eine Sklavin in das Zimmer kam, um sie zu wecken, hatte Axilla aufgeräumt. Das Schwert ihres Vaters war wieder behutsam in die scheide und dann in die Truhe gewandert. Ihr Kleid und den Umhang hatte sie zusammengefaltet in einer anderen Truhe verschwinden lassen. Sie selbst hatte sich eine ganz einfache Tunika angezogen.
    Die Sklavin musterte Axilla zwar ein wenig komisch und machte sich wohl auch sorgen, ob sie krank sei, aber Axilla winkte ab. Sie wollte nicht von einem Arzt angeschaut werden. Gegen die Leere in ihr gab es ohnehin kein Mittel, das wusste sie. Zu lange schon trug sie dieses Gefühl mit sich herum.
    Axilla wusste noch nicht, was sie machen wollte. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie irgend etwas machen wollte. Sie folgte einfach der Sklavin hinunter, wo sie einen weiteren Tag als Geist verbringen würde, so tun würde, als sei sie fröhlich und als würde sie nichts bekümmern. Eines Tages würde sie sich auch selbst belügen können, wenn sie nur jeden Tag durchstand. Vielleicht.

    Nachdem Timos und sie sich getrennt hatten, war Axilla schnell nach Hause gelaufen. Anfangs war es nur ein etwas schnellerer Gang, sobald sie das Tor zur Basilea aber hinter sich gelassen hatte, war sie gerannt. Sie hatte sich ins Haus geschlichen und war dann nur so schnell wie möglich in ihr Cubiculum gerannt. Der Mantel wurde abgestreift, als wäre er das Hemd des Nessos, und einfach in eine Ecke geschleudert. Sie hatte sich so schön gemacht für Timos, dass Axilla sich jetzt richtig ekelig vorkam. Das Kleid war auch schnell von ihrem Körper gestreift und zerknüllt in einer Ecke gelandet. Die Kette mit den Delphinen wollte nicht so, wie sie wollte, als sie sie aus den Haaren nehmen wollte, also riss Axilla einmal fester daran, dass der schöne Schmuck kaputt ging. Mit zitternden Händen sah sie auf die zerbrochene Kette und konnte sich kaum mehr beherrschen.
    Sie hatte alles falsch gemacht, einfach alles. Seit sie nach Aegyptus gekommen war, hatte sie alles falsch gemacht. Sie hatte sich in Silanus verliebt, hatte ihn betört und ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt. Sie hatte ihn sogar angefleht, sie zu heiraten, obwohl sie sehr wohl wusste, welche Schande das für die Familie war. Sie war ja nicht dumm, auch wenn sie oft so handelte.
    Und dann, als er sie in die Wirklichkeit zurückgeholt hatte, hatte sie sich auf diese völlig widersinnige Sache mit Timos eingelassen. Sie hätte erst gar nicht mit ihm losziehen dürfen, nicht einmal etwas Essen, und erst recht keinen Wein trinken. Dass sie sich von ihm unter Opium hatte setzen lassen war wohl das dümmste, was sie in ihrem Leben jemals gemacht hatte. Dann hatte sie mit ihm geschlafen. Nicht nur, dass sie ihm nach seinem unmöglichen Auftritt am nächsten Morgen verziehen hatte, nein, sie hatte ihn danach noch zu sich in ihr Bett geholt. Sie hatte gar nicht darüber nachgedacht. Sie wollte einfach nur nicht allein sein, und er war jemand gewesen, der ihr ein Gefühl von Geborgenheit gab. Aber dafür konnte sie doch nicht alles aufgeben? Ihre Ehre, ihr Leben, ihr Ruf, das alles hatte sie mit diesen beiden Männern verwirkt.
    Sie war ein schlechter Mensch. Sie war unehrenhaft. All das, was ihr Vater so hoch gehalten hatte, hatte sie mit Füßen getreten. Und warum? Weil sie nicht allein sein wollte. Weil sie geliebt werden wollte. Weil sie das Bedürfnis nach Geborgenheit hatte. Weil sie vergessen wollte. Waren das Gründe, so etwas zu tun? Wohl eher nicht. Ihr Vater würde sich für sie schämen.
    Bei dieser Erkenntnis sank Axilla heulend auf die Knie. Ihr Bauch schmerzte so sehr, dass sie ihn halten musste, und sie hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ihr ganzer Körper brannte. Sie fühlte sich so elend, so ekelig, so abstoßend. Sie hatte nicht eine Eigenschaft, die sie als positiv verbuchen konnte, und ihr Unrecht wog dagegen so unendlich schwer. Egal, wer zu ihr auch gesagt hatte, er sei ein schlechter Mensch, ob Marcus Achilleos oder auch Timos, die kannten nicht die Abgründe, die in ihrer Seele lauerten. Soviel Blut konnten diese nicht an ihren Händen kleben haben, um damit der Schande auch nur nahe zu kommen, die sie auf sich geladen hatte.
    Axilla krabbelte auf allen Vieren zu der Truhe, in der Schwert und Rüstung ihres Vaters lagen. Es gab nur einen Ausweg, nur eine Sache, die sie machen konnte. Ihre Familie sollte nicht gestraft sein durch so ein Ungeheuer wie sie. Sie durfte den Ruf der Iunier nicht vernichten. Und sie würde das tun, Schlechtes gebar nur immer neues Übel. Und sie war so verdorben, so schlecht, ekelig und abstoßend, dass es ganz unmöglich war, dass sie ihre Familie verschonen könnte. Sie war verflucht, das war Axilla klar. Erst hatte ihr Fluch ihren Vater getötet, dann ihre Mutter, und nun zerstörte sie langsam hier in Alexandria diejenigen, die ihr nahe standen. Das durfte sie nicht zulassen.


    Das Schwert lag da in seiner Scheide, und trotz der körperlichen Schmerzen holte Axilla es mit einer flüssigen Bewegung hervor. Sie sah es kaum vor Tränen, aber sie wusste, wie es aussah, kannte jede Scharte, jeden Fleck im Leder. Schnell zog sie es aus der Scheide. Im schwachen Licht der Lampen ihres Zimmers glänzte die Schneide und blendete Axilla durch ihre Tränen hindurch. Mit tapsigen Schritten begab sie sich zum Bett und stürzte halb darauf. Ihr Atem ging laut, keuchend und von Schluchzen überlagert. Sie blickte auf das Schwert. Es gab nur diesen Weg. Sonst würde sie ihre Familie ins Unglück stürzen. Sie hatte gar keine andere Wahl, wenn sie sie retten wollte.
    Sie setzte die Klinge an, an die letzte Rippe, etwas seitlich. Sie wollte ja schließlich ihr Herz treffen und nicht noch lange und blutend auf dem Boden liegen, während sich ihre Gedärme verteilten. Das wollte sie den Sklaven nicht zumuten, sie so zu finden.
    Sie sammelte sich, ihre Gedanken. Sie wollte nicht sterben, aber sie wollte ihre Familie retten. Sie zitterte, und das hatte nichts damit zu tun, dass sie nackt war, und auch nicht mit ihrem weinen. Sie fasste den Griff, fester. Es würde ganz einfach sein, sie musste nur einmal beherzt zustoßen. Sie musste nur einmal… sie musste nur…


    Scheppernd fiel das Gladius auf den Boden, als es ihr aus den Händen fiel und Axilla sich aufs Bett warf. Sie heulte, krümmte sich zusammen, ihr Körper war nur noch Schmerz. Aber sie konnte es nicht, sie konnte es einfach nicht. Es war das beste, sie sollte es tun. Aber sie konnte es nicht, sie hatte zuviel Angst davor. Sie konnte einfach nicht.

    Sie hatte ihn geknickt, das konnte Axilla sehen. Aber sie durfte jetzt nicht weich werden, zu ihrer beider Besten. Wenn sie jetzt doch wieder weich würde, hatte sie nicht die Kraft dafür, das zu tun, was sie tun musste. Sie konnte nicht immer das tun, was sie wollte, sie hatte Verantwortung. Auch für Timos. Zwar war er der ältere von ihnen beiden, aber im Moment fühlte sich Axilla irgendwie trotzdem erwachsener.
    Schweigend ließ sie sich von ihm ins Boot helfen und als sie saß, legte sie sich ihren Mantel wieder um. Ihr Kleid verbarg viel zu wenig, und nachdem sie wusste, was hier vor sich ging, wollte sie lieber mehr von sich verbergen. Sie war wohl wirklich zu naiv, wie ihr schon oft vorgeworfen worden war. Vielleicht hätte sie mal auf ihre Lehrer hören sollen, anstatt aus dem Fenster zu starren.
    Es war nur ein kurzer Weg über den Kanal, ebenso kurz wie der Weg hier her. Axilla wartete, bis das Boot wieder angelegt hatte, und ließ sich dann von Timos auch wieder auf den Weg helfen. Sie sah ihn wieder an, er schien ihr immer noch traurig zu sein. Aber was hatte er erwartet? Axilla fragte sich, welches Bild er wohl von ihr hatte. Sie mochte ihn gerne, ja, und sie hatte sich ihm in einem schwachen Moment mehr anvertraut als den meisten anderen Menschen. Aber…
    "Ich sollte dann jetzt besser schnell heimgehen. Bevor es wirklich spät wird und die Wachen noch dumme Fragen stellen, wenn ich heim will.“
    Dieser Abschied war bestimmt nicht so herzlich wie er hätte sein können. Aber Axilla hatte beschlossen, jetzt stark zu bleiben. Es war das richtige. Und sie wollte Timos auch keine falschen Hoffnungen machen. Sie mochte ihn gerne, ja, wirklich gerne. Aber sie liebte ihn nicht, und in diesem Moment wurde ihr das nur überdeutlich klar.

    Hin und her gerissen sah Axilla ihn einen Augenblick lang an. Sie ertrug es nicht, diese grauen Augen so traurig zu sehen, und wollte ihn daher trösten, in den Arm nehmen, wieder aufbauen, damit er wieder fröhlich schaute. Aber der andere teil von ihr wusste, dass sie das auf gar keinen Fall tun durfte. Er hatte sie hier in Gefahr gebracht, und zwar nicht zu gering, und ihr bisher keine Erklärung dafür geliefert, warum er so etwas getan hatte.
    Axillas Wut schützte sie in diesem Moment davor, voreilig zu handeln, denn sie machte sie kalt und berechnend. Mit einer für sie fast ungewohnten Klarheit ging sie in Gedanken die Möglichkeiten durch, die ihnen blieben. Ja, Timos hatte recht, sie sollten dieses Haus hier schnellstmöglich verlassen. Aber er konnte sie unmöglich bis nach Hause bringen. Wenn man sie beide zusammen durch das Tor gehen sah, noch dazu in ihrer Aufmachung, dann würde Urgulania es leicht haben, zwei und zwei zusammen zu zählen. Wenn dann noch rauskam, dass eine Römerin auf diesem Fest gewesen war, und dass diese Nachricht Runde machte zweifelte Axilla keine Minute, müsste ihre Cousine schon total verblödet sein um nicht darauf zu schließen, dass das Axilla gewesen war. Nein, dass er sie heimbrachte stand völlig außer Frage.
    Abgesehen davon hatte Axilla Timos Bruder ja versprochen, keine Dummheit zu machen, die die Familie Bantotakis in Gefahr bringen würde. Und auch, wenn Axilla immer noch eine Mordswut auf Timos’ jüngsten Bruder hatte und Timos selber nicht gerade daran arbeitete, die Gefahr für seine Familie durch ihrer beider Zusammensein zu minimieren, war Axilla ein Mensch, der im Grunde genommen durchweg ehrlich war. Sie würde ihr Wort niemals brechen. Das war eines der ersten Dinge, die sie von ihrem Vater in ihren heimlichen Lehrstunden gelernt hatte: Ein guter Soldat hielt immer sein Wort, denn er war immer treu. Auch wenn sie ein Mädchen war und damit nie ein Soldat hätte werden können.
    Sie atmete ruhig durch, bis die Wut und die Furcht in ihr zu einem kalten Glimmen heruntergebrannt waren. Sie wusste, nachher würde dieses Feuer wieder auflodern und über sie mit einer Verzweiflung hereinbrechen, der sie nicht standhalten konnte, aber im Moment war es unter Kontrolle.
    “Wir sollten gehen. Aber in die Basilea muss ich allein. Ich brauch dann nur meinen Mantel, der liegt noch im Boot.“
    Weitere Vorwürfe ersparte Axilla ihnen beiden, die brachten sie jetzt nicht weiter, und außerdem hätten sie nur die Angst, die sie fühlte, genährt. Aber bis sie in ihrem Zimmer wieder war, würde sie sich beherrschen müssen.

    Als so plötzlich eine andere Musik gespielt wurde, sah sich Axilla neugierig um. Die Damen, die erschienen, hinterließen bei ihr ein seltsames Gefühl, fast so etwas wie eine Ahnung. Aber sie wollte es nicht wahrhaben, und Axilla war schon immer gut darin gewesen, Dinge zu verdrängen, die sie einfach nicht wahrhaben wollte. Zumindest seit in etwa 2 Jahren war sie sehr gut darin.
    Also war sie sehr perplex, als ihr Gastgeber zu Timos schritt und ihm mitteilte, dass sie beide auch auf ein Zimmer gehen könnten, um sich zu vergnügen. Bei diesen Worten wurde Axilla ein wenig anders. Wo hatte Timos sie da hingeführt? Sie dachte, das hier sei ein ganz normales Fest. Wenn sie dabei erwischt worden wäre, auf einem normalen Fest zu sein, hätte es Ärger gegeben, gewaltigen Ärger. Aber dieses Risiko war Axilla ja bereit gewesen, einzugehen. Aber wenn sie auf einer Orgie erwischt werden würde, das würden weder sie noch Timos überleben.
    Als Timos sich schelmisch an sie wandte, blieb ihr erstmal die Stimme weg. Statt einer vernünftigen Antwort kam nur ein sehr hohes Fiepen über ihre Lippen, das kaum als artikulierter Laut gelten konnte. Sie sah ihn an, als hätte er nicht mehr alle Amphoren im Keller.
    Schnell schnappte sie ihn am Arm, versuchte dabei das vergnügende Pärchen nicht zu bemerken – was natürlich nicht gelang – und zog ihn mit sich hinter eine Säule des Hauses, so dass sie erstmal aus dem Blickfeld der anderen Gäste waren.
    “Du… du… du wusstest, dass das hier eine… eine… eine…“
    Axilla bekam das Wort Orgie noch nicht einmal über die Lippen und fing deswegen für sie ziemlich ungewohnt an, total zu stottern. Plötzlich fühlte sie sich ganz schlecht. Ihr kamen die Worte von Timos Bruder wieder in den Sinn, wie viel sie denn kosten würde. Wut stieg in ihr auf. Hielt Timos sie denn für eine lupa? Gut, vielleicht war sie daran nicht unschuldig. In der Nacht konnte sie nichts dafür, dass sie mit ihm geschlafen hatte, sie war sturztrunken gewesen und nach allem, was sie wusste, mit einer gehörigen Menge Opium im Blut. Aber am Vormittag tags darauf hatte sie ihn mit sich in ihr Cubiculum genommen und mit ihm geschlafen, ohne dass sie das auf Alkohol oder Drogen zurückführen konnte. Der Grund, sich einsam zu fühlen und Trost gesucht zu haben rechtfertigte ihr Verhalten wohl nicht wirklich.
    Aber das hier war… Axilla fiel nicht einmal gedanklich ein Wort ein, dass dafür passen würde. Was dachte Timos von ihr? Was dachte er von sich? Dachte er überhaupt? Einen Moment lang bezweifelte Axilla, dass er die möglichen Konsequenzen des ganzen überschaut hatte.
    “Timos, wenn mich hier jemand erkennt, weißt du überhaupt, was dann los ist? Du kannst mich doch nicht auf eine… eine… eine…“ Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, weil das Wort einfach nicht raus wollte. “… bringen. Die machen uns beide einen Kopf kürzer, wenn das rauskommt. Und überhaupt, ich kann doch nicht mit dir vor all den Leuten… die wissen doch, was wir in einem Zimmer machen würden?! Ich meine, das… und du wusstest das?“

    Die Art, wie die Klinen angeordnet waren, war ungewöhnlich, aber Axilla dachte sich nichts dabei. Vielleicht war das bei den Griechen ja grade so Mode? Sie hatte von der griechischen Kultur im Allgemeinen herzlich wenig Ahnung, und die genaue Anordnung von Sitzmöbeln rangierte in ihrer Interessenliste auch sehr weit unten. Sie hatte es sich auf ihrer Klinge einfach bequem gemacht und schaute hinüber zu den anderen Feiernden.
    Timos hingegen schien wohl ein Spielchen mit ihr spielen zu wollen. Sie sah zu ihm, zu der Traube in seiner Hand, wieder in seine Augen, wieder zu der Traube, und musste lachen. Nein, das hatte sie sicher nicht getan. Sie hatte ihm doch sicher nicht Trauben aus der Hand gegessen? Sie waren doch in einer Taberna gewesen, wo man sie hatte sehen können. Nein, so betrunken war sie doch sicher nicht gewesen, sich darauf einzulassen. Oder doch?
    “Sag nicht, ich hab dir Trauben aus der Hand gegessen?“
    Ein wenig unsicher sah sie zu ihm herüber. Das Spiel gefiel ihr ja irgendwie, es war gefährlich und aufregend, und das liebte sie ja. Aber heute war sie weder betrunken noch verzweifelt noch berauscht und somit war dies eine der wenigen Gelegenheiten, in denen ihr Verstand erstmal die Oberhand behielt. Wie lange das halten würde, war die Frage, bei Axilla hielt so etwas meistens sehr kurz an. Aber im Moment beherrschte sie sich noch.

    Timos führte sie zu einem paar Klinen und Axilla ließ sich darauf nieder. In dem neuen Kleid bewegte sie sich ein wenig ungewohnt, es zeigte fast ein bisschen zuviel Haut. Vor allem, als sie sich setzte, musste sie ein paar mal prüfend schauen, ob denn noch alles richtig verdeckt war und so saß, wie es sollte. Sie wollte ja nicht hier auf diesem Fest mehr Aufmerksamkeit erregen als ohnehin schon. Sie war ja so schon aufgeregt, ob ihr heimlicher Ausflug wirklich unbemerkt bleiben würde. Sie hoffte es, sonst würde Urgulania sie wohl einen Kopf kürzer machen. Was sie mit Timos erst anstellen würde, davon wollte sie gar nicht erst anfangen.
    Ein Sklave kam und fragte, was er ihnen bringen solle. Axilla wollte schon nach Wasser fragen oder einem Fruchtsaft, aber Timos war schneller und bestellte verdünnten Wein. Na, hoffentlich war dieser auch wirklich gut verdünnt, Axilla hatte in Bezug auf Alkohol doch eine sehr niedrige Toleranzgrenze. Und auch bei verdünntem Wein lag bei ihr der Unterschied zwischen einem Schwipps und einem Vollrausch bei einem Becher. Aber heute würde sie einfach viel besser aufpassen und nur wenig trinken.
    “Auf die Musik und schöne Gesellschaft“, erwiderte Axilla fröhlich und stieß mit Timos an. Anschließend nahm sie einen kleinen Schluck von dem verdünnten Wein. Sie nahm sich fest vor, heute über den ganzen Abend nicht mehr als zwei Becher zu trinken, auch wenn das vielleicht unhöflich sein mochte. Sie hatte ja von Aelius Archias schon in ihrer ersten Woche in Alexandria gehört, dass die Griechen hier auch gerne mal den sehr starken Palmwein tranken, und zwar in rauen Mengen. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr zurückhaltendes Trinken hier aufgenommen werden würde.
    Bevor sie sich darüber noch allzu viele Gedanken machte, beschloss sie, auf das alte Thema lieber wieder zurück zu kommen. Timos hatte ihr nämlich nicht geantwortet.
    “Du hast mir immer noch nicht verraten, was wir denn mit den Trauben gemacht haben? Ich weiß gar nichts mehr von Trauben.“

    Im Grunde hatte Axilla gar keinen Hunger, sie war viel zu aufgeregt dazu. Wo andere, wenn sie nervös waren, vor allem süße Dinge in sich stopften, fehlte ihr jeglicher Appetit und jegliches Hungergefühl. Sie aß so ja schon wenig, aber wenn sie unter Anspannung war, aß sie dann auch schon mal gar nichts. Vielleicht hatte Axilla diese eine Sache von ihrer Mutter geerbt, wo sie in allen anderen Dingen auch schon voll nach dem Vater schlug. Auch wenn sie viel lieber die äußerst robuste Gesundheit und den unempfindlichen Magen gehabt hätte als Seekrankheit und Appetitlosigkeit. Aber das konnte man sich ja leider nicht aussuchen.
    Axilla folgte also Timos zu dem Tisch, ohne sich selbst an dem Buffet zu bedienen. Sie war viel zu aufgeregt, um etwas zu essen. Das Gefühl, etwas verbotenes zu tun, erfüllte sie beinahe mit einem Rausch. Und dass sie niemanden hier kannte außer Timos, ließ das ganze ein klein wenig gefährlich wirken. Axilla liebte dieses Gefühl, wenn ihr Herz ein wenig schneller schlug und das Blut nur so in ihren Adern rauschte. Das waren die wenigen Momente, in denen sie sich lebendig fühlte und nicht erst so tun musste, als wäre sie vollkommen unbekümmert und frei. Jetzt konnte sie so sein, wie sie sich fühlte, und musste sich nicht erst verstellen.
    Welche Trauben?
    Axilla sah Timos fragend an. Sie erinnerte sich an keine Trauben. Auch jetzt noch nach mehreren Tagen war die Erinnerung an den Abend mit ihm nicht wieder zurück gekehrt. Ab und zu hatte sie einen Fetzen einer Erinnerung, wie ein kleines Aufflackern einer Kerze, aber mehr nicht. Und Trauben waren dabei nicht vorgekommen. Die meisten ihrer Erinnerungen, die sie wieder hatte, beschäftigten sich vielmehr mit dem Zusammenspiel verschiedener Körper. Axilla bekam eine zarte Röte auf den Wangen, als wieder so ein kleines Bild von ihr und Timos vor ihrem geistigen Auge aufflackerte und sie sah ein wenig schüchtern zu Boden.
    Allerdings hielt diese Schüchternheit nicht lange an und sie schenkte ihm einen neckischen Blick. „Was haben wir denn mit den Trauben schönes angestellt?“ Jetzt war sie schon neugierig.

    Axilla erwiderte die Verbeugung mit einem kleinen Lächeln und einem Kopfnicken. Sie war sich nicht ganz sicher, wie sie den Griechen sonst begrüßen sollte oder was er sich erwartete. Aber in diesem Punkt war sie doch so römisch, um sich einzubilden, im Rang über ihm zu stehen. Auch wenn sie im Allgemeinen da nicht viel drauf gab.
    Es freut mich auch, auf deiner Feier zu sein. Auch wenn Timos bisher sehr zurückhaltend war, mir mehr darüber zu erzählen.
    Sie bedachte ihre Begleitung bei diesen Worten mit einem verführerischen Lächeln und einem neckischen Blick, und wandte sich dann wieder an den Gastgeber.
    Ich war noch nie auf so einer Feier. Es sieht alles so festlich geschmückt aus. Das kenn ich sonst nur von den Saturnalien. Dein Haus ist wirklich sehr hübsch, und die Musik ist auch ganz bezaubernd.
    Axilla bevorzugte zwar allgemein etwas flotteres mit Trommeln, aber die Flötenklänge waren sehr angenehm, wenn auch fast ein wenig einlullend. Aber sicher würde es auch irgendwas geben, was sie etwas wacher bleiben ließ, und wenn es nur eine angeregte Diskussion mit Timos war. Sie sah wieder zu ihm herüber und hatte schon die ein oder andere Idee, wie er sie wach halten könnte. Über ihre Gedanken musste sie regelrecht grinsen.

    Beim Aussteigen schlug Axilla zum ersten Mal ihre Kapuze zurück. Sie öffnete den Knopf am Hals und ließ ihren Umhang im Boot einfach zurück. Wenn sie zurückfuhren, konnte sie ihn so nicht vergessen.
    Staunend besah sich Axilla die Pracht, in die der Garten getaucht war. Das hier schien wirklich ein wundervolles Fest zu werden. So etwas hatte sie definitiv noch nie gesehen. In Tarraco war sie sehr selten auf einem fest gewesen, aber da war es vielleicht zu den Saturnalien so geschmückt wie jetzt hier an einem einfachen Festabend.
    Nein, dass ist wirklich atemberaubend. Sowas hab ich noch nie gesehen. Ich bin irgendwie ganz aufgeregt.“ Und vor Aufregung griff sie nach Timos Hand und drückte sie ganz leicht. Sie wusste gar nicht, wohin zuerst schauen. Hier gab es so viel zu sehen, und über allem lag so eine schöne Musik.
    Kennst du die Leute hier?“ Natürlich nahm Axilla nicht an, dass sich alle Griechen untereinander kannten, aber vielleicht kannte er ja trotzdem den ein oder anderen. Und sie wollte hier nicht so auf dem Präsentierteller stehen bleiben.

    Vorsichtig stieg Axilla die Treppenstufen hinunter. Um Timos Hand war sie dabei durchaus dankbar, die neuen Schuhe waren zwar wunderhübsch, aber das Leder war noch nicht so geschmeidig. So war ihr zusätzlicher Halt sehr willkommen. Nicht, dass sie so aufgedonnert, wie sie war, noch in der Kanalisation landete. Dafür hatte sie sich sicher nicht hübsch gemacht.
    Das wackelige Boot betrachtete Axilla aber dann doch sehr misstrauisch.
    Da rein?“ Fragend schaute sie zu Timos. Wo führte er sie nur hin, dass es so kompliziert war? Von so einem komischen Fest hatte sie noch nie gehört. Halb nervös, halb aufgeregt, stieg Axilla also vorsichtig ins Boot. „Wenn ich reinfalle, hau ich dich“ meinte sie noch scherzhaft, aber dann saß sie sicher.

    Timos sah gut aus. Axilla ließ ihren Blick über ihn schweifen und konnte dabei diesen Gedanken kaum verhehlen. Er hatte sich genauso herausgeputzt wie sie selber, nur dass er es nicht unter einem leichten Mantel verbarg. Sie lächelte bei dem Handkuss. Diese Geste war ihr neu, es fühlte sich irgendwie aufregend an. Verträumt lächelnd hakte sie sich bei ihm ein und ging mit ihm los.
    Das Fest ist dort? Im Tempel der Judäer?“
    Axilla hatte ja schon allerlei über ihre jüdischen Mitbürger gehört, aber dass sie besonders festlich waren gehörte eindeutig nicht dazu. Schon gar nicht bei ihren Tempeln. Wegen ihrem komischen Glauben hatte es schon ein paar Aufstände gegeben, wie sie wusste. Sie war sich nicht sicher, ob sie als Römerin wirklich in einen jüdischen Tempel wollte. Das würde doch niemals gut gehen.

    Alles in Ordnung? Das war eine gute Frage. Sie kam sich im Moment unglaublich dämlich vor und ihr Kopf schwirrte. Ihre Cousine und Marcus sprangen von einem Thema zum nächsten und philosophierten auf einem Niveau, das sie wohl nie erreichen würde. Ihre Philosophie war da ganz einfach, da gab es nur richtig und falsch, und ob das jemandem etwas nützte oder nicht, das war egal. Nun, Axilla war nicht dumm, natürlich kannte sie auch eine Menge griechischer Lehren wie die des Plato, und sie interessierte sich ja auch dafür. Aber dieses Gespräch war ihr eindeutig zu hoch. Dafür hätte sie noch viel mehr lernen müssen, vor allem von dieser Philosophie, von der Marcus sprach. Davon verstand sie nämlich noch weniger als von dem, was Urgulania sagte. Sie überlegte grade, ob es so eine gute Idee war, Marcus danach gefragt zu haben, ob er es ihr beibringen würde. Das würde ja JAHRE dauern, bis sie das verstand. Zumindest fühlte sie sich grade so.
    Als Marcus also nach ihrem Befinden fragte, schaute sie ihn erstmal nur ein wenig verständnislos an und wechselte dann einen Blick mit Urgulania. Sie wollte das Gespräch, an dem ihre Cousine durchaus Gefallen gefunden zu haben schien, nicht durch ihre Dummheit abwürgen. Vielleicht war jetzt ein geeigneter Zeitpunkt, sich abzusetzen. Dann konnte Urgulania noch weiter diskutieren, und da wäre ihr doch sicher niemand böse.


    Ja, ich bin nur ein wenig müde. Wenn es euch nichts ausmacht, ich glaube, ich bin gerade keine so lustige und scharfsinnige Gesellschaft. Ich würde mich dann schon schlafen legen, wenn es nicht zu unhöflich ist.
    Fragend sah sie zu Urgulania hinüber. Hoffentlich war sie jetzt deswegen nicht böse. Aber zu dem Gespräch konnte sie ohnehin nicht viel beitragen.

    Sich aus der Villa zu schleichen war gar nicht so einfach, aber Axilla hatte einen Plan. Und was für einen! Schon ewig war sie nicht mehr auf einen Baum geklettert, aber heute zahlte sich das zum ersten Mal richtig aus. Leander musste sie einweihen, das ließ sich nicht umgehen, aber sonst wusste niemand bescheid. Sie hatte sich schon früh in ihr Cubiculum zurückgezogen und Leander angewiesen, zu sagen, sie würde schon schlafen, weil sie müde sei, und dass sie keine Störung wünsche. Zur Sicherheit hatte sie sogar von innen den Riegel vorgeschoben, dass niemand in ihr Cubiculum hereinkam.
    Dann hatte sie in einem Bündel ihr Kleid und die Schuhe geschnappt. Sie selbst trug bisher nur ihre kurze Tunika, sie wollte das Kleid nicht noch beschädigen. Um ihr Haar machte sie sich ein wenig sorgen, das hatte sie noch am Nachmittag von einer Sklavin herrichten lassen. Zum Frisuren testen, hatte sie gesagt, denn es stand ja eigentlich kein Grund an. Sie hoffte, ihre Haare hielten noch richtig. Die Kette mit den Delphinen, die sie hinein tun würde, hatte sie ebenso dabei.
    Und dann war sie aus dem Fenster geklettert. Zum Glück waren mögliche Sklavenaugen von Leander abgelenkt, und sie kletterte flink hinunter ins Atrium und huschte wie ein Eichhörnchen ungesehen hinaus und bis zum Dienstboteneingang bei der Cena. Dort zog sie sich schnell in einem uneinsehbaren Winkel um, nur die Kette bewahrte sie sich für später auf. In einem langen Mantel mit Kapuze huschte sie hinaus, die Tunika in einem Beutel sicher neben dem Eingang versteckt, wo Leander später danach sehen würde.
    Schnell huschte sie durch die Straßen der Basilea und ging durch einen Toreingang, den sie schon vorher ausgesucht hatte, weil die wachen sie dort kannten, aber insgesamt nur desinteressiert wahrnahmen und wohl gleich wieder vergessen hätten. So zumindest der Plan.
    Erst, als sie auch die Mauern der Basilea hinter sich gelassen hatte, nahm sie die Kette mit den aus Elfenbein geschnitzten Delphinen zur Hand und friemelte sie in ihr Haar. Sie hatte keine Spiegel zur Hand, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie es richtig gemacht hatte.
    Sie schlug die Kapuze wieder hoch und machte sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt.
    Schon von einiger Entfernung sah sie Timos. Sie musste lächeln und winkte ihm zu, in der Hoffnung, er sah sie auch. Leider konnte sie sich ihm nicht richtig präsentieren, sie hatte immer noch ein wenig Angst vor einem erkennenden Blick. Sie hätte ihm zu gern gezeigt, wie hübsch sie sich für ihn gemacht hatte. Auch, wenn das Kleid, dass sie gemeinsam ausgesucht hatten, ziemlich großzügig geschnitten war. So war aber noch alles verborgen. Zumindest, bis sie auf dem Fest wären.

    Nachdem er gegangen war, stand Axilla eine Weile einfach nur da. Sie fühlte sich merkwürdig. Sie vermisste ihn, und doch war da nicht der übliche Schmerz. Verwirrt tapste sie zum Bett und ließ sich darauf fallen, um darüber nachzudenken.
    Ihr Blick fiel auf die Flecken, die ihre „Aktivität“ hinterlassen hatte. Das musste sie auch noch zur Wäsche bringen, ehe eine übereifrige Sklavin noch Urgulania davon erzählte. Das wäre das letzte, was sie gebrauchen könnte.
    Sich immer noch nicht ganz klar, ob sie nun eigentlich glücklich oder traurig oder beides war, setzte sich Axilla auf und zog schnell eine frische Tunika über. Danach sammelte sie alles – Die decke, das Laken, ihre alte Tunika und die Palla – zusammen und machte daraus ein tragbares Bündel. Hoffentlich war grad eine Sklavin da, die die Wäsche machte, so dass sie das hier einfach dazu in den Bottich werfen konnte, ohne dass ein allzu genauer Blick darauf geworfen wurde. Ansonsten würde sie es eben selber kurzerhand einweichen. Zimperlich war sie ja nicht. Und lieber einen Rüffel von einer Sklavin, warum sie mit Wasser planschte, als Urgulania erklären zu müssen, was das für Flecken auf ihrem Bettzeug waren. Gut bepackt verließ also auch schließlich Axilla ihr Cubiculum.

    Er musste gehen, und Axilla wusste das auch. Aber trotzdem tat es so unendlich weh. Sie wollte jetzt nicht wieder ohne ihn sein, auch wenn zwei tage nicht wirklich lang waren. Als er sich umdrehte und einen Schritt gemacht hatte, hielt Axilla es nicht mehr auf dem Bett aus. Sie kam ihm mit schnellen Schritten nach und umarmte ihn einfach von hinten, um ihn an sich zu ziehen. Sie schmiegte sich noch einmal an ihn, ehe sie ihn doch losließ. Es musste ja sein.
    Das werden zwei lange Tage werden.
    Traurig schaute sie zu ihm hoch. Abschiede lagen ihr nicht besonders gut, und sie konnte ihre Gefühle kaum verhehlen.

    Bei seiner ersten Frage wurden Axillas Wangen leicht rot. Schüchtern lächelte sie ihm zu und zuckte als Antwort einfach nur verspielt mit den Schultern. Was sollte sie dazu nur sagen?
    Sie genoss seine Nähe und schwieg. Nach einer Weile aber sagte Timos noch etwas, was ihr weniger gefiel. Sie wollte nicht, dass er ging. Sie fühlte sich so wohl bei ihm. Einen kurzen, sehnsüchtigen Blick konnte sie nicht unterdrücken, als sie ihm in die Augen schaute. Noch lag er da und war bei ihr. Aber er konnte ja nicht für immer hier bleiben, das wusste auch Axilla.
    Traurig nahm sie einen tiefen Atemzug und kuschelte sich noch einmal kurz ganz dicht an ihn. Sie wollte seine Wärme noch einmal kurz fühlen, seinen Herzschlag hören. Sie wollte sich einfach noch ein paar Momente geborgen fühlen.
    Was meinst du, wann wir uns wiedersehen?
    Wenn sie klug wären, würden die letzten 24 Stunden einmalig unter ihnen bleiben. Aber Axilla war in dieser Beziehung definitiv alles, nur nicht vernünftig. Und sie wollte ihn wiedersehen, unbedingt. Sich jetzt von ihm zu trennen war schon schwer genug, ihn nicht mehr wiederzusehen wäre unvorstellbar.

    Völlig erschöpft lag Axilla nur da und atmete. Was Timos mit ihr getan hatte… dafür kannte sie keine Worte. Ihr ganzer Körper kribbelte so sehr, dass sie meinte, sie würde gleich wie ein Tongefäß in tausend Teile zerspringen. Sie wollte nur noch bei ihm sein, alles andere war für einige Momente vollkommen gleichgültig.
    Auf seine Worte hin zog sie ihn zu sich herunter, um ihn sanft zu küssen. Gerne hätte sie ihn viel leidenschaftlicher umworben, aber dafür fehlte ihr im Moment die Kraft. Und sie wollte jetzt einfach nur ihm noch ein wenig ganz nahe sein. Als er bei ihr lag, kuschelte sie sich dichter an ihn. Bis ihr Körper ruhig genug war, dass sie vernünftig denken und sprechen konnte, dauerte es ein wenig. Erst dann konnte sie ihm antworten.
    Es war wundervoll. Ich…
    Nein, sie durfte den Satz nicht vollenden. Soviel verstand hatte Axilla trotz allem noch, dass sie ihm nicht in ihrer Euphorie einfach ein „Ich liebe dich“ sagen durfte. Sie durfte ihn auch gar nicht lieben, also tat sie es auch nicht. Ihre einfache Logik war da sehr eindringlich: Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Also versuchte sie, jegliche Gefühle des Verliebtseins jetzt zunächst einmal auf die Seite zu drängen. Stattdessen kuschelte sie sich lieber in seine Arme und genoss einfach das Gefühl, behütet zu sein.
    Ich würde gern ewig mit dir so zusammen liegen.
    Ganz sanft fingen ihre Hände an, über ihn zu streicheln. Sie war so erschöpft, aber sie wollte ihm noch gutes tun. Wenigstens noch ein wenig.