Merula hatte den Eindruck, dass, egal was er sagte, jeder Satz bei seinem Bruder tiefste emotionale Narben aufriss, welche er sich im Laufe seines Dienstes im Exercitus Romanus zugezogen haben musste. Diese Narben schienen wirklich frisch zu sein, jedenfalls sprachen seine Gestik und Mimik Bände. Seltsamerweise fing Aulus an, sich die Hände zu reiben und sie danach zu kontrollieren, was Merula schon etwas beunruhigte. Er konnte sie ja nicht ausmalen, was sein Bruder jenseits des Limes erlebt hatte. Das Bild, welches er von seinem Bruder aus jüngster Zeit hatte, entsprach hauptsächlich einem sehr sensiblen, teilweise vielleicht sogar träumerischen Mann. Diese Sensibilität, auch wenn sie in der ein oder anderen Reaktion noch ablesbar war, schien weit in den Hintergrund getreten zu sein oder nein.. . sensibel war er ja noch, aber diese Sensibilität schien immer mehr überschattet zu werden von Ereignissen, die er sich als Zivilist nicht im geringsten auszumalen vermochte. Ansprechen wollte der Jüngere den Älteren darauf nicht, nicht hier und heute jedenfalls. Es galt hier Dinge zu besprechen, die über ihrem eigenen Wohl standen, weshalb sich Merula auch genau darauf konzentrieren wollte, was ihm aber sichtlich leichter fiel, als seinem Bruder.
Aulus lobte ihn und bestärkte ihn in seinem Vorhaben, was ihn mit familiären Stolz erfüllte. Die Zustimmung seines Bruders war Merula als Jüngerer natürlich immens wichtig. Dass die Worte seines Bruders nicht dessen vollen Ernst implizierten, merkte er in diesem Moment nicht. Auch die Tränen, die sich scheinbar in seinen Augenwinkeln ansammelten, fasste er nicht als emotionalen Schub, sondern lediglich als Folge des Hustens auf. Als er sich wieder zu Merula gedreht hatte, legte er ihm seine Hand auf die rechte Schulter. "Ich danke dir, Bruder. Deine Unterstützung verleiht mir den Mut, mich jeder Herausforderung zu stellen, die mich in Rom erwarten möge." ach wie pathetisch diese Worte doch klangen und wie naiv seine Vorstellungen doch waren. Diese waren ob der versprochenen Unterstützung des aurelischen Senators sowie des Schreibens des duccischen Legaten nicht unberechtigt, allerdings ermöglichten beide ihm nur den Start in Rom. Alles was danach kommen würde, musste er sich hart erarbeiten – viele Steine waren aus dem Weg zu räumen, von denen der ein oder andere mit Sicherheit wieder zurückrollen würde. Bekannt war ihm die Geschichte des Sisyphos natürlich, hielt Diogenes ihm doch immer belehrende Vorträge darüber, allerdings sah er sich zu diesem Zeitpunkt noch weit entfernt von Sisyphos Schicksal.
Der Veracht bestätigte sich. Verus schien wahrlich nicht begeistert und von Ehre erfüllt zu sein, zu den Prätorianern berufen worden zu sein. Merula kommentierte das aber nicht weiter, lag es ihm doch fern die Gründe dafür zu entdecken. Sein Interesse lenkte er daher wieder auf den bevorstehenden Reiseweg, den die Gebrüder wohl zu zweit bestreiten würden. "Vortrefflich. Sobald dir deine Instruktionen offenbart wurden, kontaktiere mich bitte. Derweil erbitte ich Duccius Valas Unterstützung mit Lucias Hilfe. Ein Empfehlungsschreiben wird mir in Rom sicherlich dienlich sein." Zuletzt genannten hatte er noch gar nicht kennen gelernt, was die Bitte um ein Empfehlungsschreiben doch wie eine Farce erschienen ließ, auch wenn er mit dessen Gattin verwandt war.
Hellhörig wurde Merula dann, als sein Bruder von Dokumenten und Urkunden hinsichtlich des achaischen Familienbesitzes sprach. "Oh, wie erfreulich!" fuhr es zunächst euphorisch aus ihm heraus, wenngleich er etwas verwundert war, wieso sein Vater ihm nicht erzählt hatte, dass er seinem Bruder diese Zeugnisse hatte zukommen lassen. "Minerva scheint uns auch in den dunkelsten Stunden gewogen zu sein." Sein Bruder würde diese Aussage vermutlich erneut verteufeln, da er diesen Umstand als letztes auf Minervas Verantwortungskonto verbuchen würde. Für Merula war es allerdings auch weitgehend eine Floskel aus seinem Amt als Pontifex heraus, welches er seit der Abreise aus Achaia nicht mehr ausgeübt hatte. Dass nicht Minerva sondern das schicksalhafte Glück damit zu tun hatte, war ihm dem Jüngeren indes vollstens bewusst. "Damit sollte es uns leichter fallen, die Aufräumarbeiten zu finanzieren. Zudem helfen mir die Ländereien sicher, den Census zu erfüllen." Gemeint waren die Voraussetzungen für den Ordo Senatorius, was er seinem Bruder aber an dieser Stelle nicht weiter erläutern wollte. Ja, Merula hatte seine Hausaufgaben gemacht. Er hatte einen Plan, was er in der tiberianischen Nachfolge zu tun hatte, um seine Familie aus dem Schatten wieder ins Licht zu führen. Diogenes half ihm dabei ebenso mit seinem weitsichtigen Rat. Näheres würde er dann mit dem aurelischen Senator besprechen. Den Ordo zu erlangen, würde sicherlich kein Problem darstellen – da war Merula keinesfalls zu naiv –, allerdings lag die Schwierigkeit mehr darin, diesem nach der Verleihung gerecht zu werden, da man sonst schneller in Rom herabstürzen würde, als Ikarus, dem Sohn des Daidalos, der der Sonne zu nahe gekommen war. Irgendwie hatten die griechischen Mythen und Sagen doch etwas für sich, auch wenn sie aus Diogenes nach mehrmaliger Repetition ermüdend wirken konnten.
Da alles besprochen zu sein schien, leitete er langsam das Ende des Gespräches ein. "Aulus, nach unserem Gespräch ist meine Freude, die ich ob unsers Wiedersehens nach all den Jahren hegte, derartig gewachsen, wo ich uns auf dem baldigen gemeinsamen Weg nach Rom weiß, sodass meine Sorgen zu schwinden beginnen." Was so geschwollen klang – es lag einfach an den Umgangsformen, die ihm auf seiner Bildungsreise in Fleisch und Blut übergangen sind, da er stets bei hochrangigen Persönlichkeiten der Gesellschaft gastierte – meinte auf das Einfachste herunter gebrochen lediglich: "Es ist schön, dich endlich wieder zu sehen. So schnell wirst du mich nicht mehr los!" "Blut ist dicker als Wasser, Bruder." formulierte er dann pathetisch und hielt Aulus den Arm hin, um ihn brüderlich zu verabschieden.