Was hielt Sibel eigentlich davon ab, Avianus endlich reinen Wein einzuschenken? War es ihre übertriebene Angst, er könne sich vielleicht ganz anders verhalten, als sie es sich vorgestellt hatte? Oder etwa dass er ihr Vorwürfe machen würde? Ganz gleich was es auch war, Sibel wusste, dass das, was da gerade mit ihr geschah, große Veränderungen in ihrem Leben herbeiführen würde. Es würde alles auf einmal umkrempeln. Nichts wäre mehr so, wie es einmal war. Je länger sie damit wartete, ihn mit einzubeziehen, umso unaufschiebbarer wurde es.
Es war auch töricht zu glauben, er hätte von alldem nichts bemerkt. Natürlich hatte er das! Wahrscheinlich ahnte er sogar schon etwas. Doch bisher hatte er nur noch nicht seine Vermutungen ausgesprochen. Je mehr sie aber seine Erkundigungen über ihren Zustand abblockte und als unwichtig abtat, umso mehr erregte sie sein Interesse danmit. Doch dass er ständig um ihr Wohl besorgt war, zeigte ihr auch, wie wichtig sie für ihn war.
„Solange du bei mir bist fehlt es mir an nichts, Liebster,“ antwortete sie ihm lächelnd und drückte ihm verstohlen einen Kuss auf seine Backe.
Die Frage, was ihr denn noch gefallen könnte, war schwierig zu beantworten. Denn sie hatte ja keine Ahnung, was die Welt der Literatur noch alles für sie bereithielt. Nicht einmal mit den einzelnen Gattungen kannte sie sich gut genug aus und insgeheim schämte sie sich für ihre Unwissenheit. Wieder tauchten ihre Zweifel am Horizont auf, doch nicht gut genug für ihn zu sein. Einer anderen Frau, einer Römerin, hatte er nicht erst noch das Lesen beibringen müssen. Mit ihr hätte er sich gleich über Literatur unterhalten können.
„Ja, Gedichte vielleicht,“ sagte sie endlich, um wenigstens etwas gesagt zu haben. Er hatte sie heute extra hierher begleitet und sie glänzte mit ihrem Unvermögen.
Dann endlich fasste sie den Mut und griff mit äußerster Vorsicht auch nach einer der Schriftrollen, die in den Körben aufbewahrt wurden. Während sie noch nach einer Beschriftung oder einem Etikett suchte, auf dem zu lesen war, was diese Rolle beinhaltete, begann Avianus laut vorzulesen. Sie scha zu ihm auf und ließ die Rolle in ihrer Hand sinken.
„Das ist schön!“, meinte sie. „Wer ist diese Cynthia und was hat sie gemacht?“
Als die schlürfenden Schritte des alten Buchhändlers dessen Rückkehr ankündigten und er schließlich schon in Sichtweite war, legte sie peinlich berührt wieder die Schriftrolle zurück, ohne erfahren zu haben, was sie nun beinhaltet hatte. Der Alte reichte ihr eine andere Rolle. Zweifellos mussten das Phaedrus‘ Fabeln sein. Er nannte den Preis – zwölf Sesterzen. Das war viel Geld, zumindest für denjenigen, der nicht in Geld schwamm. Ohne zu zögern zahlte Avianus den Betrag und bat darum, sich noch weiter umsehen zu können. Sibel indes wagte es nun, einen Blick in ihr neues Buch zu werfen.