Die vielen Tage, die ihre Flucht nun schon andauerte zehrten sehr an Livianus verbliebener Kraft. Auch wenn sich seine Befreier jede nur erdenkliche Mühe gaben, auf den Senator Rücksicht zu nehmen und ihn vorrangig mit Essen und Wasser zu versorgen, so brachte dies keinerlei Ausgleich zu den Energien, die er Tag für Tag aufbringen musste, um mit den weitestgehend gesunden und durchtrainierten Männern mitzuhalten.
Die Zeiten, in denen sich die Gejagten ausruhten, nutzte Livianus wenn er nicht schlief für ausführliche Gespräche mit seinem Bruder Magnus. Er hatte viel zu Berichten, aber auch eine Menge Fragen, die ihm den ganzen Zeitraum seiner Gefangenschaft über beschäftigt hatten. Sein Bruder berichtete ihm vom Ausgang des Feldzuges, von der Verwundung des Kaisers und seinem schlussendlichen Tod. Vom Rückzug der Truppen unter seinem früheren Stellvertreter Vitamalacus und von der Ausrufung des neuen Kaisers Gaius Ulpius Aelianus Valerianus in Rom. Es waren viele Informationen, die Livianus in den letzten Tagen verarbeiten musste, doch gaben sie ihm auch über viele Vermutungen und offenen Fragen Gewissheit. So wusste er nun, warum er so lange auf seine Befreiung warten musste, warum keine Legionen bereit standen, um den Männern bei ihrer Flucht zu helfen, oder er die lange Zeit vergeblich auf die militärische Einnahme seines Gefängnisses wartete. Es gab weder diplomatische Verhandlungen noch Versuche des neuen Kaisers oder des Senats, ihn, einen römischen Senator, einem Feldherrn Roms, der in Ausübung seiner Pflicht in Gefangenschaft geriet, aus seiner Lage zu Befreien und zurück nach Hause zu holen. Magnus konnte nicht wissen, dass, während er sich auf eigene Faust aufgemacht hatte um seinen Bruder zu befreien, auch in Rom reagiert wurde und der Senat und der Kaiser selbst eine Delegation mit Verhandlungsrechten ausgestattet und nach Parthia entsandt hatte. Die Befreiungsaktion seines Bruders war einfach schneller und erfolgreicher gewesen. Dennoch verbitterte es den früheren Legaten ziemlich, dass er nun vorerst mit dem Gefühl leben musste, Rom hätte nach all seinen langen Jahren treuen Dienstes und der Absoluten Hingabe für Kaiser und Volk einfach auf ihn vergessen und ihn als entbehrliches Opfer abgeschrieben. Doch Magnus erzählte auch viele andere Dinge, die Livianus nach all dieser Zeit ein jedes Mal mit großer Unersättlichkeit in sich aufnahm. Vor allem die familiären und privaten Geschichten, über die Familie, über Magnus Abschied als Praefectus der Ala und seinem Zusammenleben mit seiner Frau Venusia, die er für die Befreiungsaktion seines Bruders vollkommen im Ungewissen zurückgelassen hatte. Livianus hatte ihnen allen so vieles zu verdanken – allen voran seinem Bruder und dem früheren Tribunen Subdolus. Soweit es ihm möglich war erzählte er auch manches Mal von seinen Erlebnissen bei den Parthern, von seinen Begegnungen mit dem Schar in Schar und von der Folter, die er unzählige Male ertragen musste. Zu letzterem Schwieg er jedoch meistens und verlor nur wenige Worte.
Sie nutzten gerade wieder einige schattenspendende Palmen und machten eine Pause, als sich Subdolus, der Livianus bisher eher wortkarg erschien, plötzlich erhob und den Senator ansprach. Die unbestrittenen Tatsachen die er zuerst unbeschönt Ansprach überraschten Livianus zwar, erschütterten ihn jedoch nicht mehr sonderlich. Auch er hatte unzählige Stunden damit verbracht darüber nachzudenken und sich Vorwürfe zu machen. Er war dem Veteranen daher auch ausgesprochen Dankbar, als dieser anstatt auf eine Antwort zu warten, sofort auf das nächste Thema wechselte. Livianus hätte ohnehin nicht gewusst, was er darauf antworten sollte. War er es denn wirklich Wert, dass Menschen für ihn in den Tod gingen? Als Feldherr in einer Schlacht, als Legat an der Spitze seiner Legion, da verkörperte er Rom, da vertrat er den Kaiser und den Senat. Die Soldaten die für ihn in einer Schlacht ihr Leben hingaben, taten dies nicht für den Mann Decimus Livianus, sondern für ihren Glauben an Rom. Doch diese kleine Gruppe, die sein Bruder um sich geschart hatte, war nicht nach Parthia gekommen um nach dem Senator oder dem Feldherren zu suchen. Jeglicher Stand, jegliche Stellung waren nicht der Grund für das Handeln seiner Befreier. Sie waren wegen Livianus gekommen – und zum ersten Mal in seinen Leben konnte er keine große Berufung und ein gemeinsames Ziel für Volk und Kaiser vor seine Verantwortung schieben. Jeder Mann der hier sein Leben gelassen hatte, war für ihn gestorben.
Doch auch das nächste Thema brachte nicht unbedingt die gewünschte positive Richtung mit sich. Auch wenn sein Körper stark geschwächt war, so hatten die vielen Gespräche der letzten Tage seinen Geist wieder hell wach werden lassen. Ohne lange zu überlegen und sich in ihre missliche Lage zu versetzen, die eine solche Ausnahme zweifellos rechtfertigen konnte, erwiderte der Senator daher entrüstet.
"Nach Alexandria? Unmöglich! Ich bin immer noch ein Senator Roms und eine Einreise ohne die Erlaubnis des Kaisers ist Hochverrat."
Mit dem verschiedenen Iulianus, der sein Patron war, hätte Livianus so etwas ihm nachhinein bestimmt zweifellos klären können, doch über seinen Adoptivsohn und Nachfolger wusste er kaum etwas. Allein das er sich in dem Glauben befand, der neue Kaiser hätte nichts für seine Befreiung unternommen, löste in ihm ein Unbehagen aus und ließ ihm dadurch auch äußerst vorsichtig sein. Vielleicht war es manche Strömungen in Rom sogar äußerst gelegen gekommen, dass er so kurz vor dem Tod des alten Kaisers von der Bildfläche verschwunden war. Als zweiter Mann an Iulianus Seite, wäre er nach dessen Tod zum Oberkommandanten aller in Parthia stationierten Truppen geworden und hätte einen vermeintlichen Thronfolger dadurch auf die eine oder andere Art auch ziemlich in Bedrängnis bringen können.