Im Gegensatz zu dem sich versammelnden Militär hatte Sextus nicht seine Rüstung an. Im Moment war er angetan in seinem Talar als Haruspex, mit einfacher Tunika und darüberhängendem Ledermantel aus der Haut eines geopferten Tieres. Hier in Mogontiacum war dies gar nicht so einfach aufzutreiben gewesen, aber was sein musste, musste eben sein. Noch schwieriger war der Hut gewesen. Jemanden ausfindig zu machen, der die spitze und feste Hutform bauen konnte, war hier in barbarischen Gefilden fast ein Ding der Unmöglichkeit. Der Lituus war dagegen schon fast einfach gewesen. Holz mittels Dampf zu verbiegen war hier nicht gänzlich unbekannt, auch wenn der Handwerker etwas dumm geschaut hatte, als Sextus erklärte, was er wollte.
Und so stand er da in seiner Tracht, die sich in den nächsten Jahrhunderten noch so sehr in den Köpfen der Menschen als Aussehen einer religiösen Obrigkeit und weisen Mannes festfressen würde, dass selbst eine Sekte, die sämtliche etruskischen Schriften auf Scheiterhaufen verbrennen würden, um ihren Einfluss auf die Menschen zu tilgen, dennoch ihre höchsten Priester, die sie Bischöfe nennen würden, genau so ausstaffieren würden.
Aber all das konnte Sextus nicht wissen, als er da stand und seinen Blick über das sich versammelnde Heer schweifen ließ. Lustig, dass der Annaeer erst jetzt Haruspizien einholen wollte. Würde Sextus jetzt sagen, dass die Zeichen schlecht stünden, konnten sie alle nach Hause gehen. Jeder einzelne von ihnen, einfach so. Ein Wort von Sextus genügte. Und er war sich nicht sicher, ob er es nicht einfach tun sollte, nachdem der Annaeus seine Macht derart überschätzte. Hatte er schon bei der unsäglichen Besprechung getan, und Sextus verspürte einen erheblichen Widerwillen, sich von diesem Mann benutzen zu lassen. Und gäbe es auch nur die Chance zu einer Alternative zur jetzigen Situation für ihn, Sextus hätte es ernsthaft getan, einzig, um diesem Einfaltspinsel auf seinem Pferd seine Grenzen aufzuzeigen. Und dem Claudier nebendran gleich mit. Nur leider hatte er im Moment keine Wahl, wollte er wenigstens die Chance haben, nach Rom zurückzukehren.
Und so wartete er, bis die Sonne aufgegangen war. Culsans, den die Römer als Ianus kannten, musste nach den Regeln erst die Himmelsgewölbe des Tages öffnen, so dass er für den Tag daraus lesen konnte. Und Sextus war mehr als froh, dass es nicht regnete oder gar stürmte. Blitze wären äußerst ungünstig, wenn auch sehr interpretierbar. Doch nicht umsonst durfte in Rom kein Gremium tagen – selbst der Senat nicht – wenn Iuppiter draußen Blitze schleuderte.
Er wartete auch noch, als Ruhe in die Mannschaften eingekehrt war und auch, als der Annaeer zu ihm herüber sah. Er könnte zwar anfangen, aber so viel gestand er der Situation dann doch zu, alle etwas warten zu lassen, um den 'rechten' Zeitpunkt abzupassen. Überhaupt fand er die Aufmerksamkeit hier überhaupt nicht der religiösen Sitte entsprechend. Während in Rom praktisch keine Handlung ohne religiöse Handlung vollzogen werden konnte, jede Magistratur ihrem Sinn nach ein religiöses Ritual war, um den Frieden mit den Göttern zu sichern, jeder Magistrat für eben jenen verantwortlich war und in der Öffentlichkeit auch stets die rechten Opfer zur rechten Zeit vorzuweisen hatte, interessierte sich hier im fernen Barbaricum keine Sau für die Götter. Sextus sah nur die Legionen, die auf ihren Abmarsch warteten, aber kein Interesse seitens der Stadtbevölkerung. Und auch die Legionen waren nur da der Form halber. Wahrscheinlich könnte Sextus auch ein lapidares 'Jo, stapfen wir mal los' einfach in den Raum werfen, hätte vermutlich bei diesen nefarischen Gemütern dieselbe Wirkung.
Erst, als die Sonne schon eine Handbreit über den Horizont gewandert war, trat Sextus schließlich vor auf das errichtete Podest, den Stab in der rechten Hand haltend, und stellte ihn mit einem hörbaren PONG auf das Holz ab. Auf etruskisch sagte er die alten Formeln, wohl wissend, dass niemand hier ihn verstehen würde, wenn er in dieser Sprache redete. Allerdings verlangte es so das Ritual. Sein Blick war exakt nach Süden ausgerichtet – etwas, auf das Sextus beim Bau des Podestes und des Altares mehrfach hingewiesen hatte. Im Grunde bedeutete die Formel nicht viel mehr als 'Hier ist meine Front, und hier ist mein Rücken, dort ist meine linke Seite, und dort meine rechte Seite', aber sie legte damit exakt einen Raum fest, definierte einen Ort und teilte ihn ein, machte ihn für die Dauer des Rituales heilig und besonders und lenkte die Aufmerksamkeit der Götter auf eben diesen Bereich, in dessen Zentrum der Haruspex stand.
Sextus ließ die Stille sich einen Moment ausdehnen, beobachtete den Himmel, ob sich hier spontane Zeichen ergeben würden. Ein Schwarm Raben wäre jetzt sehr ungünstig gewesen, denn soviel wussten wohl sogar diese Barbaren, dass das ein schlechtes Zeichen war. Aber die obligatorische Minute blieb alles ruhig, so dass die Eingeweideschau beginnen konnte.
“Ich bitte die Götter, ihren Willen kund zu tun. Wir Sterbliche sind nichts ohne eure Führung und erbitten Einblick in euren Plan, ob unser Marsch auch vor eurer göttlichen Ordnung sein Wohlwollen findet!“ Diesmal auf dem gemeinen Latein, das hier jeder sprechen sollte. Wenigstens ein bisschen was sollten die Legionen auch verstehen, selbst wenn es sie nicht interessierte.
Die Ministri brachten das vorbereitete Schaf vor zum Podest, so dass die Männer es sehen konnten. Sextus warf nur kurz einen Blick auf das Tier. Wenigstens scheren hätten sie es können, schoss ihm durch den Kopf, als er das Tier sah. Sie hatten das weißeste und fluffeligste Schaf von allen ausgesucht, mit weißen Wolllöckchen und großen, dunklen Augen, die treuherzig zu ihm hochschauten. Sicher ein angemessenes Opfer, die Götter freuten sich auch über ein flauschiges Vollwatte-Mäh. Aber so plüschig, wie das Ding war, gab das gleich eine Sauerei...
“Ich weihe euch dieses Schaf, oh göttliche Lenker, auf dass ihr uns teilhaben lasst an eurem Plan!“
Das Schaf bekam etwas Wein über den Kopf gegossen in Ermangelung von Mola Salsa und wurde somit den Göttern geweiht. Danach machte sich auch schon der Schlachter ans Werk. Den treudoofen Blick ignorierend schnitt er dem Schaf kurzerhand die Kehle durch, so dass das Blut geradezu spritzte. Die weiße Wolle färbte sich den Hals und Bauch hinunter rot, während das Tier zuckend zusammenbrach. Seine Bauchdecke wurde geöffnet – und Sextus behielt recht, dass die viele Wolle die Sauerei nur verschlimmerte – und die Leber wurde vom Schlachter herausgeholt und auf eine goldene Patera gelegt, die einer der Ministri ihm anreichte. Sextus nahm das noch warme und blutige Organ in die Hand und fing an, die einzelnen Strukturen eingehend zu betrachten, die einzelnen Häuser der Götter mit den Fingern nach Verknotungen abzutasten oder andere Auffälligkeiten in Augenschein zu nehmen. Nicht, dass diese etwas an seinem Urteil ändern würden, aber zum einen musste der Schein gewahrt werden, und zum anderen war es auch nicht ganz uninteressant, als einziger zu wissen, was die Götter denn wirklich von der ganzen Sache hielten.