In diesem dunklen und kalten Loch hatte Livianus jegliches Gefühl für Zeit verloren. Wie viel Zeit war seit seiner Gefangennahme vergangen? Wochen? Monate? Er wusste es nicht. Wie ein verwundetes und verängstigtes Tier kauerte auf dem Strohhaufen in der dunkelsten Ecke seiner Zelle, der ihm auch als Schlafplatz diente. Nur selten entfernte er sich von dieser Stelle und starrte die meiste Zeit, in der er nicht schlief, auf den hellen schmalen Lichtkegel in der Mitte des Raumes, der durch eine kleine Öffnung knapp unter der Decke herein viel und die einzige Lichtquelle in seiner Zelle war. Langsam strich seine Hand über die nur notdürftig verarzteten und teilweise bereits vernarbten Wunden, die sich überall auf seinem Körper abzeichneten. Zu den alten Kriegsnarben, waren viele neue und teilweise noch nicht verheilte Wunden hinzugekommen. Er hatte unendlich viel Qualen und Leid ertragen müssen, seit er in dieses Gefängnis gebracht worden war. Und diese trügerische Stille hier. Sie brachte ihm um den Verstand! Oft drang tagelang kein menschliches Wort an sein Ohr und er hörte lediglich hin und wieder leise Schritte am Gang. Ein Zeichen dafür, dass sein Essen gebracht wurde oder eine der Wachen ihren Rundgang absolvierte. An manchen Tagen waren die Schritte lauter, es öffnete sich plötzlich und ohne Vorwarnung die Türe zu seiner Zelle und mehrere Männer drängten in den kleinen Raum. Livianus wusste nur zu gut was es damit auf sich hatte und was dann passierte. Anfangs erschrak er noch wenn die massive Holztüre aufsprang und mit einem lauten Knall an die Wand krachte, er versuchte sich bei den ersten zwei, drei Malen sogar zu wehren, doch das alles hatte keinen Zweck. Irgendwann ergab er sich seinen Peinigern und ließ das Martyrium einfach über sich ergehen. Es waren seine Gefängniswärter, die mit Fäusten, Fußtritten und Stöcken auf ihn einprügelten. Sie fügten dem römischen Senator und Feldherren mit großer Freude Verletzungen zu, prügelten bis zur Bewusstlosigkeit auf ihn ein und ließen ihm danach von einem Arzt, dessen Methoden eher einem Fleischer ähnelten, wieder notdürftig zusammenflicken, um ihn Tage später erneut zu ihrer allgemeinen Belustigung zu schlagen und zu demütigen.
Er hörte Schritte am Gang und merkte wie sein hungriger Magen knurrte. Das musste das Essen sein. Diese Schritte waren leise, ohne militärischen Takt und ohne Klimpern diverser Rüstungsteile. Er hoffte zumindest das er Recht hatte. Die Mahlzeiten kamen zweimal am Tag und waren irgendwo zwischen undefinierbar und ungenießbar. Doch der Hunger und sein Selbsterhaltungstrieb waren noch stärker und ließen Livianus jede Schüssel bis auf den letzten Tropfen ausschlecken. Manchmal gab es auch den ganzen Tag überhaupt nichts. Er wusste nicht, ob die Wachen absichtlich auf ihn vergaßen, oder ob es ihnen einfach nur schlichtweg egal war das er hungerte. An den Hunger hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Doch heute kam er ihm das unangenehme Gefühl stärker vor als sonst. Bei der Türe rührte sich etwas und er sah verschrocken auf. Eine kleine, mit einer Holzplatte verschlossene Öffnung am unteren Ende der Türe öffnete sich und eine Schüssel wurde schwungvoll durchgeschoben. Dabei schwappte gut die Hälfte des Inhalts auf den dreckigen und verstaubten Zellenboden. Danach schloss sich die Klappe wieder und die Schritte entfernten sich. Livianus rappelte sich auf und kroch auf allen Vieren zu der Schüssel. Eine undefinierbare Brühe mit einigen Stücken Fleisch war zu erkennen. Der Decimer überlegte nicht lange sondern schnappte die Schüssel und schlang seine Mahlzeit so schnell er konnte hinunter. Seine Finger fuhren immer wieder in die Holzschüssel und schoben den Inhalt gierig in seinem Mund. Auch den letzte Rest kratzte sich Livianus zusammen und zwang ihn sich hinunter. Danach versuchte er auch das Verschüttete mit den Fingern so gut es ging aufzuheben und zu verzehren. Das ganze dauerte nur wenige Momente so gierig verschlang er seine Mahlzeit. Er stellte die Schüssel direkt an die verschlossene Türöffnung zurück und kroch wieder an seinen Schlafplatz. Sein Blick senkte sich und seine Augen starrten erneut auf den hellen Punkt, der sich am unteren Ende des Lichtkegels direkt auf den Zellenboden abzeichnete.
Wie lange würde er diese Qualen noch über sich ergehen lassen müssen? Wo war sein Kaiser? Wo waren seine Legionen? Warum hatte der Feldzug dieses Gefängnis noch nicht erreicht? Warum hatten seine Männer ihn noch nicht befreit oder der Kaiser von den besiegten Parthern seine Freilassung erzwungen? Er erinnerte sich die Begegnung mit dem Shah in Shah, konnte aber nicht sagen, wie lange sie bereits zurück lag. Hatte er dabei nicht einige Wörter aufgeschnappt, die aussagten, dass sich die Legionen zurückgezogen hatten? Nein! Das konnte unmöglich sein! Sie waren bei seiner Gefangenname noch im Vorteil gewesen. Der Feldzug lief wie geplant und Iulianus würde sich keinesfalls zurückziehen oder von einem Rückschlag abhalten lassen, seine sich gesteckten Ziele auch weiterhin zu verfolgen. Und diese waren klar und deutlich gewesen – die Eroberung Parthias. Kein Zurück ehe der Sieg über diesen unterlegenen Gegner nicht bedingungslos errungen war. Doch plötzlich kam Angst in Livianus auf. Was wenn es wirklich der Wahrheit entsprach, was er gehört hatte? Was wenn sich der Kaiser und die Legionen zurückgezogen und ihn hier in der Hand des Feindes zurückgelassen hatten? Konnte es denn sein? Nein! Undenkbar! Seine Legionen, seine Offiziere, seine getreuen Soldaten, sein Kaiser, dem er jahrelang Treu und mit unbändiger Hingabe gedient hatte – sie würden ihren Feldherren nicht aufgeben oder gar im Feindesland zurücklassen. Das sah einem stolzen Soldaten nicht ähnlich. Das sah einem Römer nicht ähnlich! Sie würden bestimmt bereits einen Angriff zu seiner Rettung planen und vorbereiten. Es konnte sich nur noch um Tage handeln, dann war er frei. Sie würden ihm bestimmt nicht aufgeben – so wie er sich selbst nicht aufgab.