Mein Blick hing auch dann noch an den Lippen der jungen Frau, als diese längst geendet hatte. Ich fand ihren Rat weise, mir viel Zeit bei der Formulierung zu lassen, aber vielmehr beschäftigte mich die Begründung dazu. Wer die Frage nicht kennt, der wird auch die Antwort nicht verstehen? Darauf wäre ich nie von alleine gekommen, aber der Sinn dieser Aussage leuchtete mir sofort ein. Mein Problem war, dass es so viele Fragen gab, die mich bewegten und auf die ich gerne eine Antwort hätte, aber ich wusste, ich durfte nur eine einzige formulieren. Nur eben welche die wichtigste war oder wie ich Dinge bestmöglich zusammenfassen konnte, war mir nicht klar. Daher wollte ich mir Zeit lassen, nichts überstürzen, die Gedanken sammeln.
Ich zog mit der Linken meine Palla von der Schulter und versuchte, sie halbwegs zusammenzulegen, was – in derlei Dingen ungeübt – nicht eben einfach war. Die getürmten Schichten senkte ich vorsichtig auf den Boden ab und kniete mich darauf. Bei aufrechter Haltung legte ich die Hände in den Schoß, visierte ein Kohlebecken an und begann nachzudenken.
Ich war lange glücklich gewesen, auch wenn es sicherlich ab und an einen Stolperstein gab, aber eines Tages zogen die Götter ihr Wohlwollen von mir ab. Alles begann damit, dass er mich zurückwies. Der Gedankenfluss stockte, weil mir die Unrichtigkeit der Formulierung auffiel. … er mich zurückstieß, als ich mich sorgenvoll nach dem Grund für seinen offensichtlichen Schmerz erkundigen wollte. Ich war zutiefst über seinen Vertrauensentzug und die achtlose Behandlung erschüttert, aber ich respektierte ohne ein Wort des Vorwurfes seinen Wunsch. Noch am selben Tag ereilte mich jedoch der nächste schwere Schlag: Helena, der Cousine, gestattete er die Annäherung.
Ein schwerer Atemzug hob meine Brust, als mich die Erinnerung daran einholte. Damals war etwas zerbrochen, aber ich sah die Schuld dafür nicht bei mir.
Tage später entschuldigte er sich für sein Verhalten, was mich natürlich gefreut hatte, aber die Narbe der Verletzung blieb, sie ist noch heute da, denn nur Taten können die Narben von Fehlverhalten heilen. Worte sind viel leichter gesagt, als Handlungen auszuführen waren.
Und doch wäre es sicher möglich gewesen, auf der Entschuldigung basierend, wieder zueinander zu finden, wenn nicht gleichzeitig die niederschmetternde Nachricht über den Tod meiner einstigen Adoptiveltern gekommen wäre. Sie nahm mir jede Kraft und jeden Mut. Ich konnte damals sein umsorgendes Verhalten nicht wertschätzen, weil ich vom Schock der Nachricht überwältigt war. Heute weiß ich, dass er sich vorbildlich verhalten hatte, besser ging es beim höchsten Anspruch wahrlich nicht mehr.
An diesem Punkt angelangt stockte ich. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, es könne womöglich an meiner Zurückgezogenheit gelegen haben, dass er sich seither distanziert verhielt. Trug ich am Ende selbst die Schuld an unserem unterkühlten Verhältnis, was wiederum die Ursache dafür war, dass ich nicht aus dem Tal der Traurigkeit herausfand? War alles ein Kreiskauf? Bedingte eines das andere? Wem konnte man dann aber eine Schuld zuweisen? Und kam es überhaupt darauf an?
Ich suchte den Blick der jungen Frau, als könne sie mir darauf eine Antwort geben, aber abgesehen von der Tatsache, dass sie vermutlich keine Gedanken lesen konnte, stellte sie nur die Gehilfin des Orakels dar. Was genau wollte ich aber über das Orakel von den Göttern erfahren? Glaubte ich in Ostia noch, ich müsse nachfragen, ob die Götter auch einmal wieder Sonne in mein Leben ließen, beschäftigte mich auf der Herfahrt die Neugier über ein eventuelles Urteil, das Glück meiner Verbindung betreffend. Am liebsten wüsste ich natürlich seine Pläne, in die er mich nicht eingeweiht hatte, obwohl sie mich unmittelbar betrafen, aber damit wären vermutlich auch die Götter überfragt. All das überlagerte jedoch nun die Frage, auf die ich soeben in meinen Überlegungen gestoßen war. Traf mich eine Teilschuld an der unerquicklichen Situation unter der ich seit langen Wochen litt? Doch für die Antwort brauchte ich nicht das Orakel und erstrecht nicht die Götter, denn ich glaubte sie zu kennen: Sie lautete: Ja.
Ich erhob mich gestärkt, denn ich hatte in dieser Grotte erstmalig den Kopf für klare Gedanken freibekommen. Was ich nun brauchte, war nur noch ein unterstützender Rat.
„Ich wäre dann soweit. Alles Unwichtige habe ich ausgeschlossen und vieles hat sich von selbst geklärt. Wäre es denn möglich, dass die Götter in unsere Gedanken dringen und hilfreich für Ordnung sorgen? Ich habe seit einem Schicksalsschlag nicht mehr so klar denken können wie jetzt.“
Sicherlich wusste die junge Frau eine Antwort darauf, daher wartete ich sie wissbegierig ab, ehe ich die Frage an das Orakel stellte.
„Bitte überbringe dem Orakel folgende Frage, und ich hoffe sehr, dass es eine Antwort von den Göttern erhält: Welche Möglichkeiten habe ich - im Rahmen des für mich vorgesehenen Schicksalsverlaufs und unter Berücksichtigung, dass ich den Göttern stets ausreichend Opfer darbringe – mein Glück zu verstärken und eventuelles Unglück zu mildern?“
Nachdem ich meine Frage formuliert hatte, stellte ich fest, dass es eine jener Fragen war, die ich, wäre meine Mutter noch am Leben, ihr gestellt hätte. So aber suchte ich dafür den Götterrat. Es war nach wie vor so, dass mir ein Ansprechpartner im Leben fehlte, jemand, der Lebensweisheit in sich trug, der sich Zeit für mich nahm, Geborgenheit spendete, Sicherheit gab. Lange Zeit nahm Corvi diese Position für mich ein. Ich beschloss in diesem Moment, wieder offener ihm gegenüber zu sein. Vermutlich hatte ich ihm keinerlei Chance mehr dafür gelassen, Ratgeber für mich zu sein. Ganz ohne die Auskunft der Götter spürte ich bereits jetzt, wie hilfreich der Weg zum Orakel gewesen war.