Nach meiner Äußerung über den doppelten Trauerfall, schien das Klima im Raum um etliche Grade zu sinken. Mich fröstelte es trotz der sommerlichen Temperaturen. Ich schlang meine Arme um mich, was keineswegs Wärme erzeugte, sondern eher eine symbolische Geste darstellte, und obwohl mein Blick zu Boden gerichtet war, bemerkte ich im Augenwinkel die auffallend bewegte Reaktion meines Vaters. Ich blickte überrascht auf, denn ich hatte bei allem selbst empfundenen Schmerz vollkommen vergessen, dass er meinen ehemaligen Vater ebenfalls sehr gut kannte, sogar mit ihm befreundet gewesen war.
Während der Betrachtung seiner Ergriffenheit bemerkte ich einen weiteren Blick, der mich seitlich traf und meine Aufmerksamkeit abzog, weil er ohne Worte deutliche Bände sprach. Corvi war der Absender. Ich hielt seinem Blick stand, als er mich lange Momente regelrecht anstarrte, als hätte ich etwas Verbotenes gesagt. Oder war er einfach nur erschrocken, weil ich die Nachricht annähernd in Form einer Anklage hervorgebracht, ja fast hervorgeschleudert hatte? Wollte ich protestieren? Aber wogegen? Vielleicht gegen den Verlauf, den das Leben genommen hatte? Allerdings stellte mein Vater keineswegs die richtige Stelle für eine Klage dar, das sollte mir klar sein. Wollte ich vielleicht gleichzeitig gegen die Aussicht protestieren, in diesem Haus leben zu müssen? Allein der Gedanke war für mich derart abwegig, dass ich bislang keine Minute damit vergeudet hatte, eine Art von Vorstellung diesbezüglich zu entwickeln. Die Lösung und Neufassung meiner Adoption sollte ursprünglich nicht mein Leben und meine Wohnsituation auf den Kopf stellen, sondern allein die rechtlichen Voraussetzungen für eine Heirat mit einem bis dato verwandten Familienmitglied schaffen. Ich merkte, dass ich derzeit annähernd gegen alles protestierte, und obwohl Corvi im Grunde die Lösung für annähernd alles war, denn er hätte sowohl die Wohnsituation ändern als auch meinen Schmerz wegen Vaters und Mutters Tod lindern können, tat es aber nicht oder nur ungenügend, war er doch annähernd der Einzige, dem ich gegenüber offen geblieben war. Logisch erklären konnte ich mir meine paradoxe Reaktion nicht, aber bewusst war sie mir immerhin.
Mein Blick haftete weiterhin auf seinem Gesicht, als er sich meinem Vater zuwandte, um auf dessen Frage einzugehen. Ich wusste kaum etwas über die näheren Todesumstände, wollte einerseits auch keine Einzelheiten hören, lauschte andererseits aber wissbegierig seiner kurzen Erklärung. Die erneut einsetzende Trauer fing jedoch unvermutet sein abschließender Satz auf, der mich verwundert die Brauen heben ließ. Er entschuldigte sich für die schlechte Nachricht, die wir einem Überfall gleich eröffnet hatten? Wir? Mein Mundwinkel zuckte in dem Versuch, lächeln zu wollen, schaffte es aber wegen der traurigen Thematik nicht. Und obwohl sein Blick durchaus einen Anflug von Unverständnis über meine Direktheit enthielt, hatte er meinem Vater gegenüber Verantwortung über den schlechten Themenstart übernommen, für den doch allein ich verantwortlich war. Manchmal handelte er erstaunlich.
Das von meinem Vater geäußerte Mitgefühl wirkte auf mich keineswegs nur dahergesagt, was es wertvoll machte. Ich wandte mich ihm zu, nickte leicht und äußerte mich unmittelbar nach Corvi.
„Danke.“ Mein Flüstern nahm der knappen Aussage in Verbindung mit einem freundlichen Gesichtausdruck die Distanz. Eine eigenartige Gemeinsamkeit, die mich seit diesem Augenblick mit meinem Vater verband, ließ die Abwehrhaltung schmelzen. Das einsetzende Schweigen empfand ich allerdings als unangenehm. Die Männer trösteten sich offenbar mit Wein, also lag es nahe, mir mein Trostmittel Nummer eins zukommen zu lassen.
Ich gab der Sklavin einen Wink.
„Ist Gletschereis in dieser Villa vorrätig?“, fragte ich sie in gedämpften Tonfall. Die Chancen waren höchst gering, das war mir bewusst, denn sowohl die vorgeschobene Jahreszeit sprach dagegen als auch die Tatsache, dass nur die aurelischen Haushälter von meiner Vorliebe wussten. Womit ich wieder beim Thema war: Hier kannte mich niemand tatsächlich, hier war ich nicht zu Hause.
Bei Corvis nachfolgenden Ausführungen wurde mir klar, wie wenig er mit mir über seinen Dienst gesprochen hatte.
„Ich wünschte, du hättest noch ein weiteres Tribunat abgeleistet“, platzte ich heraus, ohne mir vorher Gedanken zu machen, wie diese Aussage wirken mochte. Ich musste über mich selbst den Kopf schütteln, lächelte, senkte verlegen den Blick auf meinen Teller und tat so, als wäre ich höchst beschäftigt mit dem Essen, obwohl ich nur unschlüssig die Bissen hin und her schob.