Es war spät abends, die Sonne war schon einige Zeit untergegangen und im Castellum kehrte langsam aber hörbar die allabendliche Ruhe ein. Nur noch vereinzelt hörte man Centurionen ihre Befehle brüllen oder die genagelten Sohlen der Wachmannschaften durch die Gassen hallen. Auch im Praetorium hatte sich mittlerweile das sonst so geschäftige Treiben der Hausangestellten und Sklaven gelegt. Sie alle wussten, dass es der Hausherr vorzog nach einem langen Tag im Dienst in Ruhe gelassen zu werden. Man hatte wie immer in seinem Officium die Kohlebecken noch einmal angeheizt, ein paar Öllampen und Kerzen aufgestellt und eine Amphore mit heißem Honigwein samt dazugehörenden Becher auf dem Arbeitstisch des Legaten platziert. Ein Getränk das er zu dieser Jahreszeit nicht mehr missen wollte und das ihm, zumindest war er selbst davon fest überzeugt, in späterer Folge auch beim Einschlafen half.
Livianus saß hinter seinem Schreibtisch und studierte gerade noch einmal das letzte Schreiben seines Bruders Mattiacus und die Abschrift eines Actaberichtes über seine Verhandlung in Rom. Immer noch machte er sich oft Gedanken über diese Sache und versuchte mögliche Schüsse daraus zu ziehen, die ihm irgendwie weiterhelfen konnten. Auf sein Schreiben an den Kaiser hatte er ebenfalls noch keine Antwort erhalten. Keine Reaktion, keine Erklärung, nicht einmal die Bestätigung des Empfangs. Wer wusste schon, ob sein Schreiben überhaupt beim Kaiser angekommen war. Vielleicht lag es bei irgendeinem Schreiber auf dem Tisch oder, was viel wahrscheinlicher war, dieser Vescularier hatte es abfangen lassen. In letzterem Fall konnte Livianus davon ausgehen, dass der Einspruch keine Chance auf Erfolg hatte. Doch einen Vorteil hatte die ganze Angelegenheit letztendlich aus Sicht des Decimers doch gebracht, auch wenn bestimmt sein guter Ruf dabei Schaden genommen hatte – er wusste nun, wer die Verbündeten des Praefectus Urbi waren und wer zur Rechenschaft gezogen werden musste, wenn die Zeit reif dafür war. Bei diesem Gedanken griff Livianus instinktiv zu einer Schublade seines Schreibtisches und öffnete sie. Unter einigen Dokumenten und Berichten zog er ein Stück zusammengefalteten Papyrus heraus und legte ihn vor sich auf den Tisch. Dann schloss er die Lade wieder und schenkte sich ein wenig Honigwein nach, ehe er den Papyrus entfaltete. Es kamen einige Namen zum Vorschein, die Livianus selbst darauf notiert hatte
Potitus Vescularius Salinator
Faustus Octavius Macer
Kaeso Annaeus Modestus
Manius Tiberius Durus
Manius Flavius Gracchus
Der Senator hatte versucht darauf festzuhalten, welche Personen aus seiner Sicht bereits auf Salinators Lohnliste standen. Und sie bot weiteren Platz, da er davon ausging, dass noch einige hinzukommen würden. Hier in Germanien erreichten ihn Informationen aus Rom nur sehr spärlich, wenn überhaupt. Doch die welche er erhielt, versuchte Livianus minutiös zu einem großen Gesamtbild zu formen. Er war nie ein großer Politiker gewesen, dessen war sich der Decimer bewusst. Daher hatte er auch nicht die Erfahrung im Umgang mit Intrige und Verleumdung, wie es in Rom mittlerweile Gang und Gebe war. Doch er war sich sicher, dass dieser Salinator etwas im Schilde führte – etwas Großes. Er war bereit sich diesen Mann und seinen Speichelleckern in den Weg zu stellen - sein Blick viel dabei auf die Liste vor ihm - ganz gleich wie viele noch hinzukommen würden und ganz gleich wie die Konsequenzen waren. Das er auf einem einsamen Posten damit stand, war ihm klar. Seine Vertrauten, die ebenso von Anfang an die Beweggründe des Vesculariers in Frage gestellt hatten, waren mittlerweile unauffindbar. Von Aelius Quarto hatte er seit seiner Abreise nach Germanien nichts mehr gehört. Er schien wie vom Erdboden verschluckt, ebenso wie sein Freund und Waffenbruder Ceacilius Crassus, der ebenfalls auf ihrer Seite gestanden war. Und Prudentius Balbus, der derzeitige Praefectus Praetorio und so wie Livianus Klient des Quarto, war nach Angaben Salinators auf einer geheimen Mission, von der allem Anschein nach niemand außer der Vescularier wusste. Und der Kaiser? Niemand wusste ob er überhaupt noch lebte. Keiner wurde vorgelassen. Es gab auch keine schriftlichen Lebenszeichen, von denen Livianus erfahren hätte. Es waren keine guten Zeiten auf die Rom hinsteuerte, das war klar.
Livianus faltete die Liste wieder zusammen und legte sie zurück in die Lade. Hier in Germanien konnte er nicht viel tun, nicht direkt in das Geschehen eingreifen. Doch es hatte auch seine Vorteile in dieser Provinz zu sein. Er hatte hier eine Vielzahl an stationierten Legionen und er war lange genug Militär und Senator, dass er die meisten der befehlshabenden Legaten kannte, viele von ihnen sogar sehr gut. Außerdem konnte man ihm hier nicht zu genau auf die Finger sehen. Germanien war weit außerhalb von Salinators Einflussbereich und Vinicius Hungaricus zählte Livianus bestimmt nicht zu Salinators Speichellecker. Der Consular und ehemalige Praefectus Praetorio hatte es gewiss nicht nötig auf Salinators Wohlwollen angewiesen zu sein, anders als die anderen Senatoren, die sich bereits auf Livianus Liste befanden. Und zu guter Letzt lag Germanien direkt an Italia. Sollte Salinator tatsächlich das Unvorstellbare planen, und derzeit deutete alles darauf hin, so stand Livianus bereit. Es war Zeit den ersten Stein ins Rollen zu bringen.