Beiträge von Kyriakos

    Nicon


    Das hatte man nun davon, wenn man den Urbanern ihre Fragen beantwortete! Er war viel zu nett gewesen, er hätte stattdessen einfach weglaufen sollen, wie es alle taten, wenn das Klimpern der Soldatengürtel und das Schlagen der genagelten Sohlen auf den Steinboden nahten. Nicon ging davon aus, dass man Kyriakos mit ihm erpressen wollte. Er sollte Aussage machen, sonst würde man Nicon foltern und töten. Nur würde das nichts nützen. Kyriakos konnte ein Stein sein. Nach einigen Stunden wurde von einer unerträglichen Unruhe und Übelkeit gepackt. Er presste den Mund an die winzige Gitteröffnung der ansonsten massiven Eisentür.


    "Wache! Ich habe meine Amphore beim Ganymed vergessen. Kann einer die mir bringen?"


    Dass sie leer war, hatte er vergessen. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und sein Mund war vollkommen trocken. Die Zunge fühlte sich an wie ein Stoffklumpen, den jemand in seinen Rachen gestopft hatte und von ihrer Anwesenheit wurde ihm schlecht. Er versuchte, durch Würgen das Gefühl loszuwerden, doch seine eigene Zunge fühlte sich an wie ein Fremdkörper. Ihm kam Magensäure hoch. An was für einer Krankheit er litt, wusste er nicht, aber ihm war bekannt, dass der Wein dagegen half. Darum musste er darauf achten, nicht zu wenig zu trinken.


    "He", rief er heiser, nachdem er die Magensäure in eine Ecke gespuckt hatte, "ich brauche meine Amphore! Bitte!"

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    Pollux


    << Trajansmärkte


    Die Subura glich in Geruch und Aufbau einer kranken Darmlandschaft. Ihre verschlungenen Pfade stanken zum Himmel, der Unrat von Menschen und Ochsen stand knöcheltief in der abgesenkten Straße. Wagenspuren und Hufabdrücke trockneten in der Mittagssonne, denn die Fuhrwerke durften nur Nachts in die Stadt. Munter spazierte Pollux barfuß über den Dreck, ohne auch nur nach unten zu sehen. In dem Labyrinth der Nebengassen verlor ein Fremder innerhalb weniger Kreuzungen die Orientierung. Doch der wohlhabende Mann hatte ja Pollux als Führer.


    "Unsere Mutter tat alles, um uns allein durchzubringen", plauderte der rothaarige Jüngling, während er über einen toten Hund hopste, über dem dicke Fligen brummten. "Dabei kam sie selbst um, man könnte sagen, sie schenkte zuerst uns das Leben und dann schenkte sie uns auch noch ihres. Sie hat uns sehr geliebt. Vermutlich stehen ihrem manis die Tränen in den geisterhaften Augen, wenn sie sieht, welch edelmütiger Mann sich der Not ihres Söhnchens erbarmt!"


    Pollux hielt inne und drehte die Augen gen Himmel. In der Ferne hörte er dabei Lärm, der ihm nicht gefiel. Die Situation bei der Urbanerstation schien sich eher zuzuspitzen als zu entspannen. Die Urbaner brüllten herum und denen wollte er lieber nicht über den Weg laufen. Er strahlte den Mann an.


    "Ich bin übrigens Pollux. Für uns machen hundert Sesterze den Unterschied zwischen Leben und tot. Für dich vermutlich nur den zwischen einem guten Essen und einem sehr guten. Eine Kleinigkeit, nicht der Rede wert, vermutlich schüttelst du die hundert Sesterze aus dem Ärmel, ohne sie auch nur zu bemerken, doch wir werden dein Geld hochhalten, ehren und umsichtig verwenden!"


    Er bog er in eine schmale Seitengasse ab, in die man kaum hineinpasste. Durch ein schmuddeliges Labyrinth im ewigen Häuserschatten führte er den feinen Herrn immer tiefer in die Eingeweide der Subura hinein.

    Nach den letzten Worten von Serenus geschah etwas Merkwürdiges: Die Musikanten hörten auf zu spielen, die Tänzer hielten inne und jede Stimme verstummte. Die Zeit stand um die beiden Satyrn herum still. Sie schienen sich in einer Abkapselung der Wirklichkeit zu befinden, als sie sich gegenseitig durch die Öffnungen der Masken tief in die Augen sahen. Kyriakos stutzte. War das eine Nebenwirkung des Rausches? Oder meldete sich tatsächlich eine Gottheit zu Wort? Was geschah hier? Ein plötzliches Flammenrauschen zerriss die Zeitkapsel. Erbarmungslos wurden die beiden Satyrn zurück in die Gegenwart geschleudert, wie um sie daran zu erinnern, dass sie unter ihren Masken Sterbliche waren, dem Werden und Vergehen erneut ausgeliefert. Ihre Zeit verrann, die Nacht verstrich und wie, um das aufzuhalten, hielt Kyriakos Serenus noch stärker fest.


    Die Mänade, die den Zeitzauber mit ihrem Feuer aufgehoben hatte, erhob kraftvoll ihre Stimme. Das Aussehen des singenden Wesens befand sich in jener geheimnisvollen Schwebe zwischen Mann und Frau. Ein neuer Zauber begann. Und nach kurzem Zögern empfand Kyriakos ihn nicht weniger angenehm als den vorherhigen. Denn verstreichende Zeit verhieß auch Zukunft. Die Satyrn waren zu einem eng umschlungenen Paar verschmolzen. Die heißen und von Bartstoppeln umsäumten Lippen des Serenus fuhren über Kyriakos´ Schulter. Licht und Schatten ... dieser Gegensatz verschwand, als sie eng umschlungen dem Musikstück lauschten, das Kulisse ihrer eigenen Bühne zu sein schien, als würde die Mänade ihnen zu Ehren singen, anstatt dass sie hier nur zu Gast waren. Das war ihr Abend, der von Serenus und Marsyas, vom Sonnensatyrn und vom Dunkelsatyrn, zwei Gegensätze vereint.


    Noch mehr erwecken wollte Serenus ... Kyriakos lächelte und heute lag keinerlei Selbstgefälligkeit darin. Stattdessen zog er Serenus noch näher an sich heran, so dass er spüren konnte, dass das bereits geschehen war.


    »Dein Zauber war schneller als deine Zunge«, raunte er, während er sich langsam an ihm rieb.


    Kyriakos kostete vom Licht des Serenus und Serenus von der Dunkelheit des Marsyas, als sie sich eng umschlungen streichelten. Kyriakos` Finger fuhren ins Genick von Serenus, um ihn dort, wo der Haarschopf begann, festzuhalten. Eine deutliche Bewegung des anderen Satyrn würde dazu führen, dass Kyriakos ihn wieder freigab. Doch es gab Leute, die mochten es, wenn man sie sicher hielt. Mit der eisernen Nase fuhr er die stoppelige Halspartie des anderen Satyrn englang, sich dem Ohr nähernd, in das er sanft den Eisenmund drückte.


    »Und vielleicht vermag ich es ja auch bei dir.«

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    Pollux


    Ein Zögern war kein Nein. Der Mann war noch immer zur Hilfe zu überreden. So stand Pollux auf, wobei er darauf achtete, dem Herrn nicht zu dicht auf die Pelle zu rücken, da er ein unterdrücktes Ekelgefühl in dessen Gesicht zu sehen glaubte.


    "Du bist natürlich im Zweifel, weil es heutzutage so viele Betrüger gibt", sprach Pollux verständnisvoll. "Das ist dein gutes Recht, sehr weise, sehr schlau! Aber ich kann dir zeigen, dass ich nicht lüge. Es gibt Dinge, darüber macht man keine Scherze! Und kleine Brüder sind eines davon." Er wies in Richtung der Subura. "Soll ich dir zeigen, wo die Katastrophe stattgefunden hat? Es ist nicht weit, mein Brüderchen liegt dort. Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen", fuhr Pollux mit banger Stimme fort.

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    Pollux


    Als der Herr sich umdrehte, sah er einen Jüngling in einem ärmlichen Chiton. Um seine Stirn trug er einen blutigen Verband. Seine Arme waren fleckig von Dreck und Blut. Er reckte einen kaputten Becher in Richtung der vorbeigehenden Passanten, doch die meisten sahen ihn nicht einmal an. Am Grund des Gefäßes lagen einige nahezu wertlose Münzen. Als Pollux bemerkte, dass der wohlhabend wirkende Mann ihn ansah, reckte er den Becher in dessen Richtung.


    "Guter Mann, bitte hab Erbarmen, es geht um Leben und Tod. Mein kleiner Bruder wurde bei einem Überfall in der Subura schwer verletzt. Hundert Sesterze verlangt der raffgierige Medicus zur Rettung meines Brüderchens, aber uns bleibt nicht viel Zeit. Ich habe nicht einmal Geld für etwas zu Essen und soll eine solche Summe auftreiben! Hast du nicht ein paar Münzen zu entbehren?"

    Serenus versuchte wohl, ihn zum Sprung einzuladen, doch Kyriakos war nicht in der Lage, der Bewegung zu folgen. Die plötzliche Bewegung riss ihre Arme kurzzeitig vom anderen weg. Serenus sprang aus dem Stand so hoch, dass seine Füße einen Augenblick in Hüfthöhe von Kyriakos schwebten. Die Fersen schlugen aneinander, dann stand der Puschelohrige wieder neben dem strauchelnden Kyriakos. Dessen Hand fasste rasch die Chlamys an Serenus´ Flanke, so dass er seinen festen Stand wiederfand.


    »Immer langsam!«


    Unter der ernsten Maske lachte Kyriakos leise über die überschwänglich gute Laune des Genius´ vom Weinberg, der ihn nun mit Komplimenten überhäufte, während er den nackten Bauch des Dunkelsatyrn befühlte. Kyriakos hielt einen Moment inne, um die Liebkosung auf sich wirken zu lassen, wobei er seinen Bauch nicht zusätzlich anspannte, um mit seinen Muskeln zu prahlen, sondern nur genoss. Die Art, in der Serenus sich gab, hatte etwas Einnehmendes und Entwaffnendes. Sogar ihm, der schon viele Schmeicheleien gehört hatte, trieben diese Worte das Blut die Ohren oder vielleicht war es auch die Zärtlichkeit - oder vielmehr beides zugleich. Der alte Götterfresser Kronos sollte ihn verschlucken, wenn er da nicht mithalten wollte. Kyriakos griff die Lichtmetapher auf, die der andere Satyr verwendet hatte, um seine eigene Schwärmerei in ein Gewand aus Worten zu hüllen, während seine Hand nun den Konturen der Taille hinauf folgte, um die Brust von Serenus zu befühlen, die unter zu viel Stoff verborgen lag. Doch der Saum ließ sich zur Seite streichen, was Kyriakos nun tat, den er wollte die Haut spüren und die vielversprechende Muskulatur, die sich darunter wölbte.


    »Und du, mein heiterer Serenus«, sprach Kyriakos, »warst von deinem Massiker in Licht verwandelt. Du hast Helios als Funken über den Himmel begleitet. Du brachst als Sonnenstrahl durch die Winterwolken. Wie der erste Frühlingstag nach langem Frost hat du die Eisdecke meines Flussbettes getaut und mich erneut geweckt. Durch das Dunkel folgte ich deiner Spur. So trafen wir uns hier.«


    Kyriakos taute wahrlich immer weiter auf. Es war sieben Jahre her, seit er das letzte Mal ausgelassen gefeiert und mit jemandem in spielerischer Manier gesprochen hatte. Die anfänglich wachsame Zurückhaltung war vom Sonnenwein und von Serenus´ guter Laune hinfortgespült worden. Kyriakos war rundum glücklich.

    Nicon


    Auch Nicon musste büßen. Taumelnd ließ er sich vorwärtstreiben, wobei er wehklagte und sich und sein Schicksal bedauerte. Zwischendurch fluchte er. Den ganzen Weg über versuchte er, die Urbaner zu überzeugen, sich auf einen Handel mit ihm einzulassen. Da er betrunken war und auch nüchtern nicht zu den hellsten Lupos zählte, fielen ihm keine überzeugenderen Argumente ein als das, was er schon einmal vergebens versucht hatte, was er nun in verschiedenen Abwandlungen ausprobierte, ehe er wieder in Selbstmitleid versank und schließlich verstummte.

    Nicon


    Ungläubig starrte Nicon den Urbaner an. Ihm fiel auf, dass er den Kerl kannte. Lulu oder so hieß der. Komisch, an den konnte er sich erinnern, aber nicht an den anderen, der ihn beim Namen genannt hatte. Sein Gedächtnis war scheinbar doch schon löchriger, als er dachte, und das war gut. Er wünschte es sich als ein Sieb, durch das alles Überflüssige hindurchrieselte. Er nickte eifrig, als die Frau bestätigte, die Urbaner hätten den Falschen im Visier.


    "Wir haben doch nicht Iugurtha abgestochen! Würden wir nie tun. So Typen waren das", sagte Nicon in dem Versuch, seinen Hals zu retten. "Kyri kennt sie! Er weiß, wer die waren, glaube ich. Aber der ist bei Velia. Was mit Eierin ist, weiß ich nicht. Ich kenn die nicht weiter. Am besten Kyri fragen."


    Leute an Kyriakos weiterzuleiten, war immer eine gute Idee. Dann wackelte Nicon auf einmal mit den Brauen und grinste.


    "Aber wir können uns auch anders einigen."

    Nicon


    Gehorsam hatte Nicon sich hingesetzt. Dass das Ganymed neu erstrahlen sollte, war ja schön und gut, aber ihm wäre es lieber, man würde ihn in Ruhe lassen und aufhören, mit Schwertern herumzufuchteln. "Der Tote, das ist Iugurtha", sagte Nicon und schaute nervös auf die am Boden liegende Amphore, die wegen des leicht abschüssigen Bodens immer noch langsam, aber geräuschvoll rollte. "Der war schon seit dem Brand tot. Kyriakos hat uns aufgetragen, ihn an der Stelle zu bestatten, wo er starb. Wir waren das. Also die anderen und ich."

    Nicon


    "Kyri träumt viel, wenn der Tag lang ist", sagte Nicon mit einem Gähnen, als die Frau davon sprach, dass dessen Traum wieder auferstehen würde. Sie wusste ja ziemlich viel über den Anführer der Täter und seine Bande. Nicon seinerseits war es egal, so lange er genügend Geld hatte, um sich seine tägliche Amphore zu organisieren.


    Nicon streckte sich und stieß die leere Amphore um. Scheppernd rollte sie ein Stück. Er sah die Frau mit verquollenen Säuferaugen an. Plötzlich aber kam Bewegung in die Sache, die Urbaner! Wer hatte die verdammten Urbaner gerufen? Mühsam stemmte Nicon sich auf die Beine, als einer der Bewaffneten ihm mit einem Schwert drohte, damit er aufstand. Nicon war wie immer nur rudimentär bekleidet und völlig verdreckt. Die Hauswand gab ihm Halt, so dass er nicht umstürzte.


    "Ich hab den Wein nicht geklaut und das ist ein Küchenmesser! Kyri? Der ist ... ich glaube, im Magnum Momentum. Bei Velia."


    Er zeigte in die Richtung, in der das andere Lupanar stand. Er glotzte danach den Urbaner an, der ihn beim Namen genannt hatte. Kannte er den? War der ein Kunde? Nicon vermochte sich nicht alle zu merken, aber er hoffte, dass der Mann ein wenig mehr Nachsicht bei ihm walten ließ als mit der unglücklichen Frau, die sein Kollege aus irgendeinem Grund verhaften wollte.

    Niemand war zu sehen.


    Ein brütend heißer Luftzug fuhr über die Schutthalde, der man ansah, dass jemand begonnen hatte, die Ordnung wieder herzustellen. Die Steine waren sortiert worden, der Schutt gesondert auf einen Haufen geschoben. Kyriakos war außer Haus, um Velia zu besuchen. Castor und Pollux waren unterwegs auf einem ihrer Beutezüge. Python war das erste Mal seit langem wieder in den Thermen, um vorsichtig seine verbrannte Haut zu waschen, in der Hoffnung, dass man ihn überhaupt einließ und nicht aus hygienischen Gründen davonjagte. Der kleine Nymphis begleitete ihn, so wie er den ehemaligen Gladiator fast immer begleitete, den er lieb hatte. Wo Evenor geblieben war, wusste der Geier, vermutlich hatte er einen Kunden.


    Kurzum, es war totenstill in den Ruinen des Ganymed.


    Aus einem Lumpennest hinter der Frau hob sich der Kopf von Nicon, der die verhüllte und vor sich hinbrabbelnde Gestalt aus geröteten Augen schweigend musterte, sie allerdings aufgrund seiner Trunkenheit doppelt sah. Er hatte gar nicht gewusst, dass Kyriakos irgendeine Perserin oder so was kannte. Wobei ihm die Stimme bekannt vorkam. Sie Klang wie die von der Sklavin, die einige Tage bei ihnen gehaust hatte, wie hieß die noch gleich ... irgendwas mit Eiern. Das war ja leicht zu merken. Eierin oder so. Er tastete nach seiner kleinen Amphore, stellte erfreut fest, das noch etwas darin war und trank den Rest aus. Dann legte er den Kopf wieder hin, um weiterzuschlafen.

    Und dann waren sie mitten im Geschehen. Die Trommelschläge vibrierten in Kyriakos´ Brust. Langgezogene, melodische Schreie, von denen nicht zu sagen war, ob sie Gesang darstellten oder Rufe waren, tönten von allen Seiten. Viele der Tänzer hatten sich zu Paaren zusammengefunden, die sich tanzend und springend umwarben, einander näherten und dann kokett mit Drehungen wieder auswichen, während andere Paare bereits körperlicher zugange waren. Ein ausgelassenes Treiben, eine Huldigung der Lebensfreude, wie Kyriakos sie seit Jahren nicht erlebt hatte. Auf das freche Zwinkern samt der Aussicht auf einen Weinbergbesuch hin musste Kyriakos breit lächeln. Dieser Satyr schien ihm ein routinierter Charmeur zu sein und vielleicht auch ein kleines Schlitzohr.


    "Die Einladung würde ich annehmen, würde ich sie denn eines Tages erhalten. Und mich entsprechend revanchieren, Serenus."


    Wobei, klein war Serenus nicht, jetzt, wo er stand. Es waren die Puschelohren gewesen, die Kyriakos aus irgendeinem Grund zu der Annahme verleitet hatten, der andere Satyr müsse klein gebaut sein. Lange mustern konnte Kyriakos ihn nicht, ehe Serenus zu tanzen begann. Serenus schob ohne Scheu den Arm um seine Hüfte, wobei er feststellen durfte, dass die schwarze Chlamys von Kyriakos nicht von einem Gürtel gehalten wurde, sondern lose um seinen Körper lag. Darunter trug er nichts, doch im Gegensatz zu anderen hier war er dennoch verhältnismäßig züchtig bekleidet. Kyriakos ließ es geschehen, er hatte keine Berührungsängste und fand die römischen Sitten grausig prüde. Nun tanzten sie gemeinsam, der Takt der Musik wurde der Takt ihrer Körper. Und sogleich stellte Kyriakos fest, dass er mit Serenus einen geübten Tänzer an seiner Seite hatte, so flüssig wie seine Bewegungen sich in die aufschwingenden Töne fügten. Kyriakos ging es nicht anders, er hatte besonders den brachialen Korybantentanz geliebt.


    "Was für ein Abend", rief er gegen den Lärm an, während er das Tempo von Serenus hielt. So lange sie sich nicht drehten, war das kein Problem. Nur bei den Sprüngen konnte er sich nicht beteiligen, er glich es durch ein Wiegen aus, das von den Knöcheln hinauf über die Knie und die Hüfte bis in die Schultern führte, währen er zeitgleich im Takt stampfte.


    Als er auch seinen Arm um Serenus schob, spürte er dessen drahtigen und gut trainierten Körperbau. Vielleicht ein berufsmäßiger Tänzer? Seine Bewegungen waren geschmeidig und flüssig, seine Körperbeherrschung beachtlich. Kyriakos legte die umarmende Hand flach auf seine Taille, um die darunter arbeitenden Muskeln zu spüren. Was er fühlte, gefiel ihm. Der Wein sorgte dafür, dass Kyriakos der Sinn nach noch mehr Nähe stand, doch er zügelte sich bewusst, wie er es auch stets bei Velia getan hatte und den anderen seltenen Momenten, in denen er so empfand. Dieser Mann war kein Freier. Was sie gerade gemeinsam erlebten, war auf eine unbezahlbare Weise wertvoll.

    Letztlich tranken hier alle, es konnte also nicht zu schwierig sein und ein Becher Massiker war wenig. Andere tranken den Wein amphorenweise. Schluck um Schluck rann das Getränk durch die Kehle von Kyriakos, als sei er ein erfahrener Zecher. Doch für ihn, der den Geschmack nicht gewohnt war, schmeckte der Alkohol trotz der Verdünnung scharf und brannte in seinem Rachen. Wie konnte ein kaltes Getränk Hitze auslösen? Er unterdrückte ein Husten, Wärme breitete sich aus in seinem Inneren und Tränen stiegen in seine Augen, die nun im Feuerschein glänzten.


    "Wahrlich flüssige Sonnenglut", sagte er heiser. Ein Räuspern stellte seine Stimme wieder her. "Ich bin noch nie in Kampanien gewesen ... aber ein Land, in dem solcher Wein wächst, muss ein gutes Land sein."


    Vielleicht sollte er einmal dorthin reisen. Reisen? Wann hatte Kyriakos das letzte Mal an eine Zukunft gedacht, die nicht nur aus seinen dreckigen Geschäften, Rachegelüsten oder allumfassender Schwärze bestand? Irritiert blickte er in den Becher. Der Wein machte ihn ... glücklich. Dann blickte er auf. Vor ihm tanzte Serenus auf seinem Stuhl und schnippte mit den Fingern. Von wem ging nun dieser Zauber aus? Kyriakos suchte eine rationale Erklärung für seine plötzliche gute Laune, doch seine gottlosen Gedanken könnten alles zerstören und bevor sie das vermochten, fegte er sie beiseite. Für diese Nacht wollte er sich gestatten, dass sein verlorener Glaube zurückkehrte, aus seiner Jugend, als die Welt noch voller Wunder gewesen war und die Götter ihn liebten. Heute war er nicht Kyriakos, der Hoffnungslose, sondern Marsyas, ein Geschöpf höherer Sphären, das sich nach seiner Schindung während Äonen der Ruhe im Fluss erholt und eine Menschenhaut angelegt hatte, um unter Sterblichen zu wandeln wie es auch Serenus tat, der heitere Genius des Weinbergs aus der Campania.


    Und so wurden sie in seinem Geist Sonne und Nacht, Licht und Dunkel, die einander in der Dämmerung getroffen hatten.


    Der fröhliche Satyr mit den Puschelohren tanzte bereits im Sitzen, so wollte Kyriakos nicht länger zaudern. Plötzlich zwängte sich eine Menschenmenge an ihrem Tisch vorbei und nahm dabei wenig Rücksicht. Ein Tross von Zechern in Tierhäuten wankte vorbei, wobei sich jeder am Vordermann festhielt. Die befellte Tiermenschenschlange johlte, geriet außer Kontrolle und stürzte. Sich windend und stöhnend wanden sie sich hernach am Boden, der Rauch der Feuerschalen trug den Geruch ihrer erhitzten Körper an seine Nase. Die Schlange wurde eins. In seinem Rausch erschien sie Kyriakos tatsächlich wie ein Wesen, das sich in diesen Zechern manifestiert hatte wie Python, der aus faulendem Schlamm entstand. Fell statt Schuppen hatte der Faulige also gehabt, bevor er mit tausend Pfeilen erschossen worden war.


    Mit langsamen Bewegungen, die seinem aufsteigenden Rausch geschuldet waren, legte Kyriakos seine Maske wieder an. Ein Trinkrohr wäre praktisch gewesen, dann hätte er sie nicht ablegen müssen ... das nächste Mal würde er schlauer sein. Die Maske saß erneut und Serenus bot ihm die Hand. Kyriakos sah ihm in die Augen, als er sie ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ.


    "Pythons letzte Sinnesfreuden", sagte er und stieg, ohne die Hand loszulassen, über die zuckende Schlange hinweg, um Serenus zu den Tänzern zu führen, hin zur Musik, hin zur Ekstase, um vollends zu vergessen, wer er einst gewesen war.

    Freudig nahm Kyriakos die großzügige Summe einhändig entgegen. Mit geübten Fingern ließ er die Münzen in den Beutel gleiten, den er unter seinem Röckchen um die Hüfte gegürtet trug. Er schätzte großzügige Kunden und ließ sich bei diesen seinerseits nicht lumpen. Bei einer tiefen Verneigung schenkte er Hairan zum Dank einen letzten Blick auf Evenors nackte Gesäßbacken und den Hodensack, der für einen Augenblick sichtbar wurde, bis Kyriakos sich wieder aufrichtete und alles unter dem Stoff verschwand.


    "Für den Lupo ist es nicht anders. Er hat mehr fleischliche Freuden, als gut für ihn sind. Wahrhafte Lust zu empfinden, das bleibt eine Seltenheit. Umso wertvoller sind diese Zeiten."


    Einen Moment dachte Kyriakos an seine Velia, die er noch besuchen würde, nachdem er sich umgezogen hatte. In ihren Armen war die Welt heil. Manch Lupo aber hatte die Lust für immer verlernt, wie der unglückliche Nicon, der draußen mit seiner Amphore nur noch wartete, bis seine Zeit vorüber war. Doch das sprach man nicht aus in Gegenwart eines Kunden. Schließlich bezahlte der für die köstliche Illusion und nicht für die unappetitliche Wahrheit.


    "Kalón ípno, keuscher Freund Hairan. Wir sehen uns wieder."


    Damit wandte Kyriakos sich ab und kehrte zurück zur Ruine des Ganymed, um Evenor und Nicon abzuladen. Hernach ging er frische Kleidung kaufen und suchte die Thermen auf. Nachdem er sich gepflegt und neu eingekleidet hatte, suchte er Velia auf.


    [Magnum Momentum] Asche und Gold >>


    Sim-Off:

    Kyriakos meinte, dass er Hairan umsonst Freude bescheren würde, wenn Hairan ihm helfen würde, einen Eunuchen zu erschaffen. Freilich ist das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht ganz angemessen. *g*

    "Dass du mich nicht erkanntest, mag daran liegen, dass ich für Äonen am Grunde des Flusses wohnte und nicht wagte, mein Haupt aus den Fluten zu erheben. Mag sein, dass man sich meiner kaum noch erinnert. Doch hier bin ich - fast zur Gänze genesen. Und ich habe meine Lehren gezogen. Vor allem die, dass es gefährlich ist, der hässlichen Fratze alter Macht etwas Schönes und Neues entgegenzusetzen."


    Die Geschichte des Satyrn, der sich als Serenus vorstellte, war das Gegenteil von seiner, sie war so heiter wie sein Name. Sie war eines ausgelassenen Satyrn im Gefolge des Bacchus würdig.


    "Bacchus umgibt sich vermutlich gern mit deiner Gegenwart. Es scheint, als fließe durch deine Adern selbst etwas Sonnenglut."


    Davon hätte Kyriakos gern etwas gehabt. Doch als er von dem in die raffinierte kleine Legende eingebundenen Wein trinken sollte, zögerte Kyriakos. Er trank niemals Wein, er erinnerte sich an die Lehren Lysanders und an die Heloten, die, zur Trunkenheit gezwungen, der Unterhaltung der Spartiaten während der Gemeinschaftsmähler gedient hatten. Wie hatten sie über das närrische Verhalten gelacht. Und was hatte es ihn selbst gekostet, als er ein einziges Mal im Leben trunken gewesen war. Kyriakos spürte die grauen, steingleichen Augen Lysanders auf sich ruhen, obwohl der gar nicht anwesend war. Über Zeit und Raum hinweg hatte der Krieger bis heute noch immer Macht über seinen Schüler. Als der Schankbursche zurückkehrte, griff Kyriakos entschlossen nach dem Krug und zog ihn vor sich. Er würde würde heute erstmalig gegen Lysanders Regelwerk verstoßen. Der Zauber des Sonnenweins würde den Bann brechen, der auf ihm lag. Der Satyr Serenas konnte nicht wissen, wobei er Kyriakos gerade half.


    "Mein erster Massiker", verriet Kyriakos. "Möge der Zauber seine Wirkung entfalten." Er nahm die Maske ab, damit er trinken konnte. Sorgfältig legte er sie auf der Tischplatte ab, denn sie war ihm wertvoll, auch wenn der reine Materialwert nicht sehr hoch war. Er lächelte. "Dionysos soll nicht weinen müssen, nicht wahr? Auf ein Neues. Und danach tanzen wir ... Serenus."

    "Wer sagt denn, dass ich das Geld bereits besitze?", erwiderte Kyriakos und warf dem Magus einen ernsten Blick zu. Er sollte es nicht zu weit treiben. "Da du mein Freund bist, wirst du einen angemessenen Anteil erhalten. Es ist auch ein Zeichen von Freundschaft, manche Dinge zu verschweigen, denn manches Wissen bringt seinen Träger in Gefahr. Wie ich die Bezahlung gewährleiste, das überlass mir."


    Er wies mit dem Haupt in Richtung des schlafenden Evenor, über dessen Wertsteigerung sie gerade noch gesprochen hatten.


    "Deine Geschichte klingt gut. Bevor ich mich auf diese Reise machte, war ich neben Lakonien auch im übrigen Achaea unterwegs. Ich bereiste Messene, Thebea und Delphi. Kurz sah ich auch Athenae, aber ich betrat dieses Monstrum nicht. Von Delphi aus ging es weiter nach Argus und dann die Westküste hinauf. Die Hafenstädte sorgten dafür, dass ich unterwegs nicht verhungern musste, unter anderem Dyrrachium, ehe ich von Salona nach Aquincum ins Landesinnere einschwenkte. Von dort ging es weiter nach Virunum, Aquileia und Placentia und schließlich über Arminium nach Roma."


    Kyriakos erhob sich. Den schlafenden Evenor warf er sich mühelos quer über die Schultern wie einen Sack. "Ich werde dich wieder aufsuchen, sobald meine Zeit es erlaubt oder du meiner Dienste erneut bedarfst. Dann werden wir ja sehen, wie weit du mit dem Angebot bist. Es war mir eine Freude. Die Bezahlung hätte ich gern noch. In Anbetracht unseres erbaulichen Gesprächs überlasse ich es dir, einen Preis zu wählen, den du für angemessen erachtest."


    Wobei natürlich hineinspielte, dass Kyriakos sich um Geld keine Sorgen mehr zu machen brauchte und dass Hairan ihm sehr nützlich sein würde, wenn er tatsächlich diese Urkunde organisierte. Da konnte ein wenig Entgegenkommen nicht schaden.

    Die Becher schlugen schwungvoll aneinander, Wein und Wasser ergossen sich über ihre Finger und bildeten auf der Tischplatte ein interessantes Muster. Der Satyr mit den Puschelohren hatte entweder bereits über den Durst getrunken, oder er war ein exzentrisches Naturell. Er schaffte es mit seiner überschwänglichen Art, seinem düsteren Gegenüber ein schwaches Lächeln zu entlocken. Das gelang nicht vielen - besonders, da das Lächeln echt war.


    »Gute Namen sind das«, sprach Kyriakos mit seinem unverkennbar dorischen Akzent. »Doch meinen hast du nicht erraten. Marsyas darfst du mich nennen. Die Fluten sind es, denen ich entstieg. Und mit wem habe ich die Ehre?«

    << Asche und Gold


    Kyriakos klagte nicht mit Worten und Tränen hatte man ihm schon als Knaben ausgeprügelt. Es blieb nicht viel, um auszudrücken, was in ihm vorging. Meist war es Zorn, der das Übel in ihm kanalisierte, heute aber trug er seine Gefühle als schwarzen Stoff auf der Haut. Die Chlamys war an jenem Abend sein einziges Gewand. Wenn er sie nach dem Tanz wieder ablegte, würde er von seiner Trauer befreit sein. Der Schmerz gehörte nun dem namenlosen Satyrn. Nichts Geringeres als blankes Eisen bedeckte das Gesicht von Kyriakos. Der Mund seiner Halbmaske war ernst, kein lustiger Satyr war es, der sich dem Reigen anzuschließen gedachte, er erinnerte in gewisser Hinsicht an den Minotauren, der aus seinem Labyrinth heraus gefunden hatte. Die angriffslustig nach vorn gerichteten schmalen Hörnchen, die von einem eisernen Stirnreif ragten, der seine schwarzen Locken hielt, trugen ihr Übriges zu diesem Eindruck bei. Das Schuhwerk legte Kyriakos nun ab, als er sein Ziel erreicht zu haben glaubte, und trug die Caligae in der Hand.


    »Man kennt mich nicht an diesem Ort«, sagte Kyriakos zu dem Türsteher. Er war nicht sicher, ob dies eine geschlossene Gesellschaft war.


    Mit Blicken untersuchte er die von zwei Lampen nur spärlich erhellte rote Tür, hinter der tiefe Trommeln wummerten und Flötenmelodien tobten. Die Wein- und Efeuranken bewegten sich im Wind. Nichts sonst ließ auf die Gesellschaft dahinter schließen, doch wer eingeladen war, verstand die Botschaft dieser Ranken.


    »Niemand kennt hier einander«, erwiderte der Mann und öffnete ihm die Tür. Das stimmte so sicher nicht, doch Kyriakos verstand die Bedeutung. Nicht umsonst war eine Maske erwünscht.


    Er trat in die Dunkelheit. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Sein altes Leben - ausgesperrt für eine Nacht. Kyriakos zahlte, gab die Schuhe zur Verwahrung und dann brach eine Zeit gnädigen Vergessens an. Tief atmete er ein, ließ den Rauch der Feuerschalen durch seine Nase fließen und die Lungen fluten. Das Räucherwerk war mit anregenden Kräutern versetzt, zu wenig, um die Sinne zu vernebeln, doch genug, um dafür zu sorgen, dass man die Nacht voll auskosten konnte. Flöten, Handtrommeln, Harfen, Kastagnetten, Zimbeln bestimmten fortan den Takt. Den Cordax hatten die Satyrn erfunden, sagte man. Einige der Tänzer trugen künstliche Phalli vorgebunden, obszön vergrößert, andere trugen überhaupt nichts und warfen ihre Körper nackt im Rhythmus der Musik von hier nach da. Was einige hier suchten, war nicht zu übersehen. Kyriakos suchte Vergessen. Er tanzte, wenngleich er sich bedächtiger als die anderen bewegen musste. Nur jeden zweiten Takt nahm er, im halben Tempo bewegte er sich, bis er schweißnass glänzte und seine verstümmelten Füße eine Pause benötigten.


    Er organisierte sich Wasser und gesellte sich an einen der Tische. Dort prostete ihm fröhlich ein Gast zu, der kecke Fellohren trug. Einen größeren Kontrast zu der düsteren Gestalt des Satyrn, den Kyriakos mimte, konnte es kaum geben.


    Milde amüsiert über den Gegensatz antwortete er: »Auf Bacchus.« Den Anti-Gott eines jeden Spartaners, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Die Polis lag in weiter Ferne. Kyriakos hob seinen Becher und senkte leicht das Haupt, während er dem anderen in die Augen schaute, die im Licht der Feuerschalen selbst zu lodern schienen. Die Augenfarbe war nicht zu erraten. Blieb nur die Frage, wer zuerst die Maske fallen ließ.