Beiträge von Titus Fabius Torquatus

    Titus umspielte gedanklich die Möglichkeiten, die Gracchus im Hinblick auf die nachrangigen, aber durchaus angesehenen städtischen Priesterkollegien skizzierte und erkannte, wie wohl auch sein Mentor, gerade in einem Engagement bei den Quindecimviri eine Verknüpfung zu seinen politischen Ambitionen.

    »Die Christianer sind eine jüdische Sekte, die einen Mann als Gott verehren, der in Iudaea als Hochverräter hingerichtet wurde. Im Gegensatz zu anderen fremden Kulten zeigen die Christianer sich aber jedoch besonders aggressiv und radikal in der Ablehnung der Religio Romana und des Kaiserkultes. Schon darob stellen sie eine ganz eigentümliche Bedrohung für das Imperium dar.«

    Die Ausführungen zu den Christianern entfachten in Titus einen Eifer, den der sonst so reservierte und bedachte Jüngling auch mit nahezu bellender Stimme deutlich hörbar machte.

    »Ich habe gehört, dass sie sich an finstere Orte zurückziehen, um ihrem Götzen zu huldigen, die sakralen Opfer und die Anbetung der Götter aber gänzlich ablehnen. Ein Christianer, der sich nicht von unserem Staatskult distanziert, sei kein wahrer Christianer«

    Gewiss hatte der Senator dem noch einiges hinzuzufügen, das der Fabier bisher noch nicht gelernt oder vernommen hatte.

    »Wenn sich für mich eine Möglichkeit der Beaufsichtigung dieser Sekte in den Reihen der Quindecimviri ergäbe, wäre ich gerne bereit meinen Teil zum Pax Deorum beizutragen«, sprach Titus in festem Tonfall, wurde er in dieser Angelegenheit doch vor allem von der Richtigkeit der Sache und weniger von der Zuträglichkeit dieses Engagements für seine politische Karriere getragen.

    Hätte Titus das Hadern des Senators hinsichtlich der Frage, ob dieser die in ihm ohnehin nur sehr sanft lodernde Flamme des Idealismus zugunsten der Wahrheit ersticken sollte, lesen können, hätte er wohl darum gebeten, ihm jegliche Illusionen zu rauben. Titus war kein Träumer und bereits in jungen Jahren mit der harten Realität konfrontiert worden. Ereignisse, die er verdrängt hatte und an die er nur noch in einsamen Stunden zurückdenken musste. Gleichwohl hatten diese auch seinen Geist gestählt, er fühlte sich bereit schwere Entscheidungen zu treffen und Abwägungen vorzunehmen, die womöglich auch die Bitterkeit des Lebens und der Welt auf tragische Art und Weise zu Tage brachten. Gleichwohl wusste er auch um die Relevanz, mit solchen Entscheidungen erst konfrontiert werden zu müssen, um die tatsächliche Eignung des Selbst feststellen zu können. Umso mehr war sein Interesse an der Person und den geistreichen Worten seines Gegenüber befeuert, der doch mutmaßlich nicht nur seiner Lebenserfahrung, sondern auch seines vielseitigen Werdegangs wegen auf diese Eignung hin bereits vielfach geprüft worden war. Titus folgte der Ansicht seines neuen Lehrmeisters konzentriert und bemühte sich, jegliche seiner Äußerungen zu durchdringen, wenngleich der tatsächliche Gehalt der Abstraktion ihm sich wohl gänzlich erst mit der kommenden Zeit erschließen würde. Nichtsdestotrotz offenbarte er mit einem erkennenden Nicken, dass er diese erste Lektion verstanden hatte. Nun galt es sie zu verinnerlichen und sodann auch zum Kredo seines Handelns zu machen.

    Dass der Senator hiernach in Bezug auf Titus' Möglichkeiten im Collegium Pontificium eben jene Ehrlichkeit ankündigte und ihm darbot, die er sich ohnehin in jedem Gespräch des Tirociniums wünschte, rang auch dem kühlen Jüngling ein sanftes Lächeln ab. Ehrlichkeit war etwas, das ihm bisherig weder in der Öffentlichkeit, noch im Kreise der Familie begegnet war. Umso weniger grämte es ihm, dass der Senator ihn nun jene Realität vor Augen führte, die er Zeit seines Lebens noch nicht verstanden hatte. Die enge Bindung von Herkunft und Zukunft schien ihm schlichtweg widersprüchlich, garantierte doch ersteres selbst seiner geringen Lebenserfahrung nach nicht immer die tatsächliche Eignung für die darin verbürgten Chancen. Die Worte des Senators ließen ihn zumindest im Glauben, dass dies auch ihm im Ansatz widerstrebte. Gleichwohl sah Titus keine andere Möglichkeit, als sich den Gegebenheiten zu fügen und es sich zu seiner Lebensaufgabe zu machen, dies nach seinen Vorstellungen zu ändern, so ihm die Götter die Gelegenheit dazu geben sollten.

    "Ich verstehe", entgegnete Titus zunächst einmütig. "Ich bin bereit, diesen mühsamen Weg auf mich zu nehmen, so du von meiner Eignung überzeugt bist."

    Dass sein Fortkommen stets im Kontext mit seinem Vater stand, berührte Titus weitaus mehr als die starren Hierarchien des Collegiums, sodass er ebenso in dieser Hinsicht eine Loslösung anstrebte, so steinig und schwer sich diese auch gestalten sollte. Eben deshalb schien es ihm auch wenig zuträglich zu erfragen, welchen Einfluss die finanziellen Möglichkeiten seines Vaters haben könnten, sondern vielmehr welchen Beitrag er selbst zu leisten im Stande war.

    "Ist dieser Weg in das Collegium gänzlich an meinen Weg im Cursus Honorum gebunden oder gibt es auch abseits Möglichkeiten, die notwendige Anerkennung der Pontifices zu gewinnen?"

    Titus war über die Gelegenheit, sich als Tiro für eine Erhebung in den Ordo Senatorius zu empfehlen, überaus erfreut. Deswegen verdeutlichte er seine Zustimmung mit einem ehrerbietenden Senken seines Kopfes, wenngleich er sich darüber im Klaren war, dass dies weder seiner noch überhaupt einer Zustimmung bedurfte. Der Kaiser hatte entschieden und Titus ordnete sich dieser Entscheidung ehrfürchtig unter. Als sein Vater ihm sodann signalisierte, sich gebührlich zu verabschieden, ergriff er noch einmal das Wort: "Ich danke dir für deine Zeit, mein Kaiser. Vale." Sodann verließ er das Tablinum und überließ wieder seinem alten Herren die Bühne, die er so liebte.

    Titus hielt kurz inne und grübelte über die Nachfrage des Kaisers, dessen Blick für das Gesamte zweifellos weitaus ausgeprägter war als der des Jünglings. Allerdings hatte Titus auch nicht erwartet, dass er dem Augustus eine Lösung präsentieren konnte, die ihn vollumfänglich begeisterte. Das Problem der Kriminalität in den Straßen Roms war so komplex und indifferent, das es wohl kaum einer klaren und eindeutigen Lösung zugänglich war, sondern verschiedenen Seiten Kompromisse und Eingeständnisse abnötigte. So erforderte in seinen Augen vielleicht auch eine Einlassung des Praefectus Urbi und seiner Männer, obgleich ihnen das vielleicht nicht schmeckte. "Ich würde für deren Besorgnis zunächst Verständnis aufbringen, sind es doch eigentliche die Stadtkohorten, die für die Sicherheit Sorge tragen und nicht die Banden, von denen selbst ja gerade das Urproblem der Kriminalität ausgeht. Aber vielleicht ist das Unkonventionelle unter dem Deckmantel des Konventionellem etwas erträglicher. Mein Vorschlag zielt nicht darauf ab, die Sicherheit in den Armenvierteln gänzlich dem zu schaffenden Kartell zu überlassen und damit eine Art Selbstjustiz im Dunkel heraufzubeschwören, sondern vielmehr eine Koexistenz der Strafverfolgung zu schaffen. Unsere Marionette könnte entscheidende Hinweise geben, die den Stadtkohorten konventionelle Festnahmen ermöglichen und damit auch nach außen hin das Bild eines starken Staats wahren. Es ist nur Spekulation, aber ich würde dem Praefectus Urbi sagen, dass durch die Installation dieses Kartells die Strafverfolgung auch für die Stadtkohorten erfolgsversprechender wäre, da man Personen unschädlich machen könnte, auf die man ohne die Informationen des Kartells überhaupt keinen Zugriff hätte. Natürlich werden auch die Aktivitäten des Kartells nach wie vor krimineller Natur sein, jedoch wären sie staatlicher Einsicht und Kontrolle nicht wie bisher gänzlich unzugänglich. Man würde sozusagen Licht in den dunklen Tunnel bringen", führte Titus weiter aus, wohlgedenk der Tatsache, dass er keinerlei praktische Expertise besaß. Allein deshalb müsste seine Idee auch im Kreise der Verantwortlichen diskutiert werden - und sicher auch, um Probleme zu erkennen, die er bisher völlig unberücksichtigt gelassen hatte.

    Es war merkwürdig - Titus fühlte sich in alleiniger Gegenwart seines neuen Mentors schon weitaus wohler als bei der zurückliegenden Runde zu dritt oder grundsätzlich in Zweisamkeit mit seinem Vater. Und dies, obwohl er den Consular kaum kannte. Seine Menschenkenntnis ließ ihn trotzdem glauben, dass Flavius Gracchus eher seinem Schlag entsprach. Deshalb war Titus auch glücklich darüber, dass ihm das Tirocinium eine Möglichkeit eröffnete, der alltäglichen Präsenz des Vaters zu entfliehen und sich mit einer Person zu beschäftigen, von der zu lernen ihm nicht ein notwendiges Übel, sondern ehrliche Freude war. "Ich denke, dass es erstrebenswert ist, den Status Quo unseres Gemeinwesens zu schützen, ohne aktuelle Vorkommnisse und Entwicklungen zu verkennen oder gar zu übergehen. So kann ich deine Haltung gegenüber den Christianern nur teilen. Eine solche Bedrohung sollte nicht nur erkannt, sondern auch bereits im Keim erstickt werden. Dafür möchte ich mich gerne in der Politik aufwenden", erklärte Titus mit fester Stimme und hoffte, dass seine Ausführungen nicht zu hieroglyphisch daher kamen. "Darüber hinaus denke ich, dass die Symbiose von Staatswesen und Cultus elementar für Wohl und Ordnung des Imperiums ist. Ein Politiker sollte in seinen Handlungen stets den Willen der Götter berücksichtigen und so als gutes Beispiel für die gesamte Gesellschaft vorangehen. Deshalb wäre es mir auch eine Ehre, mich im Collegium Pontificium für die Erhaltung dieser Symbiose einzusetzen", führte der Tiro weiter aus. Dass sein Vater ausgerechnet Flavius Gracchus als Mentor auserkoren hatte, entsprang nach Titus' Vermutung wohl kaum einem unbedingten Wunsch, seinem Sohn das Collegium näher zu bringen. Dennoch war Titus gerade deshalb mit der Auswahl zufrieden, weil der Consular eben jene angesprochene Symbiose beispielhaft reflektierte - dies zumindest in seinen Erwartungen.

    Die Zustimmung des Kaisers zu seinen kultischen Plänen erfüllte Titus mit ehrlicher Freude, entlockte ihm aber dennoch nur ein sehr vage angedeutetes Lächeln. Manch einer mochte seiner Reserviertheit wegen auf eine gewisse Arroganz und Kälte schließen, wiewohl er im Grunde jedwede Emotion zu verspüren durchaus imstande war, sie nach außen sichtbar zu machen hingegen nicht. Konsequenterweise stellte er deshalb auch nicht seine Genugtuung offen zur Schau, als der Kaiser sich ein eigenes Bild von Titus' politischen Fähigkeiten machen wollte und dem Vater damit einen kleinen Stich versetzte. Denn dass der Ältere das Vorhandensein solcher ihm fast gänzlich absprach, lag in Titus Augen nicht am Fehlen selbst, sondern vielmehr an der grundsätzlich unterschiedlichen Interpretation der Begrifflichkeit. Er blickte kurz in Gedanken gen Boden und dann wieder zum Kaiser. "Da die Stadtkohorten für die Sicherheit in der Urbs zuständig sind, würde ich allen voran den Praefectus Urbi sowie seine wichtigsten Tribune hinzuziehen. Um die Legitimation und die Einbindung des Senats zu erwirken, sollten die Consuln ebenfalls befragt werden", begann Titus mit sachlicher Ernsthaftigkeit und führte sogleich weiter aus: "Eine gewaltsame Verfolgung und Unterdrückung aller Banden scheint mir wenig erfolgsversprechend, da dies womöglich nur die Kriminellen in ihrem gemeinsamen Groll vereinigt, Unruhe in den Armenvierteln stiftet und letztlich in stetig wiederkehrender Eskalation endet. Stattdessen würde ich an den mächtigsten Bandenführer herantreten und ihn mit gewissen...Vorzügen gefügig machen - sei es mit Sesterzen oder sonstigen Annehmlichkeiten. Dieser könnte als Marionette damit betraut werden, die unterschiedlichen Strömungen und Vereinigungen unter seiner Führung zu versammeln und zu koordinieren. Eine gänzliche Beseitigung der Kriminalität in den Armenvierteln erscheint mir unrealistisch, die Installation eines solchen Tugendwächters mit Anerkennung in den eigenen Reihen könnte aber womöglich bewirken, dass die Bandenaktivitäten eingedämmt werden, besser nachverfolgbar und letztlich auch nur auf Ziele gerichtet sind, deren Schädigung nicht wesentlich oder gar in unserem Sinne ist. Oder kurz gefasst: Die Einrichtung eines staatlich kontrollierten Kartells, gewissermaßen", beendete Titus seinen ausführlichen Monolog, der den Vater angesichts seiner sonst eher wortkargen Art sicher überraschen musste. Titus grübelte kurz und fügte dann noch hinzu: "Vielleicht sollten auch die Prätorianer noch mit einbezogen werden...um die Schwachstellen der potentiellen Marionette ausfindig zu machen."

    Der kleine Versprecher machte den Kaiser für Titus greifbarer und ließ ihn weitaus irdischer wirken, als der Jüngling ihn sich zuvor in seiner Vorstellung ausgemalen hatte. Offensichtlich war also auch ein Augustus nicht von Fehlern gefeit. Im Übrigen verhielt er sich weitaus überlegter als sein Vater und strahlte eine royale Milde aus, die Titus weitaus mehr imponierte, als die zuweilen lästige Selbstinszenierung des alten Torquatus. Die Sachlichkeit des Augustus machte es aber auch umso schwerer, irgendeine Präferenz in seinen Worten zu erkennen, wenngleich sie zumindest erkennen ließen, dass er die Ausbildung bei Consular Flavius als zuträglich erachtete. Als der Kaiser sodann Titus direkt befragte, trat dieser einen kleinen Schritt nach vorne und räusperte sich, bevor er seine Pläne offenlegte: "Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich vom Collegium Pontificium als würdig erachtet werden würde. In meinen Augen sollte jeder Römer, der sich in der Politik beweisen und das Vertrauen des Volkes verdienen will, auch im kultischen Bereich mit gutem Beispiel vorangehen", erklärte Titus mit fester Stimme. Sicher war dies auch ein Seitenhieb in Richtung seines Vaters, der den Göttern mit besorgniserregender Gleichgültigkeit begegnete, sodass es für Titus nur eine Frage der Zeit war, bis ihn diese auch mit Konsequenzen belegen würden. Minor dagegen war überzeugt, dass er nur mit gewissenhafter Pflege und Einhaltung der Rituale die Gunst der Götter für seine Ambitionen gewinnen konnte.

    Die äußere Erscheinung des jüngeren Torquatus war sicher geeignet, den Eindruck von Sicherheit und Selbstbewusstsein zu erwecken. Der Blondschopf war von stattlicher Größe, überragte gar seinen ohnehin großgewachsenen Vater und bot darob schon den meisten Menschen gegenüber ein imposantes Erscheinungsbild. Anlassgemäß trug er eine ausladende weiße Toga, die dennoch nicht verbergen konnte, dass er kein Athlet, sondern eher von hagerer Gestalt war. Seine Gesichtszüge waren starr und ließen genauso wie seine tiefblauen Augen eine gewisse Kälte und Distanz erahnen. Innerlich jedoch war Titus nervös und angespannt in Erwartung der baldigen Begegnung mit dem mächtigsten Mann der Welt. Er hatte sich noch in der Domus Iunia dreimal übergeben müssen und hätte sich am Liebsten in seinem Zimmer verkrochen, obschon er freilich auch dem Weg, der ihm nun vorgegeben war, mit Eifer entgegenblickte. Eine gewisse Sicherheit vermittelte ihm sein unsichtbarer Freund Glaucus, der ihn zwar mit wohlwollender Fürsprache für die Audienz mit dem Augustus vorbereitet, ihn aber nicht auf den Palatin begleitet hatte. So stand er also nun leicht versetzt hinter Torquatus Maior und war trotz dessen Anwesenheit seinem Empfinden nach auf sich alleine gestellt.

    Das protzige und selbstdarstellerische Gebaren seines Vaters war Titus seit jeher ein Dorn im Auge, dessen besondere Ausprägung an diesem Tage ließ ihn aber besonders angewidert zurück. So recht konnte Titus sich keinen Reim darauf machen, woher diese offen zur Schau gestellte Arroganz kam. Ob er wohl irgendetwas damit kompensieren wollte? Vielleicht. Sicher war es seine Art der Welt zu zeigen, dass er sich für etwas besonderes hielt. Titus selbst befand sich in Anbetracht dessen in einer Zwickmühle. Einerseits hatte er erkannt, dass er seinen Platz finden musste und dafür auch auf die Hilfe und Kontakte seines Vaters angewiesen war - andererseits löste dieses Abhängigkeitsverhältnis Übelkeit in ihm aus und mahnte ihn dazu, sich möglichst schnell von solcherlei Zwängen zu lösen. Ein erster Schritt dazu sollte sein Kennenlernen mit Senator Flavius sein, am Ende dessen er hoffentlich einen Schritt weiter im Prozedere der Lossagung war.


    Den ganzen Weg über zur Villa hatte er kein Wort mit Torquatus Senior gesprochen, was angesichts der schwierigen Beziehung und der persönlichen Distanz aber in den meisten Situationen der Zweisamkeit eher die Regel denn die Ausnahme war. So wandelte Titus wie ein Geist an der Seite seines Vaters zur Villa und sodann ins Tablinum und überließ - wie der Sohn es auch sonst gewohnt war - erst einmal ihm die Bühne, die dieser sichtlich genoss. Titus selbst wohnte dem höflichem Geplänkel zunächst nur als stiller Zuschauer bei, bis der Alte ihn in die Runde einführte und er den Senator respektvoll grüßte. "Salve, Senator Flavius." Während der Vater beinahe überschwänglich freudig erregt zu sein schien, blieb der Ausdruck des Sprösslings starr und ohne Regung. Stattdessen blickte er eindringlich zum Senator, von dem er schon hier und da etwas gehört hatte und der den Gerüchten zufolge eher seinem Gemütswesen entsprach als dem seine protzigen Vaters. Dies zumindest ließ Titus hoffen.

    Im Peristyl, einen gewissen Sicherheitsabstand zu den zahlreichen Gästen wahrend, stand auch Titus Torquatus, der einzige Sohn des Bräutigams. Abgesehen davon, dass er sich bei solchen Festivitäten selten redselig präsentierte, war er noch immer etwas irritiert ob der bürgerlichen Fassade, die sein Vater in Rom angelegt hatte. Da sein Vater darüber hinaus keine Schwächen in seinem Schauspiel offenbarte, erschien ihm die Situation nur umso befremdlicher. Titus konnte es nicht glauben, aber offensichtlich hatte sein Vater nicht nur ihn, sondern auch sein altes Leben gänzlich in Alexandria zurückgelassen. Noch immer präsentierte sich der Alte gönnerhaft und großspurig, schien aber in seiner Rolle als ehrbarer Bürger vollständig aufzugehen. Vielleicht hatte er sich tatsächlich geändert und sein altes Leben hinter sich gelassen. Dass dabei aber auch Titus als sein Sohn und Erbe in Vergessenheit geriet, löste im jungen Sprössling ein nervöses Missbehagen aus. So recht konnte er nicht erkennen, welche Rolle Torquatus senior für ihn vorgesehen hatte. Bis er also angesprochen oder herbeigerufen wurde, beobachtete Titus die Szenerie aus dem Abseits und verhielt sich weitgehend unauffällig.

    Die Erklärungen der Iunia konnten Titus inneres Dunkel nicht wirklich erhellen, für ihn schien das Verhalten seines Vaters mehr als befremdlich. Er war nun Procurator der kaiserlichen Kanzlei? Titus konnte sich kaum ausmalen, wie er sich diesen Posten ergaunert hatte. Für den Moment war der junge Fabier sprachlos und überfordert, sodass er Axillas Worte irritiert hinnahm und sich dann in seine Gedanken zurückzog. Es folgte wieder eine längere Zeit des Schweigens, bevor Titus das Wort ergriff. "Ich...würde mich gerne etwas ausruhen, wenn es dir recht ist." Er wollte nun alleine sein und weiteren Offenbarungen schnellstmöglich aus dem Weg gehen. Früher oder später musste er sich sowieso seinem Vater stellen und dafür wollte er seine Gedanken noch einmal ordnen. Titus verabschiedete sich also von der zukünftigen Frau seines Vaters und zog sich dann in eines der Gästezimmer zurück, das für ihn vorbereit worden war.

    Verlobte? Sagte sie wirklich Verlobte? Titus entgleister Blick verriet eindeutig, dass er mit vielem gerechnet hatte, aber nicht damit. Sein Vater wollte diese Frau ehelichen? Abgesehen davon, dass Titus sich nicht vorstellen konnte, dass sein Vater heiratete, schien es ihm noch befremdlicher, dass er nicht mal davon unterrichtet wurde. Hatte er ihn vergessen? Er war doch sein einziger Sohn? Warum hatte er ihn all die Monate nicht einmal darüber aufgeklärt? "Ich..." Titus war sprachlos und überfordert. War dies alles nur ein schlechtes Schauspiel oder Realität? Er suchte in Gedanken vergeblich nach seinem Platz in dieser Geschichte. Seine anfänglich unbeteiligte Ruhe wich großer Nervosität, die auch nach außen hin nicht verborgen blieb. Er begann zu schwitzen und nahm das Angebot sich zu setzen ohne Zögern an.


    Wie eine Gewitterwolke brach darauffolgend das nächste Thema über ihn ein, das Axilla zur Sprache brachte. Die Reise. Seine Gedanken kreisten nun wieder um die Höllenfahrt, die er nach der Ankunft in Ostia für ein paar Tage verdrängen hat können. Nun kam alles auf den Tisch. Tabula Rasa. Nein, davon wollte Titus nichts hören und schon gar nichts erzählen. Er wollte vergessen. Mit einer Hand fuhr er sich über sein Gesicht und hoffte, dass er dadurch all die Gedanken einfach wegstreichen konnte. Axillas Worte legte er kommentarlos beiseite, als wären sie nie ausgesprochen worden. Dann fixierte er die Verlobte seines Vaters, die vermutlich in Erwartung eines ausführlichen Reiseberichts war und versuchte irgendwie das Thema zu wechseln. "Wo ist mein Vater? Und...warum heiratest du ihn?" Eine dumme und wohl gleichfalls ungewöhnliche Frage, wie Titus im selben Moment feststellte. Aber was sollte er schon sagen? All das passte überhaupt nicht zu seinem Vater, wie er ihn kannte. Wurde er womöglich verwechselt? Ausgeschlossen. In jedem Fall konnte er mit Fragen zu seinem Vater von der Reise ablenken. Und auch wenn er über diesen im Moment nicht gerne sprach, war ihm dies gewiss erträglicher als ein Gespräch über die Torturen, die ihm auf der Überfahrt widerfahren waren.

    Titus streifte noch immer gedankenverloren durch das Tablinum, weshalb er etwas überrascht reagierte, als die angekündigte Hausherrin zum ihm stieß. Diese begegnete dort einem großgewachsenen Jungen, der auf den ersten Blick sehr wenig mit seinem Vater gemein hatte. Er hatte weiche, jugendliche Gesichtszüge, dickes, blondes Haar und einen leeren Blick. Während sein Vater in dieser Situation wohl die Führung übernommen und den Raum eingenommen hätte, stand Titus unbeteiligt im Tablinum und musterte die Domina mit ausdrucksloser Miene.


    Sie stellte sich als Iunia Axilla vor, woraufhin Titus sich zurückhaltend als "Titus Torquatus" präsentierte. Das prognostizierte Gewitter an Fragen allerdings blieb aus. Einen Moment lang starrte der junge Fabier ohne eine Rührung zur Hausherrin. Eine ungewöhnlich lange, beinahe unangenehme Stille nahm den Raum ein. Nach den Gepflogenheiten war es wohl Titus' Aufgabe, diese zu durchbrechen, aber er wusste nicht, was er mit dieser Frau anfangen sollte. Wer war sie und was hatte sein Vater mit ihr am Hut? Genau diese Frage stellte er dann auch, nachdem er wohl einige Momente zu lange geschwiegen hatte: "Was hast du mit meinem Vater zu tun?", erkundigte sich Titus eintönig und regungslos.

    Der Einlass an der Porta der Domus Iunia hatte nichts zur Klärung des Status Quo beitragen können, sondern nur noch mehr Fragen aufgeworfen. Sein Vater war im Palatium Augusti? Was zum Teufel hatte sein Vater im Kaiserpalast zu suchen? Titus hatte ihn eher in einem Lupanar oder einer Spelunke vermutet. Natürlich wusste er, dass sein Vater einst in der kaiserlichen Kanzlei gearbeitet hatte, aber das war Jahre her. Als Tribun der Classis hatte er sich - zumindest was Titus mitbekommen hatte - nicht mit großer Arbeitsleistung und Pflichtbewusstsein hervorgetan, sondern eher das joviale Leben eines Mäzens geführt! Was hatte er also auf dem Palatin zu suchen? Titus war von zahlreichen Fragen geplagt und streifte deshalb unruhig durch das Tablinum, während er auf irgendeine Person wartete, die ihn aufklärte. Am besten geeignet war da eigentlich sein Vater, aber eigentlich wollte Titus ihm jetzt nicht unter die Augen treten. Nicht nach all dem, was passiert war. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte und vor allem - wie sein Vater ihn empfangen würde. Daher betete er also zu den Göttern, dass Torquatus Maior noch etwas länger auf dem Palatium Augusti verweilte und die Domina des Hauses, die der Ianitor angekündigt hatte, von ihren Einkäufen zurückkehren würde.

    Der Weg von Ostia nach Rom war nicht halb so beschwerlich gewesen wie die Überfahrt von Alexandria nach Ostia. Titus hatte die meiste Zeit über im weichen Stroh auf dem Karren geschlafen, denn noch immer fühlte er sich müde und geschwächt. Als sie die Tore von Rom erreicht hatte, war er beeindruckt gewesen. Angesichts der monumentalen Größe der Hauptstadt, der Vielfalt und den belebten Straßen konnte er seine schmerzlichen Erinnerungen für eine Zeit lang vergessen. Alexandria war eine prächtige Stadt, seine Heimat, aber nun konnte Titus auch nachvollziehen, warum die Händler und Kaufmänner in der Provinz stets so beeindruckt und erhaben über die Hauptstadt gesprochen hatten.


    Ohne Umwege hatte ihn Tamos zur Domus Iunia geführt, wo sich sein Vater angeblich aufhielt. Titus musste ihn endlich sehen und wissen, ob er sich überhaupt noch für ihn interessierte. Immerhin waren mehrere Monate vergangen, ohne dass sein Vater sich auch nur ein einziges Mal nach ihm erkundigt hatte. Außerdem musste er diesem Gerücht von einer angeblichen Hochzeit auf die Spur gehen. Er konnte sich nur schwerlich vorstellen, dass sein Vater, so wie er ihn aus Alexandria kannte, sich noch einmal für eine einzige Frau entscheiden konnte. Also was hatte es mit diesem angeblichen Arrangement auf sich?


    An der Domus angekommen trat Tamos an die Porta, um seinen Dominus anzukündigen, während Titus sich abwartend im Hintergrund hielt. "Mein Dominus Titus Torquatus von den Fabiern wünscht seinen Vater zu sprechen, der sich hier aufhalten soll - oder wahlweise den Hausherren, so sein Vater nicht zugegen ist." Es war kurz nach Mittag und normalerweise gingen ehrenwerte Bürger nun ihren Arbeiten nach - so denn sein Vater überhaupt eine Arbeit gefunden hatte und man ihn als ehrenwert bezeichnen konnte.

    Titus' Gedanken kreisten noch immer um das Erlebte und trübten die Freude darüber, endlich am Ende seiner Reise angekommen zu sein. Die schmerzhaften Ereignisse legten sich wie ein Schatten über ihn und vernebelten seine Sinne. Er konnte nicht vergessen, obwohl er dem Schlimmsten noch im letzten Moment entkommen war. Aber was wäre gewesen, wenn Glaucus ihn nicht gerettet hätte? Er selbst hatte sich nicht verteidigen können, war unfähig gewesen. Er war starr vor Angst gewesen, hilflos und schwach. Das war auch der Grund gewesen, dass er seinen Sklaven Tamos in für ihn ungewöhnlich harter Manier zurechtgewiesen hatte. Mit glühenden Augen hatte Titus ihn angemahnt, nie ein Wort über die Ereignisse zu verlieren. Er hatte gedroht, ihm die Zunge abzuschneiden, wenn er auch nur das Geringste über das preisgab, was in Messana geschehen war. Natürlich hatte Tamos ihm sein Wort gegeben und vor den Göttern bezeugt, für immer darüber zu schweigen. Im Nachhinein bedauerte Titus seine harten Worte, aber ihm blieb keine andere Wahl. Niemals sollte sein Vater irgendetwas darüber erfahren. Er wollte ihm keinen Anlass dafür geben sich darin bestätigt zu fühlen, dass sein Sohn nur ein kleiner, unselbstständiger Junge war.


    Es musste weitergehen. Irgendwie. Und so hatte Titus am Tag der Ankunft veranlasst, einen Boten vorauszuschicken, der sich über den Aufenthalt seines Vaters erkundigen sollte. Titus hatte ihn in der Casa Fabia erwartet, von der er schon in Alexandria gesprochen hatte. Der einstige Familiensitz der Fabier in der Hauptstadt, die Titus nie zuvor gesehen hatte. Dass sein Vater sich nicht dort, sondern bei den Iuniern aufhielt, war eine faustdicke Überraschung gewesen. Wenn man dem Boten glauben schenken konnte und er sich nicht verhört hatte, wollte sein Vater sogar bald eine Iunia heiraten - und Titus wusste davon nichts. Titus wusste auch nicht, was er davon halten sollte. Aber er fühlte sich einmal mehr von seinem Vater übergangen. Kein Wort hatte dieser darüber verloren, ihm nicht einmal geschrieben oder sich erkundigt. War Titus' Schicksal ihm wirklich völlig gleichgültig?


    Tamos hatte auf dem Markt einen Händler gefunden, der sie die letzte Strecke bis nach Rom auf seinem Karren mitnehmen konnte. Eine letzte Nacht konnte Titus also in seiner Unterkunft in Ostia verbringen, um sich zu erholen, bevor er im Morgengrauen des folgenden Tages in ein neues Leben aufbrechen und das Vergangene hinter sich lassen wollte.

    "Ostia...wir erreichen Ostia!", hallte die eindringliche Stimme des Kapitäns über das Oberdeck. Es hatte Verzögerungen gegeben, die Überfahrt war beschwerlich gewesen und fast wären sie alle auf dem Meeresgrund verendet. Doch nun war der Hafen Italias in Sicht und wohl nicht einmal erzürnte Götter hätten die sichere Ankunft noch gefährden können. Von der freudigen Stimmung und dem Jubel der Passagiere auf dem Oberdeck bekam Titus allerdings nichts mit. Er hatte sich in ein dunkles Eck im Frachtraum zurückgezogen und zitterte noch immer am ganzen Leib. Er fühlte sich schwach, gedemütigt, einsam, im Stich gelassen...die Erinnerungen dieses unheilvollen und schmerzhaften Ereignisses trafen ihn bis ins Mark. Er wollte vergessen, akzeptieren, doch umso mehr er sich bemühte, umso bildhafter und präsenter wurden seine dunklen Gedanken. Wie sollte es jetzt weitergehen? Was sollte er seinem Vater erzählen? Was hatte sein Vater überhaupt damit zu tun? Titus hatte keine Antworten. Doch was war überhaupt geschehen?


    Es war ein sonniger und warmer Tag, als die corbita Messana erreicht hatte. Die Hafenstadt auf Sicilia war ein Umschlagplatz für viele Schiffsreisende, Händler und Kaufmänner, die ihren Weg aus den fernsten Provinzen nach Italia suchten. Titus hatte sich gut gefühlt. Endlich wieder unbekannte Gesichter, das geschäftige Treiben, Menschen, die sich vor Marktständen scharten - das blühende Leben. Nach der gefühlt endlosen Fahrt auf offener See war es befreiend, endlich wieder an Land zu gehen. Sie hatten Messana am Nachmittag erreicht und wollten am frühen Morgen des folgenden Tages die letzte Etappe nach Ostia antreten. Tagsüber hatte Titus am Leben der fremden Stadt teilgenommen, hatte sich auf den Märkten vergnügt und üppig gespeist. Nach Weizenbrot und Pökelfisch gleichte das frische Obst und der schmackhafte Speck einer kulinarischen Offenbarung. Vor Einbruch der Dunkelheit war Titus auf das Schiff zurückgekehrt. Er war satt und müde und wollte zum ersten Mal, seit er die corbita betreten hatte, zufrieden auf dem Stroh des Frachtraums einschlafen. Doch es kam alles anders.


    Am Abend waren die warmen Sonnenstrahlen einem kalten Schauer gewichen. Dichter Nebel umhüllte den Hafen und begrenzte die Sichtweite auf wenige Fußlängen. Ein Zeichen der Götter, das zu deuten Titus nicht imstande gewesen war. Normalerweise verließ er bei solchen Witterungen niemals das Haus, geschweige denn ein Schiff. Doch er fand sich bereits mitten in Messana wieder, in irgendeiner Seitenstraße. Lasthenes hatte ihn überzeugt etwas zu erleben. Zusammen mit ihm und einigen grölenden Männern war er durch die verregneten Gassen gezogen, bevor sich alle für ein Etablissement entschieden hatten. Titus wollte ihnen beweisen, dass er kein Schlappschwanz war. Für sie war er der kränkliche Junge, der sich bereits auf dem Oberdeck übergeben hatte, bevor das Schiff überhaupt in See gestochen war. Aber er war kein Schwächling.


    "Na Junge, noch nie gevögelt oder was?", hatte ihm der Dicke mit schallendem Gelächter entgegengeworfen, als Titus wie verwurzelt vor dem Eingang des Lupanars stehen geblieben war. Es war eines dieser Geschäfte, die nachts in tiefe Dunkelheit gehüllt waren und die man schwerlich finden konnte, wenn man sich nicht verirrte. Nicht einmal sein Vater hätte wohl einen Fuß in diesen Laden gesetzt - und das obwohl Titus wusste, dass dieser sich schon in den entlegensten Straßen Alexandrias herumgetrieben hatte. Noch dazu hatte Titus seine Leibwächter zurückgelassen - nicht weil er sich in der Gegenwart von Lasthenes sicher gefühlt hatte, sondern weil er sich nicht weiterem Gespött aussetzen wollte. Vielleicht konnte er auf diese Weise ja zum Mann werden, wie sein Vater gefordert hatte.


    Letztlich hatte Titus die Lokalität doch betreten – mit flauem Magen. Eine Mischung aus Weihrauch, Schweiß und Erbrochenem belegte seine Nase schon bevor er den ersten Schritt in die Räumlichkeiten gesetzt hatte. Es herrschte derselbe Lärm wie in einer Wirtsstube des gemeinen Pöbels, nur dass hier unbekleidete Frauen von Tisch zu Tisch und von Schoß zu Schoß sprangen. Titus hatte absichtlich auf teure Kleidung verzichtet, um nicht unnötig Aufsehen zu erregen, doch selbst sein ältester Lumpen wäre in dieser Ansammlung von Geschmacklosigkeiten noch fehlplatziert gewesen. Die Männer waren allesamt von Schmutz bedeckt, stanken erbärmlich und wirkten mehr wie germanische Barbaren als römische Bürger. Die Frauen waren alt, ungepflegt und räkelten sich auf den Männern wie Spinnen, denen die Beute ins Netz gegangen war. Doch so abstoßend die Lokalität auch war, Titus konnte nicht kehrt machen. Stattdessen nahm er mit einem unwohlen Bauchgefühl Platz und gesellte sich zu Lasthenes und den anderen.


    Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis die ersten Frauen auch diesen Tisch in Beschlag genommen hatten. „Na, schon mal ne‘ richtige Frau gehabt“, wisperte Titus eine der Frauen mit gespielt anzüglichem Tonfall entgegen. Er jedoch war nur angewidert von diesem erbärmlichen Mundgeruch, der im selben Moment seine Nase malträtierte. Voller Ekel wandte er seinen Kopf zur Seite. „Was denn los mit dem Jungen?“, erkundigte sich die Lupa irritiert in die Runde. „Ach, der hat einfach keinen Schwanz. Komm lieber zu mir, Schlampe!“, grunzte der Dicke und streckte ihr lüstern seine geschwollenen Finger entgegen, was die Frau ihrem Blick nach als verführerisches Angebot wertete. Titus dagegen rückte mit seinem Stuhl instinktiv immer weiter vom Tisch und hoffte, dass ihn irgendwer oder irgendetwas aus diesem Loch befreite.


    Doch der Abend nahm seinen Lauf. Einige hatten sich mit den Frauen auf die Zimmer begeben, andere schliefen volltrunken in ihren Stühlen oder auf dem Tisch. Titus indes bahnte sich einen Weg durch das Dämmerlicht nach draußen. Den Rückweg zum Schiff würde er alleine in der Dunkelheit kaum finden, doch er benötigte dringend frische Luft. Draußen angekommen ging er einige Schritte weiter durch die dunkle Gasse, damit er seine Nase von diesem erbärmlichen Gestank befreien konnte.


    “Titus!“, ertönte sogleich eine bekannte Stimme. Aus der Dunkelheit heraus erkannte er die Umrisse zweier Gestalten, die sich schnellen Schrittes näherten. “Lasthenes“, entgegnete Titus wissend, als sie nur noch wenige Meter vor ihm standen. Der Andere war Lasthenes‘ Begleiter, der allerdings seit Alexandria kein Wort mit ihm gesprochen hatte. “Wir sollten zurück zum Schiff. Es ist spät“, schlug Titus vor und versuchte dabei nicht verweichlicht zu klingen. Lasthenes und sein Begleiter kamen näher. Der Grieche starrte Titus nur mit breitem Grinsen entgegen. “Was…?“ Den jungen Fabius erfüllte ein mulmiges Bauchgefühl. Sein Herz schlug schneller und er ließ sich von den beiden Männern immer mehr in die Dunkelheit drängen. “Was wollt ihr?“ Titus wurde lauter und begann zu zittern. Noch immer keine Antwort. “Lasthenes…ich“ Angst lähmte seine Zunge. Beinahe erlösend brach Lasthenes das Schweigen. “Bist du Titus Torquatus, Sohn des Cnaeus Torquatus von den Fabiern?“ Die Worte trafen Titus wie ein Schlag in die Magengrube. Er rang nach einer Antwort, doch sie stand ihm ohnehin ins Gesicht geschrieben. “Ich…woher…“ Bevor er sich rechtfertigen konnte, ließ ihn ein fester Tritt zu Boden sinken. Der Schmerz schnürte ihm die Luft ab. Mit seinen Händen suchte er flehend nach Rettung, doch er fand hinter sich nur eine kaltfeuchte Fassade. Es folgte ein zweiter Tritt in die Brust, der ihn schmerzvoll aufschreien ließ. “Halt ihn fest“, hörte er Lasthenes sagen, bevor er einen festen Griff an seinem rechten Handgelenk verspürte. Titus wurde langsam an der Fassade aufgerichtet und flehte bitterlich nach Hilfe, doch seine Schreie verhallten in den finsteren Gassen. “Du wolltest doch wissen, was passiert ist.“ Lasthenes streckte Titus seinen Armstumpf entgegen und drückte ihn fest gegen seine Brust. “Dein Vater. Das habe ich deinem Vater zu verdanken“, keifte er zornerfüllt. Es folgten weitere Tritte gegen Titus' wunden Rumpf. “Und nun wirst du für ihn büßen.“ Titus schrie mit allen Kräften, seine Stimme formte jedoch nur noch ein heiseres Krächzen. Lasthenes entblößte sein Geschlecht und Titus spürte, wie der Griff an seiner Hand stärker wurde. Titus war wie gelähmt und kraftlos. Sein Blick wurde schwummrig und er konnte die Umrisse seines Gegenübers kaum mehr erkennen. “Glaucus…“, wimmerte er leise. “Glaucus…“


    “AHHHHHHHHHHHHHHHHHHHHH“, durchdrang ein bohrender Schrei abrupt die Nacht. Der Griff an Titus‘ Hand lockerte sich. Vor ihm sank Lasthenes wehklagend zu Boden, während er seinen blutverschmierten Unterleib mit seinem Armstumpf bedeckte. Dann vernahm Titus Stimmen aus der Ferne, ein wildes Durcheinander. Bevor er die Situation erkennen konnte, verlor er jedoch völlig erschöpft und schmerzerfüllt sein Bewusstsein.

    In freudiger Erwartung blickte Titus gen Horizont, wo sich aus der schier endlosen Weite des Meeres ein sanfter Küstenstreifen erhob. Das Land war zum Greifen nah und schimmerte am Rande wie ein auf einem Gemälde verbildlichter Hoffnungsfunke. Die Aussicht auf das nahende Ufer weckte auf dem gesamten Oberdeck Glücksgefühle und Heiterkeit, aber auch Erleichterung. Erleichterung, dass sie alle diesen stürmischen Wutanfall der Götter überlebt und der ewigen Verdammnis am tiefen Meeresgrund entkommen waren. Noch nie hatte sich Titus so schmerzvoll nach festem Boden gesehnt. Seit zwei Tagen plagten ihn stechende Kopfschmerzen und eine blutige Beule, die Tamos notdürftig verbunden hatte. Angesichts der verheißungsvollen Küste vergaß Titus aber für einen Moment seine Pein und auch die Opfer, die dieser beschwerliche Weg gefordert hatte.


    Drei Männer waren bei der Sturmflut über Bord gegangen. Zwei Männer waren ihren klaffenden Wunden erlegen, die sie sich auf dem Oberdeck im aussichtlosen Kampf gegen die Meeresgewalt zugezogen hatten. Und dann, dann war da noch der Junge. Noch immer traf der ohrenbetäubende Schrei des Jungen Titus bis ins Mark und ließ ihn mit einem beklemmenden Schaudern zurück. Erst als sich der Sturm gelegt und die ersten Sonnenstrahlen des Tagesanbruchs den Frachtraum in ein hoffnungsvolles Glimmern gelegt hatten, war der Blick auf das Gräuel freigegeben. Wimmernd und klagend stützte sich eine Frau über den leblosen Körper ihres Jungen. Erst auf dem zweiten Blick wurde das Ausmaß des Unglücks deutlich. Mehrere losgelöste Amphoren waren auf ihn herabgestürzt und hatten seine Brustknochen zerschmettert. Regungslos lag er nun am Boden des Frachtraums und blickte eisig erstarrt in die Augen seiner trauernden Mutter. Der Kapitän wollte das tote Kind über Bord werfen, um ihm – wie er selbst gesagt hatte – die letzte Ehre zu erweisen. Wohl eher, vermutete Titus, wollte er der Verwesung und drohenden Krankheiten vorbeugen. Die Mutter hatte auf jeden Fall darauf bestanden, den Leichnam an Land zu bringen, zu waschen, und für ihren Sohn die Gebete zu sprechen. In einem Anflug von seligem Mitgefühl hatte der Kapitän dem Wunsch der Mutter entsprochen, wohl aber nur, weil die sizilianische Küste kaum mehr als zwei Tage entfernt gewesen war.


    Und nun war sie in Sichtweite, die rettende Küste.