Beiträge von Claudia Aureliana Deandra

    Unweigerlich wurden meine Augen groß, als Aintzane – so war ihr Name – keck hervortrat und unaufgefordert zu sprechen begann. Aber nicht dieses Auftreten, sondern vielmehr die gewählten Worte erstaunten mich. Mit geschlossenen Augen hätte ich mir dieselben Worte aus dem Mund einer gestrengen Tante vorstellen können – von dem Zusatz „meine neue Herrin“ und der Geschichte mit dem Ersteigern natürlich abgesehen.
    Vielleicht war ich aber derzeit nur etwas empfindlich, weil mein Leben eine gravierende Wendung genommen, ich mich mit meinem Bruder gestritten und von Sophus natürlich - wie immer - nichts gehört hatte.


    Zunächst wandte ich mich aber Assindius zu.


    „Sehr gut, Assindius. Auf dich ist immer Verlass. Daher bekommst du auch, wie bereits vor der Germanienreise besprochen, eine verantwortungsvolle Aufgabe beim Training der Wagenlenker. Gleich morgen in der Frühe geht es los, du findest dich zur achten Stunde im Gestüt Aurelia ein und von dort werden wir zur Rennbahn wechseln. Dabei fällt mir ein … Für euch alle gilt ab sofort die Villa Claudia als Zuhause. Dennoch werde ich - wie auch ihr - ab und an noch bei den Aureliern weilen.“


    Ich überlegte, wo ich stehen geblieben war. Ach ja, bei der Aufgabenverteilung für Assindius.


    „Nach dem Verstauen des Reisegepäcks hast du für heute frei. Nun zu dir, Samira. Du bereitest die Zimmer für die Sklaven und natürlich meines für die Nacht vor. Anschließend hilfst du bei der Essenbereitung. Ihr könnt schon gehen“, wies ich Assindius und Samira an, bevor ich mich Aintzane zuwandte.


    „Du kommst also aus dem Baskenland“, begann ich das Gespräch und winkte Aintzane näher heran. „Erzähle mir näheres über dich und deine Vergangenheit. Ich persönlich, und das unterscheidet mich von manch anderem, möchte immer wissen, mit wem ich es zu tun habe, weil ich meinen Sklaven bei guter Führung eine eigene Persönlichkeit gestatte.“


    Ich setzte voraus, dass Aintzane über ihre gesetzliche Stellung im Klaren war: In Rom war ein Sklave eine Sache. Da ich aber gehobenen Wert auf Loyalität und Aufrichtigkeit legte, umgaben mich ausschließlich Sklaven, die selbige wertvolle Eigenschaften trugen und als Gegenleistung manch vielleicht unangemessene Freiheit erhielten.

    Kurz nach meinem Umzug in die Villa Claudia trafen auch meine Sklaven ein. Um die entsprechenden Aufgaben zu verteilen, ließ ich sie rufen. Ich begab mich also in das Tablinum, ließ mir etwas Erfrischendes kredenzen, nahm mir ein Blatt Papier und machte mir während der Wartezeit bereits ein paar Notizen. Als Gemurmel aufkam, hob ich den Kopf …

    Vermutlich machte ich keinen sehr geistreichen Eindruck, als ich meinen Bruder anblickte – die Verwunderung war zu groß. Ich hob die Brauen, suchte mit den Augen nach Erklärungen auf seinen Gesichtszügen und klimperte anschließend irritiert mit den Lidern. „Hm?“, fragte ich unsicher und versuchte erneut nach Hinweisen, denn es wäre nicht das erste Mal, dass er mich auf’s Glatteis führen wollte.


    „Du fragst das jetzt im Ernst? Ich hatte dir doch vorhin mitgeteilt, dass du nicht mehr mein Bruder bist, auch wenn du es auf ewig in meinem Herzen bleibst. Du hast es einfach so hingenommen und mir den Eindruck vermittelt, dass es dich wenig stört.“


    Ich schüttelte irritiert den Kopf


    „Du hast mich doch sogar noch getröstet!?“

    Mehrfach ließ ich mir seine Worte durch den Kopf gehen. War meine Einstellung bezüglich einer Ehe und fremder Betten denn an ein großes Gefühl geknüpft? Zwar war es schwer, mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich mit jemand Ungeliebten verheiratet wäre, aber vermutlich würde ich auch in diesem Fall auf ein solides Leben meines Angetrauten bestehen - falls er einmal Nachkommen haben wollte, was ja eigentlich eine Selbstverständlichkeit war.
    Trotzdem glaubte ich zu wissen, dass es viel schwerer noch zu ertragen wäre, wenn man denjenigen lieben würde, weil ja dann noch körperliches Begehren hinzukam. Wie das theoretisch war, wusste ich. Schließlich hatte ich unzählige Tage, Wochen und Monate in Sehnsucht verbracht. Wie es aber praktisch sein würde, das konnte ich mir nicht wirklich vorstellen. Naja, aber dafür war ja auch noch Zeit.


    In die Bemühungen hinein, mir genau dieses auszumalen, platzte Corvis Frage. Nun zuckte ich mit den Schultern. Hatte er etwa angenommen, ich bleibe hier wohnen, wo ich doch nun nicht mehr zur Familie gehöre?


    „Na, ich ziehe aus. Was denn sonst? Schließlich gehört sich das so, auch wenn es nicht unbedingt leicht fällt.“

    Während ich mich folgsam auf das Bett setzte und Corvi zuhörte, fragte ich mich, wie es nur sein konnte, dass er weder über seine Neigungen besorgt war noch sich an der Tatsache störte, dass er nicht mehr mein Bruder war. Davon mal abgesehen war er liebevoll wie immer. Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie passte das zusammen?


    Ich angelte nach einem Tuch und tupfte mir die Spuren meiner Fassungslosigkeit weg. Dabei grübelte ich darüber nach, warum mich eigentlich sein Geständnis betroffen gemacht hatte. Eigentlich konnte mir das doch völlig egal sein. Nach einem letzten kleinen Schniefer durch die Nase sah ich ihn an.


    „Du solltest diese unschöne Aktivität als Geheimnis wahren. Auf jeden Fall würde ich dir raten, nichts davon deiner zukünftigen Frau zu erzählen, denn zumindest mich würde nur derjenige bekommen, der in keinerlei fremden Betten herum steigt. Ich weiß nicht, ob andere Frauen das lockerer sehen.“

    Während ich die eine Hälfte meiner Kraft darauf verwandte, die Tränen versiegen zu lassen, versuchte ich das soeben Gehörte zu verarbeiten. Ich suchte mir einen Punkt an der Wand und starrte darauf. Wieder und wieder fragte ich mich: Warum? Warum macht er sowas? Warum er?
    Bilder, die ich gar nicht haben wollte, drängten sich auf, marterten mich, ließen mich innerlich schütteln. Und sie erschütterten nicht mein Moralgefühl; nein, sie drangen viel tiefer - dorthin, wo keine Schutzwand gegenüber äußeren Angriffen stand, sondern das Urvertrauen, das ich meiner Familie und insbesondere meinem Bruder entgegenbrachte, gleich einer zerbrechlichen Gabe ausgebreitet lag.


    Schließlich spürte ich seine Berührung am Arm. Ja, es war immer schön, wenn sich jemand um eine Klärung bemühte, gleichzeitig löste solche Zuwendung - zumindest bei mir - neben der Dankbarkeit auch immer die Sorge vor dem erneuten Verlust der Fassung aus. Und wie befürchtet, glitzerte es alsbald verdächtig in meinen Augen, als er mich zu sich herumdrehte und zu sprechen begann.

    „Warum ausgerechnet du?“, flüsterte ich. „Wäre es Corus gewesen oder ein anderer, es hätte mir nicht so wehgetan. Du bist für mich der anständigste, vorbildlichste und liebste meiner Brüder gewesen. Warum zerstörst du dieses Bild? Warum nur verschenkst du dich?“


    Das Unverständnis war riesengroß. Ich hätte es nie im Leben geduldet, dass mich eine Frau berührte. Doch da war noch mehr, was ich sagen wollte. Mit leiser Stimme fuhr ich fort:


    „Nein, du bist eben nicht mehr derselbe, du bist ja nicht einmal mehr mein Bruder.“ Nach einem tiefen Seufzer öffneten sich nun doch die Schleusen und es war mir egal. „Du bist zwar noch in meinem Herzen mein Bruder, aber gleichzeitig bist du eben auch ein Mann – ein Mann wie jeder andere und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, was ich fühle. Es ist eben …“ Ich schaute flüchtig zu Boden, wischte mir notdürftig mit den Fingerspitzen ein paar Tränen weg und sah wieder auf. „Ein Mann, der so etwas tut, ist in meinen Augen mit einem Makel befleckt, weil ihn die falschen Hände berührt haben und du weißt, dass ich mehr als nur die Hände meine. Und gerade bei dir schmerzt mich das. Aber“, ich atmete einmal tief durch, „ich werde natürlich dieses Geheimnis in mir tragen, sodass es niemand erfährt und ich kann nur hoffen, dass es mich nicht erdrücken wird.“

    Mein Gesichtsausdruck verfinsterte sich immer mehr, während ich meinem Bruder, oder eigentlich nicht mehr Bruder, zuhörte.


    „N..“, antwortete ich auf seine Frage und verschluckte doch den Rest. Meine Güte! Betroffen sah ich ihn an, unfähig etwas zu sagen oder gar etwas Vernünftiges zu denken, allein große Enttäuschung wechselte mit erheblicher Wut.
    Warum tat das jetzt so weh? Diese Ahnung hatte ich doch bereits in Germania in mir getragen. Damals, ich weiß es noch, wäre ich ihm ein Freund gewesen, hätte versucht, ihm zu helfen, aber heute? Ich war so verletzt, wusste nicht einmal wieso, und versteckte diese Gefühle hinter Zorn.


    „Nein!“ Ich schmetterte ihm die Antwort entgegen und erhob mich ruckartig vom Bett. „Wie kannst du nur? Du hast mit einem Mann … geschlafen? Weißt du eigentlich, wie widerlich das ist?“ Meine Stimme wurde dünn und Tränen der Enttäuschung und des Schmerzes traten in meine Augen. Hastig drehte ich den Rücken zu Corvinus hin, er musste ja nicht unbedingt alles sehen.

    Im Stillen beglückwünschte ich mich zu diesem geschickten Schachzug, denn der Wind aus Corvis’ Segeln war weg. Stattdessen druckste er herum. Ich kniff etwas die Augen zusammen, sein Verhalten machte mich misstrauisch. Da war wohl ein viel dickeres Ei zu erwarten als gedacht, wenn er mir noch nicht einmal in die Augen sehen konnte. Dann - bei den Göttern - musste es heftig sein. Ich machte mich schon mal auf alles gefasst und rutschte – von Spannung getragen – an den äußersten Rand des Bettes vor.


    „Wie? Du und ein Mann?“ Ich blickte meinen Corvi unter gerunzelten Brauen an. „Ich verstehe nicht.“ Wollte ich nicht oder stellte ich mich absichtlich dumm? Ich glaubte, ich wusste das selber nicht so genau, weil der Gedanke derart abwegig war. Bloß wegschieben, ich glaubte sonst, mir würde schlecht.

    Weil Corvi so schnell heran war, blieb nicht viel Zeit zum überlegen, und als er mich derart stürmisch umarmte, dachte ich bei mir: Ja, das ist eben die wahre Familie, wird sie auch immer bleiben … ob ich nun ‚Claudia’ oder ‚Aurelia’ hieß. Alle nahmen mich in die Arme und ich genoss die Geborgenheit.


    „Hoppala, du hast mich ja wirklich vermisst“, sagte ich schmunzelnd, als ich wieder zum atmen kam. „Aber Vorsicht, ich bin noch etwas angeschlagen. Meridius wollte mich eigentlich auch noch nicht gehen lassen, ich musste mich praktisch davonschleichen“, erklärte ich in verschwörerischem Ton. Einfach nur dastehen und nichts erklären müssen … ach, das wäre schön, aber viel zu schnell stellte mein Bruder skeptische Fragen.
    Was hatte ich erwartet? Sie Situation war eindeutig und er noch nie auf den Kopf gefallen, sein Verstand arbeitete reibungslos. Offensichtlich hatte er noch nicht mit unserem Vater gesprochen. Dabei war es ja gar nicht mehr UNSER Vater. Bloß nicht drüber nachdenken … Also hieß es jetzt, die Brisanz aus der Geschichte nehmen oder sie wenigstens mildern, wobei mir als Offizierstochter eine gute Strategie einfiel: Angriff ist noch immer die beste Verteidigung.


    „Ja, ich, ähm … ich habe dir auch etwas zu beichten“, begann ich zunächst vorsichtig, legte aber schnell mehr Kraft in die Stimme, damit er nicht auf die Idee kam, mein Manöver zu ignorieren. „Aber zunächst bist ja wohl du erst einmal dran. Du bist mir noch eine Erklärung schuldig. Ich meine die Andeutungen, die du in Germanien gemacht hast.“


    Entschlossen, zunächst zuzuhören und erst dann selber auszupacken, setzte ich mich auf den Rand meines Bettes, straffte die Schultern und ließ die Arme mit Nachdruck in den Schoß fallen. Widerspruch war aussichtslos.

    Tage lagen hinter dem Gespräch, das ich mit Cicero geführt hatte. Inzwischen wusste ich, zu welcher Familie ich seit kurzem gehörte und ich hatte Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Mein Vater hatte eine edle Familie für mich ausgesucht, einziger Wehrmutstropfen: Ich kannte dort keinen – gar keinen, oder zumindest nicht wirklich. Meinen neuen Vater hatte ich vor 18 Monaten einmal gesehen und ein paar Worte gewechselt, aber mehr auch nicht. Trotzdem war ich inzwischen gefasst. Sklaven hatte viele meiner Sachen bereits in die Villa Claudia gebracht, aber das Anwesen stand fast immer leer und so weilte ich ab und an auch in meinem alten Zuhause. Es wurde Zeit, dass wenigstens meine Sklaven in Mantua eintrafen, damit ich wenigstens gewohnte Unfreie um mich hatte, während neue Räume, neue Gepflogenheiten und neue Familienmitglieder mich umgaben.


    Eine aurelische Sklavin nahm gerade die letzten Kleidungsstücke aus dem Schrank, als es an der Tür klopfte. An der Stimme erkannte ich meinen Bruder. Oje. In dem Bewusstsein, eine weitere schwere Aufgabe – nämlich die Erklärung der neuen Verhältnisse – vor mir zu haben, atmete ich tief ein und hielt für Augenblicke die Luft an. Mit dem Ausatmen stellten sich Bauchschmerzen vor Aufregung ein. Mit einigen ungeduldigen und auch unwilligen Handbewegungen gab ich der Sklavin zu verstehen, dass sie nach dem Öffnen der Tür verschwinden sollte.


    „Mars, Juppitter und Iuno, bitte steht mir bei!“, murmelte ich und wie durch Göttereinfluss fiel mir ein riesig tolles Ablenkungsmanöver ein. Ich lächelte und trat nun gelassener der Tür und meinem Bruder entgegen.


    „Sei gegrüßt, Corvi! Wir haben uns lange nicht gesehen“, begrüßte ich ihn mit einem Lächeln.

    „Ja, aber … ich habe doch bereits gesagt, dass ich nicht weiß, wohin ich jetzt gehöre.“ Während ich ratlos die Schultern hob, suchten meine Augen in Ciceros Gesicht zu lesen, aber er hatte ja auch keine Antwort parat.


    „Hat mein Vater denn keine Nachricht hinterlassen? Kann nicht einmal jemand nachschauen gehen?“


    Die Untätigkeit beim Sitzen störte mich plötzlich. Also stand ich auf und begann einige Schritte zu laufen, blieb immer einmal wieder stehen, holte Luft, so als wollte ich etwas sagen, blieb aber doch stumm und setzte schließlich meine Wanderung fort.


    „Er hat bestimmt eine gute Familie für mich ausgesucht“, sagte ich, vor Cicero anhaltend. „Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen. Ja, und ich habe doch auch schon gesagt, dass mir nichts so wichtig ist wie die Aurelia. Onkel, du hörst mir nicht zu!“


    Vorwurf lag in meiner Stimme, aber er galt weniger der Unaufmerksamkeit meines Onkels, sondern vielmehr der Situation, die mich gerade überforderte. Ich wusste einfach nicht, wie es weiterging.

    Das lange Sitzen in der Reisekutsche war vergessen und so folgte ich bereitwillig der Aufforderung, Platz zu nehmen. Schon hatten mich die Gedanken wieder gefangen, aber wie beginnen? Sollte ich es lang oder kurz machen? Und wie weit sollte ich ihn einweihen, wo doch vieles, was mich bewegte, mitunter nicht einmal mir zuträglich war, ich es deswegen verdrängte?


    „Wieso? Ich liebe meine Familie, nichts ist mir so wichtig wie gerade sie und doch habe ich um die Lösung meiner Adoption gebeten. Es sind egoistische Gründe. Du weißt doch, ich liebe ihn schon so lange und finde doch nicht das Glück. Es ist eine Hoffnung, an die ich mich klammere, weil ich weiß, dass ihn die gleiche Genszugehörigkeit stört.“


    Meine Angst, dass dies nicht der alleinige Grund für seine Zurückhaltung war, verschwieg ich. Wieso sollte ich sie meinem Onkel gegenüber eingestehen, wo ich sie doch selbst nicht wahrhaben wollte?

    „Ja.“ Ich senkte den Kopf, da gab es nichts zu erklären. Oder doch? Wieder blickte ich auf. „Ins Vertrauen gezogen? Corvi wusste nichts von meinen Absichten. Ich habe ihm gegenüber mein Vorhaben bestenfalls angedeutet, aber nicht offen anvertraut. Aber ich habe es für notwendig empfunden, ihm meinen langen Aufenthalt in Germania zu erklären, weil ich bei seiner Abreise zugesichert habe, bald nachzukommen.“


    Sodann blickte ich verlegen zur Seite, weil ich mich bemühte, eine vernünftige Formulierung für meine nächste Frage zustande zu bringen. Doch irgendwie wurde es nix, so sehr ich mich auch anstrengte.


    Also fragte ich einfach: „Was denkst du jetzt?“ Er würde schon verstehen, was ich meine.

    Ich hatte mich auf Vorwürfe eingestellt, auf eisige Ablehnung, auf Schweigen, auf alles, aber nicht auf eine liebevolle Begrüßung. Und doch drängte sich mir eine Frage auf.


    „Was bleibt uns noch, wo ich nun rechtlich nicht mehr zu euch gehöre? So ist es doch. Dabei weiß ich nicht einmal, wer meine neue Familie ist. Und du verzeihst mir?“, fragte ich ungläubig. Die Gedanken stürzten gerade wild durcheinander und so redete ich auch.

    Während ich den Druck der Hände spürte, nahmen meine Augen an Größe zu und die Brauen verformten sich – ganz so, als würden ich Schmerzen empfinden und so war es auch … seelische. Ich fixierte die Augen meines Onkels, doch schon bald verschleierte sich mein Blick, weswegen ich wieder zu Boden blickte.


    „Es tut mir so leid“, hauchte ich. Sicher fühlte ich mich nicht nur, sondern sah auch aus wie ein Häufchen Unglück.

    Erst Momente später drang das Räuspern zu mir durch – musste es sich doch zunächst den Weg durch schwere Gedanken bis in mein Bewusstsein bahnen. Ich blieb stehen und wandte mich langsam der Geräuschquelle zu. Cicero, mein Onkel also … Und sein Auftreten ließ mich nichts Gutes ahnen. Früher wäre er herangestürmt und hätte mich umarmt, heute räusperte er sich nur. Ich schaute bedrückt zu Boden. ‚Aber gut, das war zu erwarten gewesen und da musste ich jetzt durch.’


    Wieder atmete ich schwer aus, dann blickte ich auf und machte mich für einen Schwall an Vorwürfen bereit.


    „Onkel Cicero?“ Es sollte ein Gruß sein, dabei klang es vielmehr wie eine unsichere Frage.

    Und weil mein Blick nach unten gerichtet war, bemerkte ich Cicero nicht. Noch immer kreisten meine Gedanken um die Vorgänge, die ich selbst angeschoben und deren Auswirklungen ich derzeit nicht einschätzen konnte – mir fehlten die nötigen Informationen. Ich hoffte, meinen Vater zu treffen oder wenigstens eine Nachricht von ihm vorzufinden. Neben all der Ungewissheit, die mich plagte, war dann noch die Unsicherheit: Ich freute und fürchtete mich zugleich vor dem Zusammentreffen mit meiner Familie, meiner ehemaligen Familie, die in meinem Herzen doch immer die einzige bleiben würde. Ich seufzte vernehmlich und langsam kam Herzklopfen auf.

    So lange ich in meiner Erinnerung auch zurückging, aber auf ein solch mildes Wetter um diese Jahreszeit konnte ich beim besten Willen nicht zurückblicken. Es musste also ein Zeichen der Götter gewesen sein, dass ich derart problemlos die Alpen überqueren konnte. Kein Vergleich zu meinem Germanienaufenthalt vom letzten Jahr - Eiseskälte, Schneemassen und verstopfte Verkehrswege prägten damals das Bild.


    Kürzer als erwartet, aber nicht weniger erschöpft, entstieg ich - mich unentwegt reckend - der Reisekutsche und steuerte auf die Villa zu. 'Was würde mich hier erwarten? Wie würde ich von meinen Familienmitgliedern empfangen werden? Wussten sie schon von meinem Schritt, der mich von ihnen losreißen würde? Wenn nicht, wie sage ich es ihnen?' Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort wusste.


    Den Kopf voll schwerer Gedanken ließ ich nicht erst an der Porta meine Ankunft vermelden, sondern trat unangekündigt ins Atrium. Bloß jetzt nicht hinsetzen, der Po schmerzte noch von der langen Fahrt am heutigen Tag. Also schlenderte ich um das Becken, wobei ich die wenigen Blühpflanzen kaum bemerkte. Mein Blick war nach unten gerichtet.


    Edit: Zeichen geändert.