Beiträge von Flavia Philotima

    Wie ein Vorhang senken sich die Lider der Philotima herab. Beschirmen sie vor dem trügerischen Licht, vor dem Schattenriss des Mannes davor, schwarz und gesichtslos. Rötliches Adergeflecht und goldene Funken tanzen vor den geschlossenen Augen.
    "Der Widersacher wird einige von euch ins Gefängnis werfen." spricht sie sanft.
    Und: "Ihr werdet in Bedrängnis sein. Zehn Tage lang."
    Zehn Tage?
    Zögernd öffnen sich die Augen. Blinzeln. Fester wird ihre Stimme.
    "Sei treu bis in den Tod, dann werde ich dir den Kranz des Lebens geben."
    Schweigen. Kälte sickert aus den Mauern, sickert aus den ebenso steinernen Gestalten der Soldaten in diesem Gefängnis. Philotima zieht ihr Umschlagtuch um sich, unwillkürlich.


    "Tiefe Nacht ist es bei euch. Tiefste Nacht verbreitet ihr. Ist euch nicht kalt? Wer bist du? Ist dir denn nicht kalt?"
    Sie stockt, strafft ihre knochigen Schultern, und wirft den Kopf zurück.
    "Ich verlange mein Recht: Meine Botschaft ist für den Geringsten wie für den Höchsten. Ich bin Flavia Philotima, Tochter des Titus Flavius Philotimus, Enkelin des Tiberius Flavius Animus, aus kaiserlichem Geschlecht. Das Gift rinnt in meinen Adern. Das Blut befleckt uns auf ewig, der Völker, die unter dem eisernen Tritt unserer Legionen den Tod fanden. Ich habe eine Botschaft zu überbringen, und es ist keine Zeit mehr! Verwehre mir nicht mein Recht: Ich muss den Kaiser sprechen."

    Als wenn ein Feigenbaum, geschüttelt vom Sturm, seine Früchte abwirft. Die Sonne ward schwarz gleich dem Trauergewand. Der Mond rot wie Blut.


    Tage und Nächte fließen ineinander. Was ist Wachen, was ist Traum? Wie lange mag es her sein, dass Philotima und ihr Mitbruder Molliculus, anfangs gemeinsam eingekerkert, voneinander getrennt wurden. Sie vermag es nicht zu sagen.
    Philotima betet. Rastlos. Immerzu sieht sie das Verderben welches über die Stadt kommen wird. Welches die Welt verschlingen wird. Zu wenige. Viel zu wenige haben die Augen geöffnet. Das Licht erblickt.
    Verblendung herrscht. Machtlos sind ihre Götzen. Und kopflos. Da stiehlt sich ein leises Lächeln auf Philotimas blutleere Lippen. Niemals hat sich etwas so gut angefühlt, wie das Brecheisen in ihren Händen.


    Die Märtyrerin Leontina wurde mit Dornen gegeißelt und enthauptet. Der frommen Cynthina Hände und Füße abgeschnitten. Die tapfere Theodora wurde, nachdem die wilden Tiere davor zurückschreckten, sie zu zerfleischen, zwischen Mühlsteinen zerquetscht.
    Was ist dagegen die Gefangenschaft. Die Unbill des Leibes, Philotima erträgt sie gefasst. Und wenn die Sehnsucht nach einem Bade... nach klarem Wasser auf der Haut... einem sauberen Gewand... Reinheit... übermächtig wird, dann erinnert sie sich daran: die Züchtigung des Fleisches ist die Läuterung der Seele.

    Domitian ist kopflos. Das abgeschlagene Haupt liegt zu Philotimas Füßen. Blicklos sehen die steinernen Augen zu ihr auf. Philotima steht und wartet. Wie oft hat sie diesen Augenblick in Gedanken bereits durchlebt. Sie wartet. Darauf, dass Läuterung und Friede über sie kommen, nun, da das fromme Werk getan ist.
    Philotima wartet vergeblich. Sie sieht Verrat und Gewalt. Ultor entschwindet mit der Sklavin. Ungläubig sieht Philotima ihm nach. War er denn nicht ihr Bruder in Christo? Welches falsche Spiel hat er getrieben? Ein unreiner Geist muss in ihn gefahren und ihn zu dieser Schandtat verleitet haben.
    Philotima legt das Brecheisen ab, ganz sanft auf den Sockel des Domitian.
    "Flavia Philotima."
    Sie lässt sich festnehmen ohne Widerstand zu leisten. Es hat so kommen müssen. Aber doch nicht so bald. So viel ist noch zu tun.

    "Bruder! Versündige dich nicht!" ruft Philotima erschrocken, als Ultor zur Waffe greift und die Sklavin bedroht.
    Die Götzendienerin kreischt. Myron sucht das Weite. Mollicullus hingegen stürmt beherzt voran. Philotima zaudert, doch nur einen Augenblick.

    Von ihrem frommen Werk dürfen die Getreuen sich nicht abhalten lassen. Sie tritt vor die Statue des Domitian. Diesen, der sich sich, wie man sagt, schon zu Lebzeiten als dominus et deus hat titulieren lassen, verachtet sie am meisten. All die Hoffart ihrer Gens sieht sie in der bräsigen Pose des Kaisers, all die Verworfenheit des flavischen Geschlechtes in dem feisten Kräuseln seiner Mamorlippen.
    Mollicullus wütet gegen Vespasian mit der Wucht eines Gewittersturmes. Philotima hingegen sucht nach der Schwachstelle des Götzen. Wie eine Schlafwandlerin holt sie mit dem Brecheisen aus und lässt es gezielt gegen die Halspartie des Domitian krachen. Wieder und wieder. Splitter fallen. Risse bilden sich.

    Philotima betet:

    "Oh Herr! Lass uns deine Werkzeuge sein! Läutere diese Stadt im Schmelztiegel deines Zorns!"

    In einer Neumondnacht | Nieder mit den falschen Götzen!


    Den Weg vom Aventin zum Tempel der Gens Flavia haben die Getreuen in zwei Gruppen aufgeteilt hinter sich gebracht. Hinter dem Tempel finden sie sich wieder zusammen: Ultor und Sulamith, Molliculus, Myron und Philotima.
    "Ihr sollt euch keine Götzen machen, noch Bild, und sollt euch keine Säule aufrichten in eurem Land, dass ihr davor Gebete sprecht. Denn ich bin der HERR, euer Gott."
    So spricht Philotioma mit gedämpfter Stimme zu dem dunklen Schemen ihrer Brüder und Schwestern. Sie schlägt das Zeichen des Kreuzes über ihnen.
    "Lasst uns unser gesegnetes Werk beginnen."
    Ultor verschwindet im Schatten des Gebäudes, um die Tempeltüre zu öffnen. Die anderen warten in dem umlaufenden Säulengang. Erst als Ultor ihnen einen Signal gibt, stoßen zu ihn.
    Nur Sulamith bleibt versteckt im Säulengang, um aufzupassen und die anderen wenn nötig zu warnen. Philotima ist dankbar dass ihre Schwester, trotz all ihrer Bedenken, sich zuletzt dafür entschieden hat, das richtige zu tun.


    Auf einer niedrigen Mauer unweit des Tempels sitzen, vage zu erkennen, zwei Männer. Nachtschwärmer wohl. Sie scheinen in ein Würfelspiel vertieft. Kurz zögert Philotima... was wenn sie etwas hören? Was wenn sie die Vigilen rufen? Einer der beiden hebt einen Weinschlauch an die Lippen.
    Philotima schilt sich für ihr eigenes Zaudern. Die Sache ist schon zu weit gediehen, um sie zu verschieben. Auf leisen Sohlen steigt sie die Treppen vor dem Tempel empor, und spürt bei jedem Schritt, wie flammend die Entschlossenheit in ihrem Herzen wächst. Die Entschlossenheit, so wie der Zorn auf die frevelhafte Vermessenheit des flavischen Geschlechtes. Das glaubt, Menschen zu Göttern erheben zu können. Das sich in dünkelhafter Hybris so bereitwillig der Verdammnis in den Rachen wirft. Das ihren Großvater in den Tod getrieben hat. Ihren Eltern stets mit Verachtung begegnete. Wie beißend war der Hohn der Basen, wie eisig die Geringschätzung der Flavia Agrippina. Wie demütigend war es damals, den Vater so zu sehen... sich anbiedernd, ein Bittsteller. Nur um eine weitere Ablehnung zu hören. Und Baiae wieder zu verlassen, geduckt wie ein getretener Hund.


    Ein Lichtstrahl fällt auf den Vorplatz, aus der Türe des Tempels, die nun einen Spalt weit offen steht. Nur schwach ist er, wie von einer Öllampe, doch nach der Schwärze der stadtrömischen Nacht erscheint er hell in den Augen der Getreuen.
    So viel gebetet. So viel gepredigt. So harthörig sind die Heiden. Doch die frommen Taten dieser Nacht werden sie nicht überhören können!
    Philotima blickt in die Gesicht der anderen unter den dunklen Kapuzen. Weggefährten, ein jeder so verschieden, und doch vereint in Glauben und Mut. Philotimas Finger umschließen fest das kalte Eisen der Brechstange, als die Vier, einer nach dem anderen, den Innenraum des Götzentempels betreten.

    "Achatius, reichst du mir bitte das Brecheisen? Hab Dank, Bruder."
    Philotima knotet ein Lederband um das schwere Eisengerät und verbirgt es unter ihrem Mantel.
    "Treu aber ist der Herr, der euch stärken und vor dem Bösen bewahren wird." spricht sie zu den Getreuen.

    Dann huscht sie aus der Casa, schlägt die Kapuze über den Kopf und tritt aus dem Lichtschein am Eingang in die Schwärze der Nacht. Der Worte sind genug gesprochen. Das Grüppchen setzt sich in Bewegung, durch die neumonddunklen Gassen des Aventin.

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    Verzweifelt krallt Binah ihre Hände in das Umschlagtuch, als einer nach dem anderen der jungen Leute laut seine Verblendung offenbahrt. Flehend sieht sie zuletzt zu Sulamith, doch diese sagt nichts.
    "Die Sache, die Sache!" schnaubt Binah und schüttelt Philotimas Hand ab. "Ihr seid doch alle vollkommen übergeschnappt. Nicht nur euch selbst werdet ihr ins Unglück stürzen, sondern uns alle gleich mit dazu!!"
    Binah steht auf, schüttelt zornig den Kopf.
    "Das wird böse enden!" sind die letzten Worte, die man noch von ihr hört, als sie die Kellertreppe hinaufsteigt und die Versammlung verlässt.




    Philotima erblasst bei Binahs Apell. Sie war oft im Waisenhaus. Hat mit den Kindern gebetet und die kranken unter ihnen gepflegt. Sie möchte nicht, dass ihnen ein Leid wiederfährt. Doch sich stellen? Was wird dann aus der Sache?
    Zum ersten Mal seit langer Zeit fehlen der Predigerin die Worte.
    Die Gemeinschaft spricht für sie.
    'Es gibt nur einen rechten Weg und der ist furchtlos voran.' sagt der unerschrockene Ultor.
    Und voll Überzeugung Molliculus: 'Philotima darf sich nicht stellen! UItor hat recht, wenn die Prätorianer einmal anfangen dann hören sie nicht auf bis sie den letzten von uns in ihren Kellern erledigt haben!'
    Güte und brüderliche Sorge spürt Philotima in Molliculus' Worten, als würde eine warme Hand die ihre drücken.
    Flammend stimmt Myron ihnen zu: 'Wenn Philotima sich stellt, dann können wir alle einpacken! Sie hat es geschafft, dass den Leuten die Augen geöffnet wurden.'
    So tapfer seine Worte, so verstohlen ist der Blick, mit dem er Philotima streift. Sie erwidert ihn dankbar.
    Nur Sulamith schweigt.


    Philotima erhebt sich und tritt an Binah heran. Sie legt der zusammengesunkenen Frau sacht die Hand auf die Schulter.
    "Liebe Schwester, mein Herz blutet vor Sorge um dich und deine Kinder. Ich wünschte ich könnte deiner Bitte willfahren. Doch ich kann es nicht. Unsere Sache ist größer als jeder einzelne von uns. Die Gemeinschaft hat gesprochen."

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    Abgekämpft und außer Atem nach ihrem Weg vom Aventin erreicht Binah das Haus der christlichen Gemeinschaft. Man kennt sie. Lässt sie ein. Die Andacht ist schon vorüber. Achatius druckst herum, als sie nach Philotima und Molliculus fragt. Doch Binah lässt nicht locker. Schließlich zeigt er ihr die Kellertreppe. Binahs Hand gleitet an der Wand entlang, als sie Stiege um Stiege hinabsteigt. Gen Kerzenschein und aufgepeitschter Stimmen.


    Resolut tritt Binah in das Konsil der selbsternannten Erlöser.
    "Schwestern, Brüder! Friede mit euch. Das Waisenhaus braucht eure Hilfe. Die Prätorianer waren bei mir. Sie suchen dich, Philotima!"
    Anklagend zeigt sie auf die Vordenkerin der Gemeinschaft.
    "Ihr habt sie herausgefordert, und nun drohen sie, mich zu verhaften, wenn ich nicht..."
    Kurzatmig sinkt Binah auf einen Stuhl. Ringt ihre Hände.
    "Wenn ich euch nicht verrate. Sie wollen meine Kinder in die Sklaverei schicken. Ihr habt sie herausgefordert! Auf dem Forum! Das haben sie nicht vergessen! Und nun sollen meine Kinder dafür leiden! Wir haben hier so lange gelebt, uns arrangiert, es war nicht leicht, aber wir haben es vollbracht, und nun kommt ihr und glaubt... und glaubt ihr könnt ihnen offen die Stirn bieten! Und was plant ihr nun schon wieder als nächsten Wahnsinn? Den Preis bezahlt nicht ihr, den Preis bezahlen die Schwächsten. Eine Woche habe ich Zeit, dann kommen die Prätorianer wieder. Es gibt nur einen Ausweg. Du musst dich stellen, Philotima!"




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    In den nächsten Tagen bemüht sich Binah, das Leben im Waisenhaus mit dem Anschein von Normalität fortzuführen. Doch die Kinder sind verstört. Sie schlafen schlecht. Die kleine Delia beginnt zu schreien wie am Spieß, sobald Binah das Haus verlässt. Über Stunden hinweg ist sie nicht zu beruhigen. Thaddaeus, der sich in den letzten Jahren so gut entwickelt hat, spricht kaum noch und nässt nachts ein.
    Das Verhängnis schwebt über dem Waisenhaus. Binah betet viel. Doch zudem sucht sie Wege, ihre Kinder im Notfall in Sicherheit zu bringen. Einige sind sanft. Sie erwecken Sympathie und könnten bei Glaubensbrüdern und -Schwestern unterkommen. Einige sind alt genug, sich als Dienstboten zu verdingen. Doch viele sind zu versehrt an Leib und Seele, um ein neues Heim für sie zu finden.


    Eines Abends, als die kleinen Kinder schon schlafen, lässt Binah sie in Obhut der älteren zurück. Sie schlingt ihre Palla aus grobem Leinen um sich. Tritt hinaus auf die Gasse und eilt im Schatten der grauen Mauern in Richtung der Via Ardeatina. Binah ist als junges Mädchen frischvermählt mit ihrem Mann in dieses Viertel gezogen. Nun ist sie eine alte Witwe. Sie kennt jeden Winkel auf dem Aventin.
    Binah hat zwar niemanden zu Gesicht bekommen. Doch sie fürchtet, dass die Prätorianer noch immer wie Geier über ihrem Haus kreisen. Darum wählt sie Schleichwege. Sie betritt eine Insula, gelangt durch deren Hinterhof in die benachbarte, durch diese auf eine Seitenstraße. Ausser Atem eilt sie eine Stiege den Hügel hinauf. Dann verweilt sie in der Werkstatt eines Schneiders, und beobachtet durch ein Fenster die Straße, bis sie sich sicher ist, dass ihr niemand auf den Fersen ist.
    Erst dann lenkt sie ihre Schritte zur Casa Didia. Es ist an der Zeit, ein ernstes Wort mit den jungen Leuten zu sprechen!




    "Schwester. Aus dir spricht die Furcht."
    Philotima sieht, wie sich ein Riss durch die Gemeinschaft zieht. Noch ist er fein. Doch sie ahnt, dass eine tiefe Kluft aus ihm entstehen wird.
    Es schmerzt sie. Sulamith ist ihr lieb.
    Nur ihr hat sie sich anvertraut. Nur Sulamith gegenüber hat Philotima ihr Herz erleichtert und von ihrer eigenen sündhaften Abkunft aus der Gens Flavia gesprochen. Sonst verschließt sie dies in ihrem Innersten, in einem stillen tiefen Schacht, ebenso wie den Ekel, den sie verspürt, wenn sie die Aussätzigen pflegt, ebenso wie die Zweifel, die auch sie bisweilen plagen, ebenso wie die ordinären Regungen, die sie verspürt, wenn der Blick Myrons wie der eines Engels auf ihr liegt.


    "Wir alle kennen diese Furcht. Die Furcht davor, diese Welt zu verlassen. Und wer könnte uns dafür schelten? Diese Welt ist voll Leid, und doch ebenso erfüllt von Schönheit und Wärme.
    Du bist nicht allein in deiner Furcht, Sulamith. Wenn ich den Glanz der Morgenröte sehe... die Freude eines von Krankheit genesenen Kindes... wenn ich die Mauersegler, die ihr Nest hier unter dem Giebel haben, sich im Winde tummeln sehe... dann wünsche auch ich mir, teilzuhaben an dieser irdischen Welt und... fürchte den Tod."

    Philotima blickt in die Runde.
    "Geht es euch nicht ebenso?"


    Eine strenge Falte tritt zwischen ihre Brauen, als sie weiterpredigt.
    "Doch wir dürfen nicht haften am irdischen. Die Wärme dieser Welt ist nicht für uns bestimmt. Diese Welt ist nur... das Vestibulum, durch das wir hindurch schreiten, die Schwelle auf der wir uns bewähren müssen, auf dem Weg in die ewige Seligkeit.
    Das wahre Glück ist nicht von dieser Welt. Wir haben das Wort des Herrn vernommen. Unsere Aufgabe, ja unsere heilige Pflicht ist es, Zeugnis abzulegen und dadurch so viele Verirrte wie nur möglich auf den Pfad der Rettung zu führen. Ich sage: lasst uns hinauswachsen über die Furcht! Wenn uns das Martyrium erwartet... dann sind wir in Gottes Hand.
    Lasst uns frei sein von der Angst. Lasst uns die Götzen stürzen! In der nächsten Neumondnacht schlagen wir zu! Lasst uns Zeugnis ablegen!!

    Ein mildes Lächeln auf den Lippen, verfolgt Philotima die Diskussion unter den Brüdern und Schwestern. Hört den treuen Molliculus. Den geheimnisvollen Ultor, der wie vom Himmel gefallen ein wertvoller Teil der Gemeinschaft geworden ist. Den begeisterten Myron. So rein ist seine Seele. Und Sulamiths beherzte Gegenrede.
    "Du hast recht, Sulamith, uns muß die Liebe leiten. Der Hass sei uns fern, wie der Heiland es uns lehrt. Doch dürfen wir uns nicht verschließen vor der Offenbarung: das Ende ist nahe. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Nicht aus Hass, aus Liebe zu den verirrten Seelen wollen wir ihre sündhaften Götzenbilder stürzen!"


    Sie schlägt die Augen nieder, hektische rote Flecken erblühen auf ihren Wangen. Ihr Stimme wird leise, beklommen, und um so eindringlicher.
    "Keine Gens hat so viel Schuld auf sich geladen wie... die Familie der Flavier. Hat nicht... ihr Ahn Vespasian Krieg, Blut und Verderben über das heilige Land gebracht? War es nicht sein Sohn Titus, der das auserwählte Volk dahinmordete, Jerusalem verwüstete, den Ersten Tempel plündern und brandschatzen ließ, seine Schätze raubte und nach Rom verschleppte? Ultor spricht wahr, welch unsäglicher Irrsinn, welch blasphemische Narretei, diese beiden und den zu recht nicht genannten Dritten zum Zerrbild von Göttern zu erheben!"


    Philotima blickt auf.
    "Sie vom Sockel zu stürzen, wird ein Werk der Gerechtigkeit sein! Und vergessen wir nicht: all das Gold und Gut in ihrem Götzentempel ist Raubgut! Geplündert aus dem Allerheiligsten, und den Unterjochten abgepresst. Wenn es das Leid der Armen dieser Stadt ein wenig lindern kann, wenn wir damit auch nur einen Frierenden wärmen, vielleicht ein Kind vor dem Verhungern bewahren können – dann ist es recht getan in den Augen des Herrn."

    Habt keine Angst, Zeugnis abzulegen!
    Über dieses Wort des Heilands hat Philotima heute vor der Gemeinde gepredigt. Danach haben die Gläubigen das Mahl geteilt. Nun ist es spät, und nur die getreuesten und entschlossensten Brüder und Schwestern sind in der Casa Didia verblieben. Sie haben sich im Kellergewölbe um einen Tisch versammelt. Ein Kandelaber spendet Licht.
    Philotima wiederholt:
    "Wir dürfen keine Angst haben, Zeugnis abzulegen!"


    In ihrem knochigen Gesicht glimmen die Augen mit dem Feuer der Gerechten. Nach der aufsehenerregenden Aktion beim Rednerwettstreit hat sie sich lange versteckt gehalten. Nun brennt sie darauf, das Wort des Herrn wieder zu verbreiten.


    "Es ist an der Zeit für eine neue Aktion. Lasst uns verkünden, und das nicht nur mit Worten."

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    Eingeschüchtertes und feindseliges Schweigen. Um so lauter ist nun das stete Schniefen des Mädchens an Binahs Röcken zu hören. Große Kinderaugen heften sich an die schöne Münze. Füße scharren. Unstete Blicke huschen zu der Mutter des Waisenhauses. Ein halbwüchsiger Junge mit grämlichem Gesicht sieht begehrlich auf das Geldstück, hebt an, etwas zu sagen, schweigt dann doch. Ein anderer, von einer schlimmen Hasenscharte entstellt, nuschelt:
    "Wir kenn gar keine Philotia nich, Herr Soldat!"
    Und als wäre ein Damm gebrochen, schütteln die Kinder die Köpfe, stoßen sich gegenseitig an und äußern einhellig: Nein, sie haben keine Ahnung.




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    "An einem Wegstein der Via Appia. Bei den Hinrichtungsplätzen. Dort habe ich sie im vergangenen Winter sprechen gehört. Ihr Name ist Philotima. Um sie ist eine Schar schwärmerischer junger Leute."
    Binah spricht ihre Halbwahrheiten mit gesenktem Blick.
    "Tribun. Ich und die meinen, wir achten die Gesetzen und geben dem Kaiser was des Kaisers ist. Lass nicht meine unschuldigen Kinder leiden für die Taten anderer."



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    Müde werden Binahs Züge. Müde und verhärmt, bei den Drohungen des Tribuns. Sie senkt die Augen. Binah und der gute Ort, den sie hier geschaffen hat, sie haben nicht grundlos so lange überdauert. Durch die Kunst, in der Not zu improvisieren. Durch unzählige Helfer. Durch Hartnäckigkeit und zuweilen auch durch Zurückweichen, weich wie Wasser, vor der Gewalt der Soldateska.
    Die provokanten Aktionen der jungen Mitbrüder und Schwestern aus der Casa Didia kann Binah nicht gutheißen. Die jungen Leute meinen es zwar gut. Sie haben das Waisenhaus auf verschiedene Weise tatkräftig unterstützt. Philotima hat die kranken Kinder gepflegt. Molliculus hat beträchtliche Summen organisiert. Gnaeus hat das Dach repariert. Lanata hilft beim Kochen.
    Doch Roma zu reizen, führt dazu, dass Roma zurückschlägt. Am Ende trifft es die Schwächsten. Binah muß Zeit gewinnen. Oh Herr, hab Erbarmen betet sie stumm. Was wiegt denn schon eine kleine Notlüge gegen das Wohl ihrer Schützlinge.
    "Ich will nicht so tun als wüsste ich nicht von wem du sprichst. Ich habe sie predigen gehört. Ich weiß nicht wo sie sich aufhält, aber ich... könnte es in Erfahrung bringen. Wenn du für den Schutz meiner Kinder einstehst, Tribun."



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    “Nie habe ich ein Hehl daraus gemacht, dass ich Christin bin. Aber wir achten die Gesetze, und wir achten den Kaiser. Ich gebe den Kindern ein Heim und zu essen. Ich erziehe sie zu anständigen Menschen. Willst du sie lieber auf der Straße sehen?“
    Standhaft verteidigt sich Binah gegen die Willkür des Soldaten. Mehrere Wellen der Verfolgung hat sie bereits erlebt und überdauert. Es ist ihr immer wieder gelungen, ihr gutes Werk wieder aufzubauen. Jahr um Jahr hat sie verlorene Kinder bei sich aufgenommen und mit dem Vermächtnis ihres verstorbenen Mannes irgendwie durchgebracht. Binah weiß sich und ihre Lieben in Gottes Hand. Die Kleine an ihren Röcken zieht vernehmlich die Nase hoch.
    Wer das Haus durchsucht, kann allerlei Dinge finden: Strohsäcke, Hausrat, gute Wolldecken, etwas Spielzeug, Küchenvorräte, einiges Werkzeug und eine kleine Holzwerkstatt. Im Obergeschoß liegt ein Unterrichtsraum, dort stehen auf einer Schiefertafel mit Kreide noch die Worte geschrieben:
    Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben.



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    Wie eine Löwin vor ihre Jungen, so tritt Binah den Prätorianern gegenüber. Sie stemmt die Hände in die Seiten. Den Rücken durchgedrückt. Die Augen, sonst so mild und gütig, blitzen kampfesbereit, als sie dem Tribun die Stirn bietet.
    “Was wollt ihr hier? Was erschreckt ihr meine Kinder?!“
    Schützend legt sich Binahs breite, abgearbeitete Hand um die Schultern der kleinen Delia. Das Mädchen, das gerade mit der Holzpuppe geworfen hat, klammert sich nun an die Röcke ihrer Ziehmutter und schluchzt bitterlich.