Schon von jeher herrschte tief im Inneren Sibels die Angst vor dem Verlust, die bereits in ihren Kindheitserlebnissen begründet war. Schon von klein auf hatte sie zuerst mit dem Verlust der Mutter, dann mit dem Verlust des Vaters und nicht zuletzt mit dem ihrer eigenen Freiheit zurechtkommen müssen. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie plötzlich auf sich allein gestellt war, in einer fremden Umgebung, ungeliebt und mit fremden Menschen, die ihr das Recht abgesprochen hatten, ein freier Mensch zu sein und sie stattdessen zu einem Möbelstück degradiert hatten. Von da an hatte sie stets in Angst gelebt. Angst vor Bestrafung, Angst, etwas falsch zu machen oder auch einfach nur zur falschen Zeit am falschen Platz zu sein.
„Du weißt nicht, wie es ist, alles zu verlieren. und wenn ich alles sage, dann meine ich auch wirklich alles. Du weißt nicht, wie es ist, niemanden zu haben, der dich liebt und auffängt, wenn du einmal stolpern solltest oder der dich vor allem Unheil beschützt. Du hast deine Familie, die dir Halt gibt und die dich immer wieder auffängt. Du hast niemals erlebt, wie es ist, wirklich unfrei zu sein. Die Zeit deiner Gefangenschaft während des Bürgerkrieges war nur eine kleiner Klax im Vergleich zu dem, was ich erlebt habe. Doch wenigstens konntest du dabei ein kleinwenig erahnen, wie es ist. Ich kann nichts dafür, wie ich bin und wie ich fühle und wie ich handle. Man hat mich dazu gemacht, ständig in Angst zu leben. Angst, noch einmal das Liebste und Wertvollste zu verlieren.“ Hatte sie ihm das nicht schon einmal erklärt? Konnte er sich nicht einen Moment lang in sie hineinversetzen? Einmal nur fühlen, wie sie fühlte? Fast ihr ganzes Leben war von Verzicht und Gleichgültigkeit ihr gegenüber geprägt. Nachdem er in ihr Leben getreten war, hatte sie zum ersten Mal nach sehr langer Zeit wieder das Gefühl, endlich wieder ein Teil von etwas zu sein, geliebt und gebraucht zu werden und selbst wieder jemanden zu haben, der sie auffing, wenn sie einmal stolperte.
„Die Angst, dich nicht mehr lieben zu dürfen und wieder allein da zustehen, von niemandem geliebt oder beachtet zu werden, war so groß. So sollte es niemals mehr in meinem Leben werden. Diesmal wollte ich das nicht noch einmal zulassen. Verstehst du..?“ Avianus hatte immer nur einen Blick für das jetzt und hier. Natürlich tat er alles Erdenkliche, dass es ihr gut ging. Dafür war sie ihm auch unendlich dankbar. Und dennoch schwang bei allem ihre latente Furcht mit, ein zweites Mal den Halt in ihrem Leben zu verlieren. Ein gebranntes Kind scheute eben das Feuer!
Für sie klang es nun wie eine Drohung, dass sich etwas ändern müsse, da es nicht so bleiben konnte, wie es jetzt war. Aber was hätte sie denn machen sollen? Gerade nach solch schönen Tagen des Glücks, sah sie sich nun wieder direkt vor einem Abgrund stehen. Nein, Sibel war bei weitem kein einfaches Wesen. Wer sich auf sie einließ, brauchte viel Geduld mit ihr. Deshalb hätte sie es ihm nicht verdenken können, wenn für ihn nun dieser Punkt erreicht war, wo genug eben genug war.
„Es ging doch nicht um einen Augenblick! Nein, du sagtest auch nicht, dass du mich fortschicken wirst, aber es ist doch die logische Schlussfolgerung daraus. Wenn du und ich zusammenbleiben, dann verbaust du dir damit alles und deine Familie wird dich dafür verachten. Die Familie ist es, die dir Halt im Leben gibt. Wenn du sie verlierst, dann fällst du ins Unermessliche.“ Keiner konnte das so gut wie sie selbst nachvollziehen. „Und glaube mir, die Frage lautete nie, ob ich wirklich bei dir bleiben will. Wenn es etwas gibt auf der Welt, was ich mir am meisten wünsche, dann ist es das! Bei dir zu bleiben, egal wie. Auch wenn ich dich nur aus der Ferne sehen kann, aber ich weiß, dass ich noch dort drinnen bin,“ sie deutete auf sein Herz, „dann wäre ich schon glücklich.“