Titus grub sich mit seinen Fingernägeln tief in die Holzfassade des Schiffes und suchte Halt. Immer wieder öffnete er für einige Sekunden seine Augen und vernahm nur Dunkelheit, die von grellen, wiederkehrenden Blitzen gestört wurde. Er zitterte am ganzen Leib und spürte die tosenden Wellen, die unerbittlich gegen den Schiffsrumpf hämmerten. Einzig der donnernde Lärm des Sturms, der die corbita fest umschlossen hatte, überdeckte das Wimmern und Flehen der Kinder, die im Frachtraum ebenfalls nach Schutz suchten. Ganz in der Nähe vernahm er das stoische Flüstern einer Frau, in einer Sprache die Titus völlig fremd war. Vielleicht ein Gebet? Er hoffte, dass die Frau ihn in ihre Gebete eingeschlossen hatte. Oder zumindest das Schiff. Vielleicht konnten ihre Götter ja dafür sorgen, dass er dieses Martyrium überlebte.
Titus wollte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier. Er konnte sich kaum ein jämmerlicheres Ende vorstellen als dieses – begraben am tiefen Meeresgrund, vergessen für alle Zeiten. Ob sein Vater gerade an ihn dachte? Wohl kaum. Wahrscheinlich vergnügte er sich mit seinen neuen Huren in Rom und verprasste sein Geld, so wie er es immer tat. Er hatte ihn alleine zurückgelassen.
Titus‘ Gedanken wurden jäh unterbrochen, als sich der markerschütternde Schrei eines Jungen in seine Ohren bohrte. Er bemühte sich zu erkennen, was passiert war, doch die Dunkelheit hatte den Frachtraum eingehüllt. Eine Frau schrie um Hilfe, doch es war keine Hilfe zur Stelle. Jeder war nun auf sich alleine gestellt. Oben an Deck kämpfte die Besatzung lauthals gegen den Sturm an, immer wieder durchdrang das gellende Gebrüll des Kapitäns das Poltern des Sturms. Doch es schien hoffnungslos. Titus hatte sein Schicksal in Neptuns Hände gelegt. Nun richtete der Gott des Meeres über ihn.
Hilflos suchte Titus in seiner Umgebung nach einem Zeichen. Vielleicht konnte er dieser Situation irgendwie entrinnen. Vielleicht gab es einen Ausweg. Vielleicht war es aber auch nur Einbildung, das sein Leben irgendetwas wert war? Was unterschied ihn nun von den ausgemergelten Gestalten an Bord des Schiffes? Sklaven, Kaufmänner, Edelmänner, alle waren sie nun gleich. Titus war einer von ihnen und teilte ihr Schicksal.
Kaum war diese demütige Erkenntnis in ihm gereift, versetzte eine Welle der corbita einen schallenden Seitenschlag. Titus verlor sein Gleichgewicht und für einen Moment auch seine Orientierung. Verwirrt suchte er im Halbdunkel nach einem festen Griff, einer Stütze, doch er krachte kopfüber unsanft gegen einen steinernen Gegenstand. Und dann? Finsternis.
...
Kopfschmerz. Beißender, stechender Kopfschmerz war das erste, was Titus spüren konnte, als er wieder zu sich kam. Dann folgte grelles, blendendes Licht, aber auch Wärme, die seinen Körper wohlig ummantelte. Benommen versuchte er seine Augen zu öffnen, seine Umgebung wahrzunehmen, doch er erkannte nur unscharfe Konturen.
“Ruhig…ruhig, mein Herr.“, durchdrang sogleich eine bekannte Stimme seinen tiefen Schlaf. Es war Tamos. Er hatte überlebt. Er hatte tatsächlich überlebt. “Hier, mein Herr, etwas Wasser.“ Die kühle Erfrischung benetzte seine Lippen und wirkte belebend. Vorsichtig öffnete er seinen Mund und verlangte nach mehr. “Was ist…wo…“ “Der Sturm. Der Sturm ist vorbei, du bist auf dem Deck.“ Erleichtert formte sich in Titus‘ Gesicht ein zurückhaltendes Lächeln. Er hatte den Sturm besiegt.