Alexandria.
Gedankenverloren starrte Titus auf das Impluvium, das inmitten des Atriums den seltenen Dezemberregen einfing. Das taktvolle Plätschern führte den jungen Fabius in eine Art Trance, die seine innere Unruhe trotz ihrer natürlichen Wohligkeit nicht gänzlich verdrängen konnte. Vor vielen Jahren schon beschlich ihn ein Gefühl der Angst, das er weder hinsichtlich seines Ursprungs noch seiner genauen Bedeutung zufriedenstellend deuten konnte. War es die Angst, seinen Vater zu enttäuschen? War es die Angst, womöglich ein Leben zu führen, zu dem er nicht im Stande war? Oder war es schlichtweg die Angst, die jeden Heranwachsenden beschlich und somit auch nichts Außergewöhnliches darstellte? Von Tag zu Tag schien sich dieses Gefühl immer weiter auszubreiten, als würde Arachne ihre Netze in seinen Adern spinnen. Allmählich trieb es ihn in eine Enge, aus der kein Ausweg ersichtlich war. Mit wem sollte er darüber sprechen? Seine Mutter war nur noch ein dunkler Schimmer seiner Erinnerungen, die selbst in seinen phantasievollsten Träumen keine konkrete menschliche Gestalt mehr annehmen konnte. Sein Vater war all das, was er nicht sein konnte, oder nicht sein wollte. Zögerlich und schwach hatte er Titus genannt, sogar weibisch hatte er ihn in seiner Trunkenheit gerufen. Vielleicht war es die Eigenart ambitionierter Väter, ihre Söhne als Abbild ihrer selbst zu sehen und sie in die Pflicht zu nehmen. „Werde endlich ein Mann“ hatte er gefordert, als er ihn zurück nach Alexandria geschickt hatte, um die endgültige Abkehr der Familie vom provinziellen Leben zu regeln, während er selbst in Rom seine Karriere vorantrieb. So recht konnte Titus sich nicht ausmalen, wie diese Mannwerdung zu bewerkstelligen war. Während sein Vater als Tribun der Classis seit jeher militärischen Drill und soldatische Ordnung vorlebte, war Titus diese Welt der kriegerischen Glorie völlig fremd. Wie sollte er in einer Disziplin bestehen, in der Gehorsam und der Umgang mit dem Gladius seine geistigen Fähigkeiten in die Bedeutungslosigkeit verbannten? Wie sonst sollte er zum Mann reifen? War es vielleicht gar nicht das Militär, das ihn in den Augen seines Vaters formen sollte? Was genau sollte er hier vorfinden, das ihn zum Mann werden ließ?
Urplötzlich wurde Titus aus seinen Träumereien gerissen, als er ein geräuschvolles Stapfen im Vestibulum vernahm. Noch immer auf der Kline liegend, mit dem Rücken zum Eingang gewandt, konnte Titus nicht sehen, wer die Domus Fabia betreten hatte, aber schon die Schritte des Eindringlings genügten um seine Identität festzustellen. Es handelte sich um Tamos, der seinem Vater seit jeher als Haushälter der Domus gedient hatte und nun der letzte Verbliebene im vormals üppigen Sklavenbestand der Familie war. Alle anderen Sklaven hatte Titus auf den Fremdenmarkt verkauft, oder vielmehr verkaufen lassen. Tamos war ein kleiner dicklicher Mann mittleren Alters, dessen genaue Herkunft Titus nicht kannte. Zweifellos war er Grieche, lebte aber schon immer in Ägypten. Zuvor hatte er im Hause eines reichen Gewürzhändlers gedient, bevor sein Vater ihn nach dessen Ableben auf dem Fremdenmarkt ersteigert hatte. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Leben des Hausdieners schien Titus aber nicht lohnenswert, immerhin konnte eine solche seinen eigenen Weg wohl kaum erhellen. Manchmal beneidete er den einfachen Sklaven, dem es trotz seiner unterlegenen Stellung in guten Häusern an nichts mangelte und dem die Bürde der Eigenverantwortung nicht anlastete.
Vorsichtig näherte sich Tamos seinem Herren und baute sich neben der Kline auf, während ihn Titus weiterhin keines Blickes würdigte.
“Mein Herr?“, bat er leise um Titus‘ Aufmerksamkeit, der sogleich sparsam nickte. “Ich habe den restlichen Bestand an Vasen, Geschirr und Skulpturen auf dem Markt verkauft. Die Domus habe ich einem Farbhändler aus Paphus versprochen. Ein vertrauenswürdiger Mann aus gutem Hause.“
“Gut, dann können wir endlich nach Rom aufbrechen.“, entgegnete Titus zufrieden
“Mein Herr?“
“Was ist denn noch?“, fragte der junge Fabius nun schärfer und blickte zum dicklichen Griechen.
“Die letzten Handelsschiffe haben bereits am Hafen angelegt. Die Handelswege liegen brach, bis der Frühling kommt.“
“Was genau willst du mir damit sagen? Soll ich hier…?“ Ungläubig und mit glühenden Augen starrte Titus dem Sklaven entgegen. Hatte ihn sein Vater wirklich in dem Wissen zurückgeschickt, dass er hier wochenlang alleine ausharren sollte? Für Titus war die Fahrt nach Rom seine erste Überfahrt gewesen, an die er sich auch selbst erinnern konnte. Weder kannte er die Gepflogenheiten der Schifffahrt, noch die Gefahren des Meeres, über das Poseidon wachte. Welchen Sinn hatte es, dass er nach Alexandria zurückgekehrt war, wenn er seinem Vater für lange Zeit nicht folgen konnte? Wut und das Gefühl der Bedeutungslosigkeit machten sich in ihm breit, während sein Blick noch immer an Tamos haftete. Ganz sicher würde er hier nicht alleine verharren. Also sollte Tamos eine Lösung finden und eine Überfahrt organisieren.
“Dann finde gefälligst ein Schiff, das nicht im Hafen ruht!“
“Ich…ja…ja, mein Herr.“, antwortete Tamos zögerlich und wandte sich eiligen Schrittes ab.
Noch immer plätscherten die dicken Regentropfen in das Auffangbecken und kündigten die kühlste Jahreszeit in der trocken-warmen Provinz an, während Titus sich unruhig von seiner Kline erhob und frustriert durch das Atrium wandelte.