Wie erwartet hatte ihre Geschichte genau die Wirkung erzielt, wie sie es bei den meisten anderen Menschen tat, die sie bereits gehört hatten. Und Domitilla selbst war heute noch, fünf Jahre nach diesem schrecklichen Erlebnis, ganz davon ergriffen und konnte ihr Glück, welches ihr damals widerfahren war, selbst kaum glauben. Der Tiberius hatte ganz recht. Es war der Wille der Götter gewesen, ausgerechnet sie am Leben zu lassen. Aber was noch viel wichtiger für die Flavia war, die Götter hatten sie auch vor jener Ehe bewahrt, die ihr Vater seinerzeit arrangiert hatte. Allerdings erwähnte sie diesen Aspekt mit keinem Wort vor dem tiberischen Gast, was wohl durchaus darauf zurückzuführen war, da sie Lepidus erst wenige Minuten kannte.
Der Tiberius indes war dem ersten Eindruck treu geblieben, den er bei Domitilla erzielt hatte. Bislang hatte er sich als der perfekte Römer schlechthin hervorgetan, der die Tugenden wahrhaftig lebte und der, wie sollte es auch sein, ein versierter Vertreter seines Metiers war. Doch was sich wirklich unter seiner Fassade verbarg, konnte wohl nur er selbst beantworten. Auf Domitilla wirkte er aberweiterhin recht kühl und unerreichbar, auch wenn er sich die größte Mühe gab, freundlich und interessiert zu wirken. Und dennoch gefiel es ihr, als er damit begann, ihre Geschichte zu analysieren und seine Schlüsse daraus zu ziehen.
„Ich kann dir versichern Tiberius, dass selbst ich mich heute noch frage, warum die Unsterblichen mich damals als einzige erretteten und nicht auch meine Sklaven…“ …und - aber das hatte sie bisher noch niemand anvertraut - weshalb die Götter ihr Laenas geschickt, der junge Mann, der sie damals gerettet hatte. Ihr Retter, für den sie einst tiefe und aufrichtige Gefühle gehegt hatte, war längst aus Domitilla Leben verbannt worden. Ein einfacher Hirte und eine Patrizierin, das passte einfach nicht zusammen! Doch manchmal, wenn sie sich ganz für sich allein wähnte, waren ihre Gedanken wieder bei ihm. Dann hasste sie sich dafür, was sie ihm angetan hatte.
In der Tat gab der Tiberius ihr neue Denkanstöße, um das Erlebte aus einer völlig neuen Sichtweise zu sehen, um so vielleicht eines Tages endlich eine Antwort auf das Warum zu finden. Dies empfand sie als sehr bemerkenswert und so war es nur selbstverständlich, dass sie auf Lepidus´ Angebot eingehen wollte. „Oh ja, das sollten wir wirklich! Vielleicht ergibt sich ja bereits in naher Zukunft eine Gelegenheit…“ , entgegnete sie ihm mit einem Lächeln voller Vorfreude. Vielleicht begegnete man sich ja in einem der Tempel oder unterwegs in der Stadt… oder vielleicht ließ sich auch etwas arrangieren…
Doch nun war es erst einmal an der Zeit, einige der Köstlichkeiten zu probieren. Dem tiberischen Gast mundeten ganz offenbar die leckeren Bissen. Ihr Neffe hatte also auch in dieser Hinsicht alles richtig gemacht. Während sie sich diesmal für ein Häppchen vom Siebenschläfer entschied, lenkte Lepidus das Gespräch in andere Richtung. Ihr Blick ging zu ihrem Verwandten, der gerade eben erst zu den Feierlichkeiten dazu gestoßen war und es sich nun auf einer der Klinen bequem machte. Furianus wirkte alt und gebrechlich. Die wirren Zeiten während des Bürgerkrieges hatten wohl zusätzlich an seiner Gesundheit genagt. Doch auch wenn nun das Leben wieder in seinen normalen Bahnen verlief wurde er dadurch nicht mehr jünger. „Ja, das ist er,“ antwortete Domitilla in einer angemessenen Lautstärke. „Nun ja, er ist nicht mehr der Jüngste… So viel mir bekannt ist, leidet er an einer Lungenkrankheit… wenn du möchtest, kann ich dich gerne vorstellen.“ Für einen jungen aufstrebenden Mann wie den Tiberius war es mit Sicherheit eine willkommene Gelegenheit, mit einer großen Persönlichkeit wie Flavius Furianus zusammenzutreffen. Natürlich ahnte sie nichts von den wahren Beweggründen des Tiberius, sonst hätte sie sich gewiss verschwiegener gegeben.