Axilla lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah Avianus an. Lange. Nach dem, wie Avianus eben vorgeprescht war und wie er sich ihr gegenüber gegeben hatte, war das jetzt doch schon fast eine Provokation, und jetzt in dieser Situation und nach diesem Start hatte Avianus sowieso jeglichen Vertrauensvorschuss erst einmal mit Glanz und Gloria verspielt. “Ich glaub dir nicht. Aber schön, ich spiele mit.“ Avianus gehörte zur Familie, und er verdiente ebenso eine zweite und auch eine dritte Chance, sie zu überraschen, wie jeder andere auch. Auch Seneca hatte mindestens drei Chancen bekommen, seine Handlungen zu überdenken oder sich zumindest dafür angemessen zu entschuldigen, und Avianus hatte noch nichts angestellt, was auch nur halb so schlimm gewesen wäre.
“Ich hoffe, du sitzt bequem, ich muss nämlich einmal ein wenig weiter ausholen.“ Immerhin ging es um einen Zeitraum, der nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte umfasste.
“Als ich 16 war, lebte ich bei Urgulania und Silanus in Alexandria. Ich hatte sogar eine Stelle als Schreiber, und das noch für den höchsten Beamten der Stadt. An einem wirklich verflucht heißen Tag – und das will in Ägypten wirklich etwas heißen – ging ich zum Cursus Publicus und traf dort Aelius Archias, der dort arbeitete. Wir unterhielten uns nett, ganz normal, er erzählte mir auch von seiner Verlobten und lud mich ein, von Römer zu Römerin, doch mit ihnen gemeinsam etwas zu essen. So lernte ich Decima Seiana überhaupt erst kennen, denn sie war diese Verlobte.
Ich bekam das damals gar nicht so wirklich mit, aber Archias fand immer neue Gründe, mich zu sehen. Ich sollte ihm bei einem Liebesbrief an seine verlobte helfen, beispielsweise. Oder er machte mit ihr eine Reise zu den Pyramiden, und fragte mich, ob ich sie begleiten wollte. Erst, als er zurück nach Rom beordert wurde, merkte ich, dass es von ihm nur Vorwände waren, mich zu sehen. Als er sich verabschieden kam, gestattete ich ihm einen Abschiedskuss – auf die Wange natürlich. Aber er zog mich auf seinen Schoß und küsste mich, und... ich gebe zu, ich fühlte mich geschmeichelt und überrumpelt, und... um es kurz zu machen, ich ließ es zu, dass wir im Bett landeten. Ich wusste ja, er geht, und dachte, wir sehen uns nie wieder, und für mich war das auch vollkommen in Ordnung so.
Einen knappen Monat später reiste ich aber selbst ungeplant nach Rom, nachdem Silanus dorthin schon hinversetzt worden war und dessen Patron mich – wohl auf sein zureden hin – auch kennenlernen wollte. Wahrscheinlich spielte auch mit rein, dass Urgulania sich mit Terentius Cyprianus – ja, DER – angelegt hatte und Angst hatte, er würde sich an mir vergreifen, um ihr zu schaden. Dass er sie selbst umbringen würde, daran hätte wohl keiner gedacht... Ich schweife ab.
In jedem Fall war ich auch in Rom, natürlich erhielt auch Archias hiervon Nachricht und nahm den Kontakt auch wieder auf – wobei ich mehrfach klar stellte, dass er seine Verlobung einhalten sollte und das mit uns nur ein Ausrutscher war. Und ich lernte auch jemand anderen kennen, und... egal, es ist lange her. Als ich also dann mit diesem anderen auf einer Hochzeit war, auf der auch er mit der Decima war, rastete Archias aus, übergoss meinen Begleiter mit einer Nachspeise und löste die Verlobung zu der Decima.
Und seit dieser Zeit kreidet sie mir alles mögliche an, erfindet Dinge und bringt die Leute gegen mich auf. Nur, weil ich einen Monat später den Antrag von Archias angenommen habe. Natürlich angenommen, er war der Vetter des Kaisers und Procurator...
Ich fühlte mich deshalb auch schuldig und habe mehrfach versucht, die Sache wieder zu bereinigen, schon allein, weil Silanus der Klient von Decimus Livianus ist. Ich habe mich bei ihr persönlich entschuldigt. Mehrfach. Was sie nicht angenommen hat. Ich habe unter ihr in der Acta gearbeitet und sie gedeckt. Sowohl, dass sie in der ganzen Zeit kaum Arbeit beigesteuert hat, als auch, dass sie Anweisungen des Senats einfach mal geflissentlich ignoriert hat. Nur 'glücklicherweise' erinnert sich der Senat an die eigenen Auflagen kaum, wie beispielsweise Rechenschaftsberichte. Ich habe sie auch gedeckt, als sie dutzende Unterlagen vernichtet hat, die sie ins Lager der Salinator-Kritiker gerückt hätten. Ich hab ihr sogar höchstselbst dabei geholfen, obwohl mein Kopf da absolut sicher war. Und wofür ich ironischerweise von Seneca höchstselbst zusammengeschissen wurde, wie ich mich in die Nähe von 'so einer Person' wagen kann, da ich damit den Ruf unserer Familie schädigen würde! Nach Archias' Tod und der Beschlagnahmung seines Besitzes bin ich auch höchstselbst zu Vescularius gegangen, um wenigstens die Sklaven freizubetteln, die er ihr vermacht hatte – und habe sie höchstselbst dann zu ihr gebracht, obwohl sie selbst da noch nur hochmütige und herablassende Worte übrig hatte.
Jahrelang habe ich mich darum bemüht, das Verhältnis wieder auszugleichen, und was war das Ende davon? Ich durfte mich von ihrem Bruder in aller Öffentlichkeit anpöbeln lassen wegen einer Geschichte, die weit mehr als ein Jahrzehnt zurück lag. Und bis dahin hatte ich mich bemüht, aber irgendwann ist einmal eine Grenze erreicht. Sie war bei den Göttern bei weitem nicht die erste Frau, deren Verlobung gelöst wurde, und wird da auch nicht die letzte sein, und eine gelöste Verlobung rechtfertigt in keinem Fall solch ein Verhalten. Und dann noch sich als Opfer darzustellen, wo man ja selbst überhaupt nichts getan habe, das eine Ablehnung dann provoziert hätte... Hahahaha, das ist sogar für sie absurd.
Aber dem Fass den Boden ausgeschlagen hat sie in der Tat erst durch den Ehebruch mit Seneca. Zu diesem Zeitpunkt war sie mir dann komplett gleichgültig, ich habe sie vollständig ignoriert – was auf der Arbeit auch nicht weiter schwierig war, sie hat sowieso nie gearbeitet und kam nur vorbei, wenn es aus Prestigegründen irgendwas zu holen gab.
Aber Ehebruch begehen mit Seneca... nein, das ist eine eindeutige Grenze. Die römische Gesellschaft – nein! Jede Gesellschaft funktioniert nach einer einfachen Wahrheit: Die Mutter eines Kindes ist gewiss, der Vater ist es nicht. Deshalb ist es in einer Ehe – die einzig dem Zwecke dient, legitime Nachkommen hervorzubringen, die über jeden Zweifel erhaben sind – unabdingbar notwendig, dass die Frau treu ist. Und deshalb wird eine Untreue auch so hart bestraft. Und gerade wir als Iunii sollten das am besten wissen, war Lucretia doch die Tante unseres Ahnen. Und was sagte sie damals doch vor ihrem Selbstmord? Sie tue dies, damit keine Ehebrecherin sich auf sie als Ausrede berufen kann?
Ganz abgesehen davon, dass sie nicht nur sich selber damit in Gefahr gebracht hat, sondern gerade auch Seneca. Ich weiß zwar nicht, ob die Sache mit dem Rettich wirklich so noch durchgeführt wird, oder ob nur der ein oder andere Dichter das als Stilmittel gerne zum Drohen nimmt. Aber in jedem Fall wäre er öffentlich gebrandmarkt worden, hätte Silanus da mit rein gezogen – in doppelter Weise als Klient des Onkels der Frau und als Onkel von Seneca – und hätte sich von jeglichen Plänen bezüglich seiner Ritterschaft verabschieden können. Und Silanus sich von seiner weiteren Karriere. Und alle von uns von irgendwelchen Plänen bezüglich Ritterschaft.
Noch dazu, dass er mit der Frau seines vorgesetzten Offiziers geschlafen hat, und der Schwester seines späteren Offiziers. Sehr toll. Und als ich es gewagt habe, ihn darauf anzusprechen, was für einen riesigen Mist er da eigentlich tut, war seine einzige Reaktion, mich erst anzuschreien und anzupöbeln und dann jämmerlich herumzuweinen, dass er nicht anders könne. Und als ich daraufhin, da mit ihm ja in seiner Blindheit nicht zu reden war, die Decima zur Rede gestellt habe und – ja, ich gebe es offen zu – verlangt habe, dass sie nicht fortan Ehebruch begehen, weil es gefährlich ist, weißt du auch, was da passiert ist? Zuerst hat sie mich beleidigt, wie schon so oft, und sehr deutlich Bezug auf die Jahrzehnte zurückliegende Geschichte mit Archias genommen, weshalb sie jetzt so handele. Und dann hat sie mir gedroht. Nicht anders herum. Sie hat gedroht, die Iunii zu vernichten, sie hat Rache geschworen.
Sie hätte zu jeder Zeit es einfach gut sein lassen können. Sie hätte die Sache mit Archias jederzeit begraben können und einfach weiterleben können. Sie hätte sich auch jederzeit von Terentius Cyprianus scheiden lassen können. Alles, was man dafür tun muss, ist vor fünf Leuten zu verkünden, dass man geschieden sein will, fertig. Und spätestens, als Terentius nicht mehr Praefectus Praetorio war, sondern ihr eigener Bruder, war auch jegliches Status-und-Gesellschaftsstands-Blabla auch nichts weiter als dass: Inhaltsleeres Blabla. Sie hätte sich trennen können und dann ganz offiziell und legal mit Seneca zusammen sein können. Aber nein, wollte sie gar nicht. Er war ihr dafür nicht gut genug. Ihr, der Ehebrecherin, war er nicht gut genug.
So, und was macht dein Freund Seneca? Schnauzt mich an, wie ich es wagen kann, von ihr zu verlangen, mit dem Ehebruch aufzuhören! Und besser noch, als Terentius Cyprianus, der ja auch kein vollkommener Vollidiot ist, langsam mitbekommen hat, dass seine Frau ihn betrügt, und da auch Ermittlungen aufgenommen hat und da wohl auch schon Seneca ins Visier genommen hat, hat dieser Vollidiot auch noch die Chutzpe, mich anzumachen, dass ich ja damit unbedingt zu tun haben müsse.“ Ihr Ton wandelte sich ins stark übertrieben ironische. “Nein, das kann natürlich nichts damit zu tun haben, dass er verheiratet ist und es vielleicht merkt, wenn an anderer Mann seine Frau fickt. Und nein, der Schluss ist natürlich total abwegig, dass es ein Mann sein muss, mit dem seine Frau Kontakt hat. Zum Beispiel einer der Prätorianer, die er als Ehemann höchstselbst als Wache bei ihr abgestellt hat, nein, niemals könnte er da selbst drauf kommen. Das muss die böse, böse Axilla ja erzählt haben, weil man ja sonst soooo vorsichtig war und nur im Schlafzimmer der Hausherrin unter dem Wissen von zig Sklaven miteinander gepoppt hat. Aber das muss die missgünstige Cousine gewesen sein. Ja, ne, is klar.“ Axilla schnaubte.
So, und wenn dir das noch nicht reicht, dass sie“, Axilla nahm ihre Finger nun, um zu zählen, “sich jahrelang trotz einer Vielzahl von Hilfen und Unterstützung sich geweigert hat, Gras über eine alltägliche und einfache Sache wachsen zu lassen und selbst eine Entschuldigung anzunehmen“ Nächster Finger “Sie ausgerechnet den Mann geheiratet hat, dem man es nie beweisen konnte, dass er unsere Cousine Urgulania getötet hat“ Nächster Finger “Sie ihren Bruder aufgehetzt hat gegen mich, und das noch nach Jahren“ Nächster Finger “sie mit Seneca dann Ehebruch begangen hat“ Erste Hand voll, nächste Hand. “sie sich aber geweigert hat, sich scheiden zu lassen, um völlig legal mit ihm zusammen zu sein, obwohl sie ihn doch angeblich so sehr liebte“ Nächster Finger “Und sie statt dessen lieber den gesamten Iunii drohte und alles nach wie vor mit Archias begründete“ Nächster Finger “Und anschließend dann auch noch Seneca aufhetzte und ihm einredete, dass ich ja irgendwas mit ihrem Ehemann zu schaffen hätte“ nächster Finger “Woraufhin der mich dann auch erstmal anzuschreien meinte, anstatt vielleicht irgendwannmal zu sehen, dass sein und ihr Verhalten da vielleicht ausschlaggebend für die Misere hätten sein können...“
Axilla betrachtete die beträchtliche Fingersammlung und atmete erst einmal durch. “Sie beide hatten jede Menge Chancen, das alles auszubügeln, an unzähligen Stellen. Und an keiner von diesen hatte ich maßgeblich etwas mit einer Eskalation. Abgesehen von der einen Sache, dass sich vor knapp zwanzig Jahren ihr Verlobter in mich verliebt hat und sie daraufhin nicht mehr haben wollte. Aber selbst das ohne größeres Zutun von meiner Seite. Und entgegen meinen Rat an ihn.
Aber falls dir das noch nicht reicht, erzähle ich dir noch gerne eine Geschichte, für die ich leider keinerlei Beweise habe.
Es war einmal ein Mädchen, das eine Dummheit begangen hatte. Aufgrund dieser Dummheit wurde sie schwanger. Als sie es merkte, wollte sie das Kind nicht haben, also ging sie los und suchte einen Arzt. Sie fand auch einen, aber wie das Schicksal so spielt, arbeitete dieser Arzt für ausgerechnet die Verlobte des Mannes, mit dem diese Dummheit stattgefunden hatte.
Sie wäre auch beinahe gestorben bei dem Versuch, das Kind abzutreiben, aber sie überlebte es. Nur bekam der Arzt so nun mit, wer der Vater des Kindes war. Und dieser war auch überzeugt, dass da kein Kind mehr wäre und alles nun wieder weiter gehen konnte, wie es sein sollte.
Alles war gut und etwas Zeit verstrich. Da merkte der Mann aber, dass er das Mädchen liebte und die Vorstellung nicht ertrug, sie könne einen anderen heiraten. Also trennte er sich von seiner Verlobten und fragte einige Zeit später das Mädchen, ob sie ihn heiraten wollte. Sie willigte ein.
Und eines schönen Tages also, als sie auf dem Weg zu ihm war, auf einer belebten Straße, auf der sie weder besonders auffällig war, nicht besonders schnell, nicht besonders langsam, stürzte sich ein bewaffneter Mann mit einem Messer auf das Mädchen. Sie ging jeden Tag zur selben Zeit diesen Weg zu dem Mann, also war es ein leichtes, sie dort dann zu finden, wenn man denn wollte. Auch wollte der Bewaffnete sie nicht ausrauben, er bedrohte sich nicht, sondern hob direkt die Waffe, um ausgerechnet sie in einer größeren Menschenmenge vor aller Augen umzubringen. Und wäre nicht der treue Leibsklave des Mädchens dazwischen gegangen und hätte sich geopfert, und hätte daraufhin nicht jemand aus der Menge geholfen, der Bewaffnete hätte sie auf offener Straße am helllichten Tag getötet.
Na, großer Urbaner, das ist doch mal ein toller Zufall, nicht wahr?“
Axilla ließ das Ganze einen Moment sacken. So im Nachhinein musste sie immer wieder feststellen, wie unsäglich dumm sie doch all die Jahre gewesen war, den Anschlag nicht direkt mit der Decima in Verbindung zu bringen und noch jahrelang zu versuchen, das Verhältnis wieder zu kitten. Wie hatte sie sich nur jemals ein schlechtes Gewissen einreden lassen können? Sie war ja so naiv gewesen in ihrer Jugend.
“Und um deine Frage nun zu beantworten: Ja, ich überlege noch immer, es öffentlich zu machen, was geschehen ist. Dann muss ich mich nicht mehr für nichts und wieder nichts anmaulen und anfeinden lassen, sondern dann gibt es wenigstens einen Grund dafür. Und vielleicht lernen die beiden dann endlich einmal, für das, was sie getan haben, Konsequenzen zu tragen. Und komm mir nicht mit dem Zusammenhalt in der Familie, den hat die Decima schon lange zerstört, bevor ich auch nur irgend etwas gesagt habe. Und um ehrlich zu sein, je öfter ich angemault und angemacht werde, dass ich ja die arme, arme Decima in Ruhe lassen soll, umso mehr festigt sich mein Entschluss, es doch zu tun.“