"Ostia...wir erreichen Ostia!", hallte die eindringliche Stimme des Kapitäns über das Oberdeck. Es hatte Verzögerungen gegeben, die Überfahrt war beschwerlich gewesen und fast wären sie alle auf dem Meeresgrund verendet. Doch nun war der Hafen Italias in Sicht und wohl nicht einmal erzürnte Götter hätten die sichere Ankunft noch gefährden können. Von der freudigen Stimmung und dem Jubel der Passagiere auf dem Oberdeck bekam Titus allerdings nichts mit. Er hatte sich in ein dunkles Eck im Frachtraum zurückgezogen und zitterte noch immer am ganzen Leib. Er fühlte sich schwach, gedemütigt, einsam, im Stich gelassen...die Erinnerungen dieses unheilvollen und schmerzhaften Ereignisses trafen ihn bis ins Mark. Er wollte vergessen, akzeptieren, doch umso mehr er sich bemühte, umso bildhafter und präsenter wurden seine dunklen Gedanken. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was sollte er seinem Vater erzählen? Was hatte sein Vater überhaupt damit zu tun? Titus hatte keine Antworten. Doch was war überhaupt geschehen?
Es war ein sonniger und warmer Tag, als die corbita Messana erreicht hatte. Die Hafenstadt auf Sicilia war ein Umschlagplatz für viele Schiffsreisende, Händler und Kaufmänner, die ihren Weg aus den fernsten Provinzen nach Italia suchten. Titus hatte sich gut gefühlt. Endlich wieder unbekannte Gesichter, das geschäftige Treiben, Menschen, die sich vor Marktständen scharten - das blühende Leben. Nach der gefühlt endlosen Fahrt auf offener See war es befreiend, endlich wieder an Land zu gehen. Sie hatten Messana am Nachmittag erreicht und wollten am frühen Morgen des folgenden Tages die letzte Etappe nach Ostia antreten. Tagsüber hatte Titus am Leben der fremden Stadt teilgenommen, hatte sich auf den Märkten vergnügt und üppig gespeist. Nach Weizenbrot und Pökelfisch gleichte das frische Obst und der schmackhafte Speck einer kulinarischen Offenbarung. Vor Einbruch der Dunkelheit war Titus auf das Schiff zurückgekehrt. Er war satt und müde und wollte zum ersten Mal, seit er die corbita betreten hatte, zufrieden auf dem Stroh des Frachtraums einschlafen. Doch es kam alles anders.
Am Abend waren die warmen Sonnenstrahlen einem kalten Schauer gewichen. Dichter Nebel umhüllte den Hafen und begrenzte die Sichtweite auf wenige Fußlängen. Ein Zeichen der Götter, das zu deuten Titus nicht imstande gewesen war. Normalerweise verließ er bei solchen Witterungen niemals das Haus, geschweige denn ein Schiff. Doch er fand sich bereits mitten in Messana wieder, in irgendeiner Seitenstraße. Lasthenes hatte ihn überzeugt etwas zu erleben. Zusammen mit ihm und einigen grölenden Männern war er durch die verregneten Gassen gezogen, bevor sich alle für ein Etablissement entschieden hatten. Titus wollte ihnen beweisen, dass er kein Schlappschwanz war. Für sie war er der kränkliche Junge, der sich bereits auf dem Oberdeck übergeben hatte, bevor das Schiff überhaupt in See gestochen war. Aber er war kein Schwächling.
"Na Junge, noch nie gevögelt oder was?", hatte ihm der Dicke mit schallendem Gelächter entgegengeworfen, als Titus wie verwurzelt vor dem Eingang des Lupanars stehen geblieben war. Es war eines dieser Geschäfte, die nachts in tiefe Dunkelheit gehüllt waren und die man schwerlich finden konnte, wenn man sich nicht verirrte. Nicht einmal sein Vater hätte wohl einen Fuß in diesen Laden gesetzt - und das obwohl Titus wusste, dass dieser sich schon in den entlegensten Straßen Alexandrias herumgetrieben hatte. Noch dazu hatte Titus seine Leibwächter zurückgelassen - nicht weil er sich in der Gegenwart von Lasthenes sicher gefühlt hatte, sondern weil er sich nicht weiterem Gespött aussetzen wollte. Vielleicht konnte er auf diese Weise ja zum Mann werden, wie sein Vater gefordert hatte.
Letztlich hatte Titus die Lokalität doch betreten – mit flauem Magen. Eine Mischung aus Weihrauch, Schweiß und Erbrochenem belegte seine Nase schon bevor er den ersten Schritt in die Räumlichkeiten gesetzt hatte. Es herrschte derselbe Lärm wie in einer Wirtsstube des gemeinen Pöbels, nur dass hier unbekleidete Frauen von Tisch zu Tisch und von Schoß zu Schoß sprangen. Titus hatte absichtlich auf teure Kleidung verzichtet, um nicht unnötig Aufsehen zu erregen, doch selbst sein ältester Lumpen wäre in dieser Ansammlung von Geschmacklosigkeiten noch fehlplatziert gewesen. Die Männer waren allesamt von Schmutz bedeckt, stanken erbärmlich und wirkten mehr wie germanische Barbaren als römische Bürger. Die Frauen waren alt, ungepflegt und räkelten sich auf den Männern wie Spinnen, denen die Beute ins Netz gegangen war. Doch so abstoßend die Lokalität auch war, Titus konnte nicht kehrt machen. Stattdessen nahm er mit einem unwohlen Bauchgefühl Platz und gesellte sich zu Lasthenes und den anderen.
Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis die ersten Frauen auch diesen Tisch in Beschlag genommen hatten. „Na, schon mal ne‘ richtige Frau gehabt“, wisperte Titus eine der Frauen mit gespielt anzüglichem Tonfall entgegen. Er jedoch war nur angewidert von diesem erbärmlichen Mundgeruch, der im selben Moment seine Nase malträtierte. Voller Ekel wandte er seinen Kopf zur Seite. „Was denn los mit dem Jungen?“, erkundigte sich die Lupa irritiert in die Runde. „Ach, der hat einfach keinen Schwanz. Komm lieber zu mir, Schlampe!“, grunzte der Dicke und streckte ihr lüstern seine geschwollenen Finger entgegen, was die Frau ihrem Blick nach als verführerisches Angebot wertete. Titus dagegen rückte mit seinem Stuhl instinktiv immer weiter vom Tisch und hoffte, dass ihn irgendwer oder irgendetwas aus diesem Loch befreite.
Doch der Abend nahm seinen Lauf. Einige hatten sich mit den Frauen auf die Zimmer begeben, andere schliefen volltrunken in ihren Stühlen oder auf dem Tisch. Titus indes bahnte sich einen Weg durch das Dämmerlicht nach draußen. Den Rückweg zum Schiff würde er alleine in der Dunkelheit kaum finden, doch er benötigte dringend frische Luft. Draußen angekommen ging er einige Schritte weiter durch die dunkle Gasse, damit er seine Nase von diesem erbärmlichen Gestank befreien konnte.
“Titus!“, ertönte sogleich eine bekannte Stimme. Aus der Dunkelheit heraus erkannte er die Umrisse zweier Gestalten, die sich schnellen Schrittes näherten. “Lasthenes“, entgegnete Titus wissend, als sie nur noch wenige Meter vor ihm standen. Der Andere war Lasthenes‘ Begleiter, der allerdings seit Alexandria kein Wort mit ihm gesprochen hatte. “Wir sollten zurück zum Schiff. Es ist spät“, schlug Titus vor und versuchte dabei nicht verweichlicht zu klingen. Lasthenes und sein Begleiter kamen näher. Der Grieche starrte Titus nur mit breitem Grinsen entgegen. “Was…?“ Den jungen Fabius erfüllte ein mulmiges Bauchgefühl. Sein Herz schlug schneller und er ließ sich von den beiden Männern immer mehr in die Dunkelheit drängen. “Was wollt ihr?“ Titus wurde lauter und begann zu zittern. Noch immer keine Antwort. “Lasthenes…ich“ Angst lähmte seine Zunge. Beinahe erlösend brach Lasthenes das Schweigen. “Bist du Titus Torquatus, Sohn des Cnaeus Torquatus von den Fabiern?“ Die Worte trafen Titus wie ein Schlag in die Magengrube. Er rang nach einer Antwort, doch sie stand ihm ohnehin ins Gesicht geschrieben. “Ich…woher…“ Bevor er sich rechtfertigen konnte, ließ ihn ein fester Tritt zu Boden sinken. Der Schmerz schnürte ihm die Luft ab. Mit seinen Händen suchte er flehend nach Rettung, doch er fand hinter sich nur eine kaltfeuchte Fassade. Es folgte ein zweiter Tritt in die Brust, der ihn schmerzvoll aufschreien ließ. “Halt ihn fest“, hörte er Lasthenes sagen, bevor er einen festen Griff an seinem rechten Handgelenk verspürte. Titus wurde langsam an der Fassade aufgerichtet und flehte bitterlich nach Hilfe, doch seine Schreie verhallten in den finsteren Gassen. “Du wolltest doch wissen, was passiert ist.“ Lasthenes streckte Titus seinen Armstumpf entgegen und drückte ihn fest gegen seine Brust. “Dein Vater. Das habe ich deinem Vater zu verdanken“, keifte er zornerfüllt. Es folgten weitere Tritte gegen Titus' wunden Rumpf. “Und nun wirst du für ihn büßen.“ Titus schrie mit allen Kräften, seine Stimme formte jedoch nur noch ein heiseres Krächzen. Lasthenes entblößte sein Geschlecht und Titus spürte, wie der Griff an seiner Hand stärker wurde. Titus war wie gelähmt und kraftlos. Sein Blick wurde schwummrig und er konnte die Umrisse seines Gegenübers kaum mehr erkennen. “Glaucus…“, wimmerte er leise. “Glaucus…“
“AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH“, durchdrang ein bohrender Schrei abrupt die Nacht. Der Griff an Titus‘ Hand lockerte sich. Vor ihm sank Lasthenes wehklagend zu Boden, während er seinen blutverschmierten Unterleib mit seinem Armstumpf bedeckte. Dann vernahm Titus Stimmen aus der Ferne, ein wildes Durcheinander. Bevor er die Situation erkennen konnte, verlor er jedoch völlig erschöpft und schmerzerfüllt sein Bewusstsein.