Zitat
Original von Marcus Aurelius Corvinus
So. Deandra war also wahrhaftig zuegegen. Ich stellte mir die Frage, warum in aller Welt es unbedingt Ostia sein musste, unbedingt dieses Landhaus. Waren denn die claudischen Gefilde nicht angemessen? Dürstete es ihr nach Abgeschiedenheit? Aquilius' Worte kamen mir wieder in den Kopf: Sie scheint sprunghaft. Du solltest dich fragen, wie beständig ihre Wünsche sind. Bewies ihr Verhalten nicht, dass es so war, wie Aquilius gesagt hatte? Warum sonst hätte sie die Familie verlassen sollen, in die sie sich auf eigenen Wunsch hatte hineinadoptieren lassen?
In meine Grübeleien hinein trat schließlich Deandra in die kleine Halle, und das so leise, dass ich sie erst bemerkte, als sie unmittelbar neben mir stand und mich per Küsschen begrüßen wollte. Eigentlich hatte ich einen strengen und missgelaunten Gesichtsausdruck für diesen Moment geplant, aber im ersten Moment war ich doch froh, dass sie wohlbehalten vor mir stand. Ich räusperte mich und versuchte, einen der geplanten Gesinnungen auf meinem Antlitz erscheinen zu lassen, was sich augenblicklich in einer strengen Mimik niederschlug. Als Deandra die Hand hob, um mein blaues Auge zu berühren, hielt ich ihre Hand fest und führte sie zur Seite, dann ließ ich das Handgelenk los. "Nein, eine Schlägerei", erwiderte ich grußlos. "Lasst uns allein", kommandierte ich und wartete, bis sich das atrium geleert hatte. Dann begann ich augenblicklich damit, auf und ab zu gehen, mit auf dem Rücken zusammengefassten Händen, versteht sich.
"Kennst du schon die Geschichte, von der Frau, die weglief? Ich will sie dir mal grob umreißen, Deandra.
Es war einmal eine Frau, nennen wir sie Drusilla, die fühlte sich ungerecht behandelt, fühlte sich unverstanden und ungeliebt, und deswegen beschloss sie, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einfach fortzulaufen wie ein kleines Mädchen. Natürlich sagte sie niemandem, wohin sie zu gehen beabsichtigte, und selbstverständlich war sie so selbstbewusst, dass sie ohne auch nur an Schutz zu denken in ihre Kutsche stieg und abfuhr. Während sie also nun abgesondert und zurückgezogen ihr Dasein fristete - ob zufrieden oder nicht, sei dahingestellt - hatte sie natürlich keine Ahnung, dass nicht nur ihr Vater, sondern auch ihre Schwester, ihr Verlobter und dessen Familie krank vor Sorge überall nach ihr suchten. Sie scheuten keine Mühen und nahmen selbst weite Reisen auf sich, um Drusilla zu finden. Es dauerte beinahe eine ganze Woche, bis ihr Verlobter sie fand, wie sie wohlauf, aber unbeteiligt an den ganzen Sorgen und Ängsten, die sie heraufbeschworen und selbst verursacht hatte, in ihrem frisch gemachten Nest saß. Er war weder angetan von ihrer Handlungsweise, noch würde er ein solch dummes Verhalten in einer Ehe tolerieren. Vermutlich war sich Drusilla nicht darüber im Klaren, dass ihr Verlobter eigentlich besseres zu tun gehabt hätte, als tagelang nach ihr zu suchen, er war nämlich decemvir und als solcher hatte der Magistrat Verpflichtungen und konnte sich nicht leisten, so viel Zeit für eine sinnfreie Suche zu verschwenden. Jedoch, als er dann bei ihr ankam und sah, dass es ihr gut ging, erzählte er ihr eine Geschichte, die dieser gar nicht unähnlich ist. Und als er schloss, da stand nurmehr die Frage nach dem Warum im Raum, ehe sich Drusillas Verlobter abwenden und allein wieder nach Hause reiten würde", erzählte ich in möglichst neutralem Tonfall. Dennoch gelang es mir nicht, den unterschwelligen Ärger gänzlich rauszuhalten. Ich blieb stehen, gute vier Meter von Deandra entfernt, wandte mich zu ihr um und verschränkte die Hnde vor der Brust. "Und das, obwohl Drusillas Verlobter Pferde hasste", fügte ich nüchtern hinzu und rührte mich nicht mehr.
Nach dem Gespräch mit Prisca und dem Besuch beim Orakel fühlte ich mich so gut wie lange nicht. Mich trug die Hoffnung, ja fast schon die Überzeugung, es würde mit Corvi wieder alles in Ordnung kommen, ich müsste nur endlich meine Trauerhaltung aufgeben, das Vorgefallene ein für allemal abhaken und die ersten Schritte auf ihn zumachen. Mit diesem Vorsatz hatte ich das Atrium betreten, Pandas Eindruck, er sei voller Vorfreude, erleichterte mir diese Absicht, sie beflügelte mich geradezu. Ihn schließlich noch verletzt sehen zu müssen, brach die letzte Barriere, sofern da überhaupt noch eine war, weil es mich anrührte. Ich spürte, die Liebe war mir nie abhanden gekommen, sie wurde nur von der Trauer zeitweise zugedeckt.
Mitten in mein soeben offenes Herz traf dann seine Abwehrbewegung, die eine Berührung meinerseits unterband. Erschrocken schaute ich ihn an. Unfähig zu begreifen, warum er mich nun erneut zurückwies. Verständnislosigkeit ließ meine Augen groß und dunkel werden. Mit einem gequälten Schlucken versuchte ich vergeblich, den jäh entstandenen Kloß im Hals aufzulösen. Während er für den Abzug der Soldaten und Sklaven sorgte und kurz darauf eine Wanderung durch das Atrium begann, fragte ich mich immer wieder, was ich ihm eigentlich angetan hatte. Ich konnte mir keinen Fehltritt vorwerfen, nicht einmal eine geäußerte Klage. Geduldig hatte ich all den Kummer alleine getragen.
Als er endlich das Wort erhob, schreckte ich förmlich zusammen, so sehr verstört war ich in diesem Moment. Es strengte mich an, der Geschichte zu folgen, weil meine Gefühle aufgepeitscht waren und die Nerven blank lagen. Allerdings bot sie die ersehnte Aufklärung.
Schweigen breitete sich für Momente wie Nebelschwaden im Atrium aus, in denen ich zunächst meine Gedanken sammeln musste. Ich dachte an Prisca, die mir glaubhaft gemacht hatte, er wollte mich nicht bewusst verletzen. Und was hatte das Orakel mir noch einmal für eine Nachricht zukommen lassen? Sieh all das Schöne um dich und genieße! Von Genuss konnte derzeit keine Rede sein, aber ich bemühte mich, das Positive an der Situation zu sehen, auch wenn es nicht auf den ersten Blick erkennbar war. Er sprach von Sorge, die ihn und andere belastet hatte. Das sollte mich eigentlich freuen, weil es zeigte, dass Liebe da war, auch wenn sie nicht immer sichtbar war, und doch kam keine Freunde auf, denn es tat mir in diesem Augenblick leid, anderen diese Sorge bereitet zu haben. Was war noch positiv? Er war trotz Zeitknappheit nach Ostia gereist, sogar auf einem Pferd. Dabei kannte ich seine Abneigung gegen das Reiten. So komisch sein abschließender Satz auch geklungen hatte, zu einem Schmunzeln veranlasste er mich nicht, was er sonst sicherlich getan hätte. Ich nahm die in die Geschichte eingebauten Vorwürfe sehr ernst.
Ein hörbares Ausatmen ging meinen Ausführungen voraus, die ich dort, wo ich gerade stand, hervorbrachte.
„Ich könnte mir sehr gut vorstellen, was Drusilla dazu bewogen hat, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion fortzulaufen, denn sie scheint meinem Erleben sehr ähnlich zu sein“, sagte ich einführend, während ich seinem Blick keineswegs auswich. Abgesehen von der Tatsache, dass ich zwar einsah, überhastet gehandelt zu haben, konnte ich gute Gründe vorweisen, warum ich abgereist war. Würde ich die Augen niederschlagen, käme dies nicht nur einem Eingeständnis von vollkommener Unüberlegtheit gleich, sondern hätte zudem noch eine demütige Geste gezeigt. Demut und Unterwürfigkeit lagen meinem Charakter aber ebenso fern wie Unehrlichkeit oder Niedertracht. Ich stand für meine Fehler ein, so viele hatte ich schließlich noch nicht einmal gemacht. Zumindest fand ich das. Als der anfängliche Schreck nachließ, wurde meine Stimme zunehmend weicher.
„Vermutlich ist sie zart und verletzbar in ihrem Wesen, womöglich hatte sie sogar ein schwerer Schicksalsschlag erlitten, von dem sie noch immer nicht gesundet war. Ihr fehlten vielleicht ein Arm, der sich tröstend um ihre Schulter legte, und vermutlich auch der Zuspruch, dass die Zeit alle Wunden heilt. Bestimmt wäre alles gut gegangen, wäre nicht eines Tages an die Stelle der einst liebenden Mutter ein Scheusal gerückt, das in Drusillas kaum verheilte Wunde ihre Boshaftigkeit wie feinste Salzkristalle streute. Die Wunde brach erneut auf, blutete stark und peinigte die junge Frau, die in der Flucht ihre einzige Möglichkeit sah, dem schier unerträglichen Schmerz zu entkommen. Sie floh in Panik.“ Zwei Liedschläge schaute ich Corvi wortlos an, ehe ich leise anfügte: „Rechtlich gesehen bedeutet das verminderte Schuldfähigkeit.“
Gern hätte ich ihn gefragt, ob er denn inzwischen Ofella kennen gelernt hatte, aber ich unterließ es, denn ein weiterer Teil der Geschichte sollte noch folgten.
„Gewiss hätte Drusilla ihre Lieben im Nachhinein benachrichtigt, jedoch ereilten sie weitere Bekümmernisse, die sie sich zu Herzen nahm. Eine Sanctio hängt ihr nun an, sie bemühte sich um einen Advocatus, sie ging zum Gericht. Viel zu viel lastet derzeit auf ihren jungen Schultern, aber weil sie Angst vor der Mutter hat, traut sie sich nicht zu ihrem Vater heim.“ Ich fragte mich, ob Corvi nachempfinden konnte, wie überfordert ich mit dieser neuen Mutter war.
Während mein Blick noch immer auf seinem Gesicht weilte und mir die Aussage, er wolle nach der Erklärung sofort zurück reiten, vor Augen lag, entschloss ich mich, noch ein anderes Thema anzusprechen. Unsere Distanz, die nicht nur schwer zu ertragen war, wirkte sich bei dem, was ich ihm sagen wollte, gerade in doppeltem Sinne ungünstig aus: Sie konnte die Wirkung meiner Worte schmälern. Es kostete mich dennoch erhebliche Überwindung, ein Stück auf ihn zuzutreten - nahe genug, um die Bedeutung nachfolgender Aussage zu unterstreichen, aber fern genug, um nicht erneut eine körperliche Zurückweisung zu riskieren.
„Ich habe mich in den letzten Wochen und Monaten ganz der Trauer hingegeben“, sagte ich leise, dieses Mal war mein Blick gesenkt. Nicht etwa, weil ich mich schuldig fühlte, sondern weil das Thema mich noch immer bedrückte. „Ich habe dich in der Zeit sehr vermisst und dabei übersehen, dass du selbst eine Menge Last trägst. Es tut mir leid, dass ich nicht stärker gewesen bin, es tut mir sehr leid, dass ich mich derart verschlossen und teilweise falsch über dich geurteilt habe.“ Was wäre eine Entschuldigung ohne den direkten Augenkontakt? Sie würde nicht die Mühe lohnen, den die Worte beim Aussprechen machten. Ich sah Corvi offen an, denn meine Worte waren ehrlich gemeint.
„Bei all der Trauer habe ich nie aufgehört, dich zu lieben. Für mich war das stets klar, aber ich fürchte, dass du es vermutlich nicht sehen konntest. Ich habe zudem das Orakel aufgesucht. Der überreichte Götterrat hat mich darin bestärkt, die Trauer abzustreifen und in das Leben zurückzukehren, daher werde ich mich hier sicher nicht vergraben, sondern ab und zu in der claudischen und der aurelischen Villa anzutreffen sein.“ Ein zaghaftes Lächeln erschien auf meinem Gesicht, das die sanfte Wangenröte verstärkte, die einerseits aus dem anfänglichen Schreck und andererseits auch aus der soeben empfundenen Herzenswärme resultierte. „Vielleicht finde ich ja einen Weg, mit diesem Hausdrachen umzugehen. Vielleicht hast du ja sogar einen Rat?“
Bitte und Frage zugleich beinhalteten meine letzten Worte. Ich blickte Corvi noch immer sanft lächelnd und zudem unsagbar erleichtert an, weil ich trotz der zunächst ungünstigen Umstände dankbar für die Möglichkeit einer Klärung längst überfälliger Kümmernisse war.