Beiträge von Sulamith

    Sie hatte Graecina gebeten zu Hause zu bleiben. Natürlich hatte sie ihr den Wahnsinnsplan von der Tempelschändung verheimlicht, denn sonst hätte die Iulia niemals zugelassen, sie gehen zu lassen.

    Wie immer hatte sie mit den Geschwistern gebetet und gegessen. Insgeheim hatte sie dafür gebetet, dass Philotima, Molliculus und all die anderen zur Besinnung kamen. Doch als der Abend vorangeschritten war und alle ganz aufgekratzt wirkten, weil sie nun aufbrechen wollten, kam auch für Sulamith nun der Augenblick, an dem sie sich endgültig entscheiden musste. Sie wollte sich definitiv nicht an den Schändungen beteiligen, da sie es für falsch hielt. Doch sie wollte ihre Geschwister auch nicht im Stich lassen. So entschied sie sich für den Mittelweg.

    "Na gut, ich werde mit euch kommen. Aber ich werde für euch nur Schmiere stehen. Falls jemand kommt, werde ich euch warnen."

    Sulamith nickte. Ja, Philotima hatte sie verstanden. Natürlich hatte sie Furcht. Was war sie denn schon? Eine schwache hilflose Frau. Eine Sklavin noch dazu. Nach allem, was ihr in den letzten Monaten zugestoßen war, hatte sie wieder neuen Lebensmut geschöpft. Graecina war dabei nicht untätig gewesen. Sie hatte alles Mögliche in Bewegung gesetzt, ihrer Sklavin und Schwester zu helfen. War nicht genau das, was erstrebenswert war im Leben? Am Schönen und Guten in der Welt teilzuhaben? Ein Teil davon sein! Jede gute Tat in dieser Welt machte sie etwas besser, etwas schöner. Sahen das die Brüder und Schwestern nicht? Waren sie mit Blindheit gestraft?


    Ja, sie waren es! Die Augen der Hebräerin weiteten sich vor Schrecken, als Philotima weitersprach und vom wahren Sinn des menschlichen Daseins predigte. Sie rief erneut die Geschwister dazu auf, sich an den fremden Götzen und Tempeln zu vergreifen. Darin sollten sie Zeugnis ablegen. Sulamith schüttelte fassungslos ihren Kopf. Nein, das war der falsche Weg, den sie gehen wollten. Gewalt hat selten zum Erfolg geführt, um die Menschen zu überzeugen und sie auf sie eigene Seite zu ziehen. Doch die Geschwister hingen begeistert an Philotimas Lippen.


    Als habe HaShem einen letzten Versuch unternommen, die Geschwister zur Raison zu bringen, betrat plötzlich Binah den Raum. Sie wirkte erschöpft und strahlte Furcht aus. Die Worte aus ihrem Mund waren eine Bestätigung ihrer Warnung an die Gemeinschaft gewesen. Schneller als gedacht, waren ihnen die Prätorianer bereits auf den Fersen. Philotima hatte sie zu sehr gereizt! Nun verlangte das Imperium nach Rache! Was würde es erst verlangen, wenn sie die Tempel und Götzen geschändet hatten!


    Offenbar war Binah die Einzige, die sich traute, der Gemeinschaft ins Gewissen zu sprechen und in ihren Worten steckte so viel Wahrheit! Die Schwächsten dort draußen würden die Zeche zahlen für den Wahnsinn, den Philotima und ihre Anhänger forderten. Sulamith musste miterleben, wie sich alle gegen Binahs Forderung wandten. Die Hebräerin selbst machte sich schuldig, dass die in diesem Moment nicht mehr ihre Stimme erhob und sich für das Waisenhaus und deren Hausmutter aussprach, denn ihr war bewusst, wie schwach sie doch war. Es hatte keinen Sinn, denn niemand würde auf sie hören.

    Die Hebräerin hatte direkt nach Graecina das Cubicilum verlassen und war mir ihr sie Treppe hinunter gestiegen. Doch dann, völlig unvorbereitet, konnte sie nur noch dabei zuschauen, wie die Schritte der Iulia größer wurden, ja sie fast sogar rannte und sich dann auch noch an den Decimus schmiegte. Sie blieb sie schließlich mit weitaufgerissenen Augen mitten im Atrium stehen, unfähig auch nur einen Ton herauszubringen. Hoffentlich nahm der Decimus ihr das nicht übel, denn so etwas geziemte sich einfach nicht!


    Ihr Gesicht entspannte sich etwas, als sie die Worte des Besuchers vernahm. Offenbar nahm er ihr gar nichts übel. Im Gegenteil, er spendete ihr Trost bot ihr Schutz an. Schließlich trat sie dann noch einige Schritte näher an Graecina heran. „Domina, es wäre besser, wenn etwas mehr die Distanz wahrst,“ wisperte sie ihr zu.

    „Danke!“ Die Hebräerin lächelte und setzte sich neben die Germanin ins Gras. Sie zog ihre Beine an und umschlag sie mit ihren Armen. Für einen Moment ruhte ihr Blick auf dem Kind in Idunas Armen. Wie unschuldig es war. Die Kleine war im Begriff einzuschlafen. Immer wieder wollten ihr die Augen zufallen, doch dann hatte sie es geschafft und schien endlich ihren Schlaf zu finden. Schlafende Kleinkinder sahen so niedlich aus. Ganz gleich woher sie kamen oder zu welchem Stand sie gehörten. Darin waren alle gleich. Die Gebräerin nickte zustimmend, denn die Mutter der Kleinen hatte recht, wie gut, dass ihr Kind von all den schlimmen Ereignissen, die die Germanin in letzter Zeit getroffen hatten, nichts mitbekam. Dann beantwortete sie Idunas Frage. Die Iulia hatte sich in letzter Zeit oft zurückgezogen. Sie ging kaum noch aus dem Haus. Selbst Sulamith hätte nicht sagrn können, ob sie dies aus lauter Angst tat.
    „Sie ist natürlich sehr über die beiden Morde schockiert und sehr traurig.“, antwortete Sulamith. „Ausgerechnet jetzt, da sie doch bald heiraten wollte.“ Oh je, hatte sie da zu viel verraten. Denn die Verlobung der Iulia war noch gar nicht spruchreif. Die Verhandlungen über eine mögliche standen noch ganz am Anfang. Aber der Decimus hatte doch ganz deutlich bewiesen, dass er es ernst mit Graecina meinte. Wäre er denn sonst am Abend der beiden Morde hier erschien mit seinen Freigelassenen, um die Domus zu beschützen?


    Doch was war mit Iduna? Wie fühlte sie sich? Schließlich hatte sie doch ihren Dominus und seine Cousine gefunden. Solch einen Anblick vergaß man lange nicht. Womöglich litt sie unter Alpträumen.
    „Und wie geht es dir, Iduna?“

    Aus Liebe wollten sie den Tempel schänden? Die Hebräerin sah Philotima ungläubig an und begann den Kopf zu schütteln. Das konnte doch nicht sein! Das widersprach allem, was Yeshua sie gelehrt hatte. Es musste doch einen anderen Weg geben, die Menschen zu überzeugen, dass sie den falschen Götzen dienten.


    Philotima versuchte ihr ins Gewissen zu reden. Ja, es war ihr sichtlich unangenehm, da es ihre Familie war, die so viel Leid über die Hebräer gebracht hatten. Es war ein Flavier gewesen, der die Heilige Stadt geplündert und den Tempel zerstört hatte. Es war ein Flavier gewesen, der die hebräischen Freiheitskämpfer drei Jahre lang in Massada belagert hatte und durch das Blut unzähliger hebräischer Sklaven eine Rampe erbauen ließ, um die Festung dann doch noch zu stürmen. Doch sie fanden dort nur den Tod vor. Alle hatten sich vor dem Eindringen der Römer das Leben genommen. Sulamith hatte die Geschichte als Kind oft genug gehört. Doch würde sie Gerechtigkeit empfinden, wenn sie nun die flavischen Götzenbilder stürzten? Nein, sie würde nichts dabei empfinden können, denn es würde nichts ändern. Ihre alte Heimat war verloren und ihr Volk war geknechtet. Nichts in der Welt hätte dies wieder rückgängig machen können.
    Doch bevor sie etwas hätte einwenden können, griff Myron sie heftig an. Selbst Molliculus, den sie bisher immer als gemäßigt eingeschätzt hatte, sprach sich für die Schändung des Tempels aus. „Und was ist, wenn es HaShem ist, der euch zürnen wird? Was glaubt ihr, wird geschehen, wenn ihr einen ihrer Tempel schändet? Ihre Soldaten werden uns verfolgen und jagen. Uns, die wir Peregrine oder Sklaven sind, werden sie ans Kreuz schlagen. Euch die ihr Römer seid, werden sie den Kopf abschlagen oder in der Arena von wilden Tieren in Stücke reißen lassen! Ist es das, was ihr wollt?“, warf sie ein. Ihre Wangen hatten sich gerötet, denn sie hatte sich so hineingesteigert. War dies das Ende, von dem Philotima sprach. Wenn es das war, dann war es nicht unausweichlich, sondern geplanter Selbstmord!

    Behutsam schritt die Hebräerin weiter, denn es gab keinen Grund zur Eile. Im Haus, sowie auch im Garten herrschte eine gespenstige Ruhe. Meist bewegten sich die Sklaven nur auf leisen Sohlen und sprachen sehr leise miteinander. Sicher mochte bei manchen dabei auch eine Portion Furcht gewesen sein. Furcht vor den Toten.


    Fast schon am anderen Ende des Hortus fand sie schließlich Iduna und ihr kleines Töchterchen. Die beiden hatten sich im Gras niedergelassen und die Kleine saß nun auf ihrer Mutter.
    „Salve Iduna,“ antwortete sie freundlich lächelnd. „Ich hoffe, ich störe euch beide nicht. Darf ich mich zu euch setzen?“ Vielleicht wollte die Germanin ja Sulamiths Angebot annehmen. Wenn sie sich ihr dann auch noch öffnete, hätte sie die Möglichkeit, all ihren Ballast, den sie momentan mit sich trug, loszuwerden. Natürlich würde die Hebräerin nicht ihre Probleme lösen können, doch wenn sie ihr die Gelegenheit bot, sich bei ihr all ihren Kummer von der Seele zu reden, dann war das schon mal ein erster Schritt. Die Hebräerin wusste das aus Erfahrung. Sie wusste aber auch, wie schwer es war, sich überhaupt zu öffnen, um das manchmal Unaussprechliche los zu werden. Doch Iduna konnte sich gewiss sein, in Sulamith eine geduldige Zuhörerin gefunden zu haben.

    Es dunkelte bereits, als Sulamith in Begleitung eines iulischen Custos die Casa Decima Mercator erreichte und das Schreiben der Iulia Graecina dort abgab.




    An
    Gardetribun
    Faustus Decimus Serapio
    Casa Decima Mercator
    Roma




    Salve Decimus,


    Deine wunderbaren Blumen und die köstlichen Süßigkeiten, über die ich mich sehr gefreut habe, haben mich in einem Moment der tiefsten Trauer erreicht.
    Unglücklicherweise muss ich Dir mitteilen, dass heute meine beiden Verwandten Iulius Caesoninus und Iulia Phoebe Opfer eines gemeinen und niederträchtigen Mordanschlages geworden sind. Ich bin untröstlich über diesen großen Verlust.


    Vale bene


    Iulia Graecina


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    Eine seltsame Schwere lag über der Domus Iulia und auch über ihren Bewohnern. Seit dem Eintreffen der Todesnachricht des Iulius Caesoninus und der Iulia Phoebe, waren viele Tränen geflossen. Klageweiber, die eigens bestellt worden waren, beklagten lautstark den großen Verlust. Das ganze Haus war in eine Art Schockstarre verfallen, aus der es sehr schwer war, wieder heraus zu kommen. Besonders diejenigen unter den Sklaven hatte es am schwersten getroffen, die die Leichname der beiden Iulier gefunden hatten. Eine davon war Iduna gewesen.


    Nach ihrer letzten Begegnung im Garten, hatte Sulamith sich vorgenommen, die germanische Sklavin in einem passenden Moment anzusprechen. Die Ärmste hatte es in jüngster Zeit nicht besonders einfach gehabt. Da war die Sache mit ihrem Gefährten Angus, dann war sie bei ihrem Dominus in Ungnade gefallen und nun hatte sie auch noch seinen Tod zu beklagen. Für eine junge Mutter, die neben ihrer Arbeit auch noch ihr Kind alleine versorgen musste, war dies sicher äußert schwer. Natürlich wusste die Hebräerin, dass sie Iduna nichts von alledem abnehmen konnte. Doch ein wenig Trost und ein paar gute Worte vertrug jeder Mensch!


    Sulamith hatte gehofft, sie irgendwo im Hortus zu finden, wo sie mit ihrem Kind an der frischen Luft die letzten sommerlichen Sonnenstrahlen genoss und dabei eine Arbeit verrichtete. So hatte man es ihr immerhin gesagt, als sie nach Iduna gefragt hatte.
    Sie trat hinaus und wurde zunächst durch das helle Sonnenlicht geblendet. Dann begann sie, nach ihr zu suchen.

    Sulamith war an diesem Abend alleine erschienen. Graecina war nach dem feigen Mordanschlag auf Mitglieder ihrer Familie einfach nicht fähig dazu gewesen, das Haus zu verlassen. Und auch Sulamiths Gedanken schwirrten im Moment überall und nirgends herum. Doch als sich Molliculus neuer Schützling zu Wort meldete, bündelte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Die Zeiten waren schon schwierig genug. Warum also noch mehr Hass und Gewalt? Hatten die Brüder und Schwestern, die sich solcher radikalen Methoden bedienen wollten, denn kein Vertrauen auf das Wort des Nazareners? ‚Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!‘


    „Es tut mir leid, aber ich kann mich nicht dafür erwärmen! Gewalt erzeugt noch mehr Gewalt! Die meisten von uns haben eine Familie. Wollt ihr etwa noch mehr Leid über sie bringen?“ Die Geschichte ihres eigenen Volkes hatte sie gelehrt, wohin Gewalt führte. Der Aufstand der jüdischen Zeloten hatte letztendlich dazu geführt, dass tausende Hebräer in der Sklaverei gelandet waren und viele ihrer Landsleute ihre Heimat verloren hatten. Nein, Sulamith konnte so etwas nicht gutheißen. Sie war entsetzt darüber, dass Molliculus, den sie bisher als besonnen und friedliebend wahrgenommen hatte, solche Taten guthieß.
    „Du willst dich des erbeuteten Diebesguts auch noch bedienen? Auch wenn du es für einen guten Zweck nutzen willst, ist es doch dennoch immer noch Diebesgut! HaShem verlangt aber von uns du sollst nicht stehlen!Was war nur alle in sie gefahren?


    Dann wandte sie sich an Philotima, die zu Anfang weise Worte gesprochen hatte. Doch war sie sich auch bewusst, was sie damit anzetteln konnte? „Du hast Recht Philotima! Wir sollten uns nicht davor fürchten Zeugnis abzulegen! Wir alle sollten uns darauf besinnen, wie stark wir im Glauben sind. Doch wir sollten nicht den Hass predigen! Denn das war es nicht, was der Nazarener uns auf den Weg gegeben hat!“ Mit jedem Wort war ihre Stimme lauter geworden, so dass es auch wirklich alle hörten. Vielleicht konnte sie somit doch noch einige von ihrem Plan abbringen.

    Sulamith erhob sich sofort und folgte der Iulia mit einigen Schritten Abstand hinunter ins Erdgeschoss.
    Wenige Herzschläge später nach ihrer Herrin erreichte auch sie das Atrium. Als sie das Gesagte realisierte, war es, als würde jemand ihr Herz zuschnüren. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Gleich zwei Iulier sollten tot sein? Heimtückisch ermordet? Während sie noch immer versuchte, das Unvorstellbare zu verstehen, trat sie fast automatisch näher an Graecina, um ihr beizustehen. Denn gewiss bedurfte sie nach solch einer schrecklichen Nachricht ihren Beistand.

    Stille und Ruhe taten der Hebräerin gut. Greacina tat alles, damit nichts, was ihrer Sklavin hätte schaden können, an sie herankam. Die gemeinsamen Nachmittage im Hortus der Domus Iulia waren dafür besonders geeignet. Die Gespräche der beiden Frauen und ihr Vertrauen auf Gott trugen dazu bei, dass die Genesung der jungen Hebräerin gut voranschritt. Trotz allem lag noch immer ein Schatten auf ihrer Seele. Noch immer verfolgten sie Alpträume in der Nacht und noch immer erschrak sie, wenn unerwartet ein männliches Wesen vor ihr auftauchte. Lediglich das Lachen der kleinen Ancilla rief so etwas wie Freude in ihr hervor und zauberte sogar manchmal ein Lächeln auf ihre Lippen.


    Auch Sulamith waren die Veränderungen im Hortus nicht verborgen geblieben. Aber auch sie fand keine rechte Erklärung dafür. Die bunten Wimpelgirlanden schienen auf ein heiteres Fest hinzuweisen, doch der mit einem Holzgitterzaun abgesperrte Bereich, der zudem mit Sand gefüllt war, ergab für die Hebräerin keinen Sinn. Allmählich begannen die Sklaven aus der Küche verführerisch duftende Speisen herbeizutragen, die sie auf die bereitstehenden Tische abstellten. Auch sie schienen sich auf etwas zu freuen. Worauf, erschoss sich ihr nicht.
    Doch dann hatte die Iulierin ihre Cousine erblickt. Womöglich wusste sie mehr. Sogleich schlug sie in die Richtung, hin zu Iulia Phoebe ein. Da sich Graecina bei ihr eingehakt hatte und sie sie nun unweigerlich mit sich zog, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Ancilla erkundete währenddessen den Garten und mischte sich unter die Küchensklaven, in der Hoffnung, dass etwas Süßes für sie abfiel.


    Sulamith verweilte an der Seite ihrer Freundin und lauschte schweigend ihrer Konversation mit dem Decimus. Graecina wirkte sehr gelöst, ja fast schon ein wenig zu überschwänglich. Alle Bedenken, die sie wegen dieses Treffens hatte, schienen wie weggeblasen. Hauptsache sie war glücklich und würde es auch immer bleiben. Die Hebräerin würde sie in ihre Gebete mit einschließen, damit der Allmächtige all ihre Wünsche in Erfüllung gehen ließe.
    Aber auch auf sie selbst machte der Decimus einen guten Eindruck. Doch noch war es viel zu früh, eine genaue Einschätzung zu machen. Sie kannte ihn ja kaum und konnte daher nicht wissen, wie er sich im Alltag verhielt. Letztendlich würde sie auch in seiner Nähe leben müssen, wenn es zu einer Verbindung kam. Ein Indiz aber, dass er zu seinen Sklaven gut war, war die Tatsache, dass er seinen Begleiter schon recht früh in die Freiheit entlassen hatte. Decimianus Icarion stand fast noch in der Blüte seiner Jugend. Sie nickte ihm freundlich zu, als der Decimus ihn vorstellte.


    Bis zu jenem Moment schien auch alles gut für Sulamith zu laufen. Es ging ihr gut, wie seit langem nicht mehr. Zwar war sie noch immer sehr zurückhaltend, sprach nur, wenn man sie etwas fragte oder wenn sie etwas für sehr dringlich erachtete. Doch dies gehörte alles nur zu ihrer Fassade. In ihrem Inneren aber hausten noch immer die Dämonen, die sie des Nachts regelmäßig mit Alpträumen peinigten und sie am Tage immer wieder mit Angstzuständen marterten.
    Als sie den Hof betraten und Graecina den Namen Tiberios aussprach, zuckte sie plötzlich zusammen. Mit dem jungen Griechen assoziierte sie jene Nacht des unaussprechlichen Grauens, das ihr widerfahren war. Sie lenkte kurz ihren Blick zu ihm, nur um ihn ganz schnell wieder abwenden zu können.


    Als ob dies noch nicht genügt hätte, um sie an die schlimmsten Momente ihres Lebens zu erinnern, hielten sie kurze Zeit später an einem der Werke an, dessen Titel sie ebenfalls erschaudern ließ. Kainis verwandelt sich in Kaineus. Sie kannte die Geschichte des Mädchens Kainis, die von Poseidon vergewaltigt worden war. Aus Reue hatte der Meeresgott ihre Bitte entsprochen und sie in den hässlichen, aber starken und unverwundbaren Mann Kaineus verwandelt.
    Ihr Körper verkrampfte sich bei diesem Anblick. Niemand hatte Reue für das empfunden, was ihr angetan worden war. Niemand hatte sie verwandelt.

    Die Hebräerin staunte nicht schlecht, als Graecinas Bekannter plötzlich einen Blumenstrauß in der Hand hielt und diesen der Iulia überreichte. Sollte das etwas der Decimus sein, den sie erwarteten? Hätte er sonst diesen bezaubernden Blumenstrauß parat gehabt? Und hätte er ihrer Freundin dann auch noch solch ein Kompliment gemacht? Nein, nein, Graecina hatte den richtigen Riecher gehabt, als sie auf ihn zugegangen war. Also hatte HaShem ihren Wunsch erfüllt.


    Graecina überreichte ihr die herrlichen Blumen und für einen Moment begannen ihre Augen wieder wie früher zu strahlen. Diese Blumen waren wahrlich der Beweis, dass es Gott gab. Hätte es denn sonst etwas so schönes auf dieser Erde geben können?


    Ihre Freundin hatte zum Glück auch sofort begriffen, dass dies der von ihnen erwartete Decimus war. Um genauer zu sein: Decimus Serapio, dessen Name sie noch kurz vor ihrem Aufbrechen in einer Notiz gelesen hatte. Vielleicht war dies ja der Zukünftige ihrer Freundin und Herrin. Zumindest schenkte er auch ihr einen freundlichen Blick, den sie allerdings aufgrund der letzten Ereignisse erröten ließ und sie sich plötzlich etwas unwohl fühlte. Um ihren Blick abwenden zu können, wandte sie sich zu dem Custos um und überreichte ihm den Blumenstrauß. Außerdem konnte sie so auch ihrer Aufgabe als Anstandsdame besser gerecht werden.

    Bevor die beiden Frauen losgegangen waren, hatte Sulamith ihrer Freundin noch einmal zuversichtlich zugelächelt. Sie hatte gespürt, wie aufgewühlt Graecina war. Auch ihre Anspannung war nicht von der Hand zu weisen. „Du siehst wunderschön aus!“, hatte sie ihr gesagt, als sie die Domus verließen.

    Angus begleitete sie zu ihrer Sicherheit. Seit jener Nacht hatte sie kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Überhaupt hatte sie wenig gesprochen. Sie fühlte sich in der Gegenwart von Männern befangen und scheute sich daher, mit ihnen zu sprechen. Lediglich das Allernötigste sagte sie, wenn sie etwas gefragt wurde oder wenn es die Höflichkeit gebot.


    Ihr Ziel war das Atelier eines Künstlers, der dort seine Werke ausstellte. Wie sie gehört hatte, war Delios Bildhauer. Offenbar war er sogar ein ganz Großer seines Faches. Zumindest behaupteten dies die Kunstkenner, zu denen die Hebräerin definitiv nicht gehörte. Ihrem Glauben nach war es eine Sünde, wenn der Mensch sich ein Abbild Gottes schuf. Ebenso galt dies auch für Bildnisse von sich selbst schuf, denn letztlich war der Mensch ein Teil der Schöpfung HaShems. Aus diesem Grund wollte sie sich ganz auf ihre Rolle als Anstandsdame konzentrieren. Auch sie war sehr darauf gespannt, wenn die Iulia dort treffen würde. Und ja, sie hoffte für Graecina, dass es sich nicht um einen Tattergreis handelte.


    Wie es schien, hatte sich schon eine größere Menge von Besuchern eingefunden. Wie es der Zufall wollte, hatte ihre Freundin auch gleich einen Bekannten getroffen, zu dem sich auch sofort gesellte. Natürlich begleitete die Hebräerin sie. Doch vielleicht war es besser, sie daran zu erinnern, dass sie aus einem anderen Grund hier war. „Domina, darf ich dich an deine Verabredung erinnern?“, raunte sie ihr zu. Nur in der Öffentlichkeit nannte sie Graecina Domina. Für manche Menschen wirkte es befremdlich, wenn sich zwischen einer Domina und ihrer Sklavin eine zu freundschaftliche Bindung entwickelte.

    Zwei Tage warenwaren vergangen, seitdem Sulamith Ancilla, das kleine Sklavenmädchen gerettet hatte und sie selbst vergewaltigt worden war.
    Die Hebräerin fühlte sich erbärmlich. All ihre Lebensfreude war verschwunden. Sie sah blass aus hatte in den letzten beiden Tagen kaum etwas Essen zu sich genommen. Graecina, die sie zur Versammlung begleitete, hatte alles Menschenmögliche getan. Der Medicus, den sie hatte rufen lassen, hatte ihr geraten, die Hebräerin zum Tempel des Aesculap zu bringen, um ihr dort einen Tempelschlaf angedeihen zu lassen. Doch dem war sie nicht nachgekommen, nicht nur weil ihre Sklavin Jüdin war, auch weil sich die Römerin inzwischen vom cultus deorum abgewandt hatte. Stattdessen hatten sich die beiden Frauen nun auf den Weg zum ager vaticanus gemacht.


    Eingehüllt in eine dunkle Palla, die sie nicht nur gegen neugierige Blicke, sondern auch gegen die Kühle der Nacht schützen sollte, hatte sie mit der Iulia die Domus verlassen. Die Hebräerin hielt eine brennende Fackel in der Hand, denn inzwischen war es schon richtig dunkel geworden. Jedoch sie empfand keinerlei Furcht, allein mit ihrer Herrin durch die Gassen zu laufen. Nach allem was sie erlebt hatte, konnte ihr nicht Schlimmeres mehr zustoßen.


    An ihrem Versammlungsort hatten sich bereit schon einige Gläubige und Neugierige eingefunden. Die Hebräerin schien wieder ins Nichts schauen. Das Funkeln in ihren Augen war erloschen. Eine einzige Frage beschäftigte sie die ganze Zeit: Warum hatte Gott das zugelassen?

    Neben ihr auf dem Bett regte sich etwas. Graecina erwachte langsam aus ihrem Schlaf, während das Kind weiterhin noch fest schlief. Wenige Herzschläge später drang dann ihre Stimme an Sulamiths Ohr. Ihre Worte waren ein verzweifelter Versuch, die Hebräerin aus ihrem Gefängnis herauszuholen, in dem sie gefangen war. Allerdings verfügte Sulamith nicht über die nötige Kraft dafür, die Hand der Iulia zu ergreifen und sich daran hochzuziehen. Ihr Unvermögen und die Hilflosigkeit rührte sie zu Tränen, die still an ihren Wangen herunter liefen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihre Hände. Der Drang, den Schmerz einfach hinauszuschreien, war groß, doch ihre Stimme versagte ihr, was sie noch weiter bedrückte.
    Man sagte, die Zeit heilt alle Wunden. Doch ob sie auch solche Wunden heilen konnte, war fraglich. Gab es noch eine andere Kraft, die ihr helfen konnte? Wie stand es mit ihrem Glauben, auf den sie immer fest vertraut hatte und der bisher durch nichts hatte erschüttert werden können. Doch die eine Frage, die sie seit letzter Nacht umtrieb, die ihr einfach keine Ruhe geben wollte, war die Frage: Warum? Warum hatte ihr Gott das zugelassen? Sie hatte doch so selbstlos gehandelt, wie sie es immer wieder in den Versammlungen gehört hatte. Warum also hatte Gott nicht seine schützende Hand über sie gehalten und ihren Peiniger mit einer schrecklichen Plage belegt? Oder aber hatte er sich von ihr abgewndet?

    Die Nacht war den ersten Sonnenstrahlen gewichen, die sich am Horizont angekündigt hatten. Der neue Tag, der gerade erst angebrochen war, wirkte noch so jungfräulich und unschuldig. Doch die Nacht, die zu Ende gegangen war, hatte das Übelste und Boshafteste hervorgebracht, was das Verständnis der jungen Frau, die nun auf der Bettkante saß und ins Nichts starrte, überstiegen hatte. Neben ihr auf dem Bett lagen Graecina und Ancilla, die ineinander verflochten schienen. Die Müdigkeit hatte die junge Römerin im Laufe der Nacht übermannt, nachdem sie sich aufopferungsvoll um ihre hebräische Sklavin gekümmert hatte.


    Sulamiths Körper war übersät mit blauen Flecken – die Schandmale, die ihr ihr Peiniger zugefügt hatte. Jede noch so kleine Bewegung schmerzte. Doch der Wunsch nach Reinheit hatte sie dazu veranlasst, die Schmerzen in Kauf zu nehmen. Noch vor der Dämmerung hatte sie sich ins balneum servorum begeben, um ihren Körper zu reinigen. Der Geruch des Mannes, der sie geschändet hatte, haftete noch immer an ihr. Dieser Geruch bereitete ihr Übelkeit.
    Wie im Wahn hatte sie ihren Körper mit einer Bürste geschruppt, bis ihre Haut krebsrot war. Das Wasser konnte zwar den sichtbaren Schmutz von ihrer Haut zu waschen, doch es vermochte nicht das fortzuschwemmen, was tief in ihrem Inneren verunreinigt worden war. Mit dieser Schande, mit diesem Ekel vor sich selbst würde sie fortan leben müssen. Nichts und niemand würde sie davon befreien können. Nicht einmal ihr Glaube!


    Die ersten Strahlen der Sonne schafften es schließlich, durch das kleine Fenster hindurch ins Cubiculum ihrer Herrin zu scheinen und erhellten es auf diese Weise. Das warme Sonnenlicht erreichte die junge Frau, die auf der Bettkante saß. Doch sie erkannte das Licht nicht. Ihr Blick ging in eine angsterfüllte Dunkelheit.