Er nahm ihr Amulett wieder an sich und ließ es an seinem Hals unter seiner Tunika verschwinden. Dann küsste er sie zum Abschied. Seine zärtlichen Berührungen würde sie wohl am meisten vermissen.
„Ja, Glück.. das wünsche ich dir sehr!“ Glück war in ihrem Leben bisher ein seltenes Gut, mit dem die Götter bisher recht sparsam umgegangen waren. Warum sollten sie sie also diesmal damit überhäufen? Doch ihre Gedanken behielt Beroe für sich. Avianus stand sehr unter Druck und den wollte sie nicht noch unnötig verstärken.
„Ich habe alles, ja.“ Sie nickte und wies auf ihren Geldbeutel, der unter ihrer Tunika steckte und in dem sich ihre Tageseinnahmen befanden. Damit konnte sie sogar einige Tage über die Runden kommen. Sie versuchte zu lächeln. Selbst jetzt, nachdem sie ihn doch so verletzt hatte, sorgte er sich so rührend um sie und wenn seine Bemühungen scheitern sollten, würde sie es ihm mit einer weiteren Kränkung am nächsten Abend danken.
„Dann bis morgen Abend. Ich werde hier sein und auf dich warten. Du hast mein Versprechen!“, sagte sie schließlich und sah ihm noch nach, als Avianus ging.
Beroe blieb sie am Ufer des Teiches zurück, zog ihren Umhang enger um sich und starrte in die Dunkelheit. Sie fand nicht den Mut hinunter in die Stadt zurückzugehen, um dort einen Platz zum Schlafen zu suchen, nicht nachdem, was heute Abend geschehen war.
Sie machte ein paar Schritte, auf eine Baumgruppe zu und setzte sich dort ins Gras. Hier, so fand sie, war ein guter Platz, um im Schutz der Bäume wenigstens etwas Ruhe zu finden. Sie blickte hinauf zum Himmel, der in dieser Nacht so klar war, dass man hunderttausende von Sternen sehen konnte. Einen Moment dachte sie an die Geschichten, die ihr ihr Vater vor so vielen Jahren erzählt hatte. Geschichten von Helden und wilden Kreaturen, die man am Abend am Firmament wiederentdecken konnte. Es waren kostbare Augenblicke gewesen, denn dass der Vater mit ihr etwas Zeit verbringen konnte, war nur sehr selten vorgekommen.
Ihre Augen wurden langsam müde, sie sank langsam auf den Boden und schlief dort ein…
„Vor langer Zeit hatte sich einst Zeus in die schöne Alkmene verliebt. Aus dieser Verbindung ging Herakles hervor, der tapferste und größte Held, den Achaia je gesehen hatte. Damit auch dieser die göttlichen Kräfte seines Vaters erhielt,ließ Zeus seinen Sohn an der Brust seine schlafenden Gattin Hera trinken. Doch der Junge trank so heftig, so dass Hera erwachte und den fremden Säugling von sich stieß. Dabei wurde auch ein Strahl ihrer Milch über den Himmel gespritzt und daraus entstand dann die Milchstraße…“
Das kleine schwarzhaarige Mädchen hatte ihrem Vater andächtig zugehört. Es liebte diese Momente, wenn ihr Vater sich zu ihr setzte, um mit ihr zu spielen oder ihr eine Geschichte zu erzählen. Von seiner letzten Reise hatte er ihr eine Puppe mitgebracht, die nun ihr allerliebstes Spielzeug geworden war…
...Vor ihr tauchte ein warmes Licht auf. An aufwändig bemalten Wänden schritt sie vorbei als sie schließlich einen hellen Raum betrat. Diese Umgebung kam ihr seltsam vertraut vor und dennoch hätte sie nicht sagen können, wo sie war. Schnell hatte ihr Blick den kleinen am Boden kauernden Kinderkörper entdeckt. Ein kleines schwarzhaariges Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, welches in eine hübsche und aufwändig verzierte Tunika gekleidet war. Ganz vertieft in ihr Spiel saß sie dort mit ihrer Puppe und summte eine wohlvertraute Melodie eines Kinderliedes, welches ihre Mutter ihr einst vorzusingen pflegte. Doch irgendwann musste das Mädchen wohl bemerkt haben, dass es nicht allein war. Es sah auf und drehte sich zu der Frau um, die dort an der Tür stand und es aufmerksam beobachtete.
„Hallo!“, begrüßte sie die Fremde fröhlich. „Schau mal, meine neue Puppe! Die hat mir mein Papa mitgebracht.“ Das kleine Mädchen streckte der Frau voller Stolz ihr neues Spielzeug entgegen.
„Mein Papa hat gesagt, die Puppe kommt von weit her nur um..“ „...bei dir zu sein und ihre Kleider sind aus Seide.“, ergänzte die Frau, während das Mädchen, ganz verliebt in seine Puppe, zustimmend nickte. „Ich hatte früher auch einmal eine solche Puppe,“ erklärte sie dem Kind, welches sich ihr nun ganz zugewandt hatte. „Und wo ist deine Puppe jetzt?“, frage das Kind. Die Frau antwortete nicht gleich, es schien, als suche sie nach einer Antwort. „Ich habe sie leider verloren,“ entgegnete sie schließlich. „Ach, das ist aber Schade!“, meinte die Kleine. „Ja, das ist es…“
Die Frau trat einige Schritte näher und setzte sich zu dem Mädchen. Eine Weile beobachtete sie sie nur, doch dann begann sie zusammen mit dem Mädchen zu spielen.
„Stell dir vor, mein Papa hat mir versprochen, er nimmt mich auf seiner nächsten Reise mit. Dann fahren wir zusammen auf einem Schiff nach Rhodos zu meiner Tante.“, erzählte das Mädchen, während es immer noch mit seiner Puppe spielte. Die Frau hielt inne und riss vor Schreck ihre Augen auf.
„Geh nicht auf dieses Schiff, Sibel! Hörst du? Du darfst nicht auf dieses Schiff gehen! Bitte Sibel, geh nicht…!“ Je weiter die Frau auf aus Kind einredete, umso schneller löste es sich buchstäblich vor ihr auf, bis sie schließlich alleine in dem hellen Raum saß, der allmählich seine schöne warmen Farben vorlor, bis nur noch ein hässliches Dunkelgrau übriggeblieben war….
„Geh nicht! … Da darfst nicht… nicht auf dieses Schiff!“ Endlich erwachte Beroe aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie spürte etwas Feuchtes auf ihrem Gesicht. Einzelne Regentropfen, die durch die Blätter des Baumes auf ihrem Gesicht gelandet waren. Es hatte angefangen, zu regnen.
Sie zog ihren Umhang noch enger um sich und verkroch sie noch dichter unter die Bäume, um sich so besser vor der Nässe schützen zu können. So verharrte sie den Rest der Nacht und als der Tag anbrach versteckte sie sich in einem Gebüsch, damit niemand, der durch den Park spazierte, sie sah. Erst als es Abend wurde, kam sie zu dem kleinen Teich zurück, dorthin wo sie Avianus erwartete.
Sie musste sicher erschreckend aussehen. Ihre Tunika und der Umhang waren von der aufgeweichten Erde schmutzig geworden, das Haar war wirr und die Ringe unter ihren augen kündeten von einer sehr kurzen Nacht und vielen Tränen.Sie hatte kaum etwas gegessen, nur das, was sie im Park gefunden hatte, ein paar Nüsse von einem Baum und ein angebissenes Brot, welches ein Passant achtlos weggeworfen hatte.